Archiv 1-3/2005

Unser Archiv für den Winter 2005

Kandidat 1

Der Tsunami, dessen Auswirkungen Hunderttausenden das Leben und die Existenz gekostet hat, dominierte in den letzten Wochen die politische und mediale Tagesordnung. Nachdem zunächst aus Gründen vermeintlicher Pietät Lieder wie 'Land unter', 'Perfekte Welle' oder Südsee-Reisereportagen abgesetzt wurden, verschafft sich die Naturkatastrophe metaphorisch wieder Eingang, zumindest in die Sprache Henryk M. Broders. Auslöser ist ein britischer Prinzenbalg. Auf folgenden Beleg machte uns Ulrike Mühlschlegel aufmerksam:

"Und plötzlich kommt so ein Prinz daher und hält sich nicht an die Spielregeln. Er zieht den Stöpsel aus der Wanne und alles, was von der braunen Brühe übrig bleibt, ist ein wenig Schaum. Blupp! Well done, Harry! Für den Empörungs-Tsunami, der über Europa rollt, gibt es noch einen zweiten Grund. Die Aktionen des symbolischen Antifaschismus, der Name sagt es, erschöpfen sich im Symbolischen" (Spiegel-online, 20.1.2005)

Unsere Laudatio: Die Metapher des Sturms im Wasserglas wird hier kreativ verfremdet zum Tsunami in der Badewanne. Ob Henryk Broder auch den Barschel-Tod seinerzeit so metaphorisiert hätte? [um/do]

Kandidat 2

Anthropomorphisierungen (Vermenschlichungen) gehören zu den gängigen metaphorischen Mechanismen auch in der Schilderung unserer ökologischen Systeme. In folgendem Beleg jedoch finden wir eine unerträgliche Verbindung von Kriegsmetaphorik und metaphorisch verbrämter Fremdenfeindlichkeit. Wir fragen uns ernsthaft, ob Spiegel-online-Autor Michael Lenz (Sydney) in seinen Metaphern nicht heimlich rassistische Vernichtungsphantasien auslebt:

"Die Zuckerrohrkröte ist kein australisches Tier. Die warzigen, grünlich-braunen Amphibien wurden erst 1935 aus Hawaii eingeführt, um als biologische Massenvernichtungswaffe Schädlinge in den Zuckerrohrplantagen von Queensland zu bekämpfen. [...] Statt aber den Zuckerrohrkäfern den Garaus zu machen, widmeten sie sich lieber der eigenen Vermehrung. [...] So wurden aus den ursprünglich 101 importierten Kröten schnell Zehntausende und dann Abermillionen. Die Nachfahren der nichtsnutzigen Gastarbeiterkröten begaben sichvon Queensland aus auf eine Trekking-Tour durch Australien. [...]  Die heimische Fauna aber hat keine Abwehrwaffen gegen den giftigen Import." (spiegel-online 27.1.2005)

Unsere Laudatio: Vermutlich fand der Autor seine Schreibe einfach locker-lustig; wir hoffen indes,  keine weiteren Metaphernkröten schlucken zu müssen. [do].

Kandidat 3

Bettina Kluge aus Graz macht uns auf eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Feuermetaphorik in der Inauguration speech des alten und neuen US-Präsidenten aufmerksam:

"Die beiden bedeutendsten Sätze der Rede schlossen an den „Tag des Feuers“ an. „Mit unseren Anstrengungen“, sagte Bush, „haben wir sowohl ein Feuer entzündet als auch eine Flamme in die Köpfe der Menschen gesetzt. Das Feuer wärmt die, die seine Macht spüren, und es verbrennt jene, die seine Ausbreitung bekämpfen.“ Es war ein seltener, ja unerhörter Moment, in dem sich der Präsident bewusst als Brandstifter bezeichnete und dies auch noch voller Stolz tat. Eines Tages, so fuhr er fort, werde das „ungezähmte Feuer der Freiheit die dunkelsten Ecken unserer Welt erreichen“. Was für ein Bild, was für ein Ausblick – niemand beherrscht ein ungezähmtes Feuer, auch nicht ein vielleicht benevolenter Brandstifter." (Süddeutsche Zeitung, 21.1.2005).

Unsere Laudatio: Die Metaphorik der Flamme im Kopf ist eine besonders treffende Remotivation der ansonsten verblassten Schmähung 'hirnverbrannt'. [bk/do]

Kandidat 4 (unser Sieger)

Jana Zwarg hat uns über eine metaphorische Kreation informiert, die das Zeug hat, zu den Klassikern der Fußballmetaphern aufzusteigen. Geschuldet ist sie Jürgen Klopp, Trainer des seit einigen Wochen gar nicht mehr so furiosen Aufsteigers Mainz 05:

"Es geht nicht darum, mit den Großen der Liga zu pinkeln", sagt er. "Es geht darum, so viel Staub aufzuwirbeln, dass die keinen Baum mehr finden, an den sie pinkeln können." (aus einem Rundfunkinterview 19.2.2005; auch zitiert in der Frankfurter Rundschau, 21.2.2005)

Unsere Laudatio: Wenn sich die metaphorische Kreativität des Trainers in der spielerischen seiner Mannschaft spiegeln würde, wäre der Abstiegskampf der Mainzer längst gewonnen. Herr Klopp gehört in die Champions League... der Metaphoriker. [jz/do].

Kandidat 5

Die Zeit beschäftigt sich mit der normierten Langeweile im Äther; einfältig formatierte Musikteppiche allenthalben, wo früher zugehört werden durfte. Der NDR bietet besonderen Anlass zur Kritik:

"NDR = DDR? In der Tat ist der Norddeutsche Rundfunk ein Reich für sich (...) . Ganz Norddeutschland hört den NDR – oder eben auch nicht. Unter den Anstalten der ARD ist der NDR die unmutigste. Während sich Sender anderswo schon etwas Neues einfallen lassen, (...)  ist der NDR noch eifrig bemüht, traditionelle Stärken zu beseitigen, um sich dem Privatfunk anzugleichen. NDR2 ist eine schlechte Kopie von Radio Hamburg und NDR Kultur eine noch schlechtere von Klassik Radio. Und Gernot Romann [Programmdirektor des NDR] ist so eine Art Egon Krenz des NDR – ein munterer Reformer, der nicht versteht, warum der Gegenwind immer stärker wird" (Die Zeit 24.2.2005).

Unsere Laudatio: Die Metapher wird in diesem schönen und sehr treffenden Artikel auf elegante Weise konstruiert; zugleich gibt das Sprachbild Hoffnung, denn solch Radiodeformatoren wünschen wir Hörfunkfreunde von metaphorik.de gerne ein ähnliches Schicksal wie das der DDR. [do]

Kandidat 6

Der 11. September und die sich an ihn anschließende Angst vor dem Terrorismus bleibt offensichtlich auch für die Metaphernwahl im Wissenschaftsjournalismus nicht folgenlos. Texas wird bedroht durch terroristische Chemiewaffen:

"Mikro-Terroristen - Ein ungebetener Einwanderer verbreitet Terror in Texas. Immer wieder kommt es in Gewässern des US-Bundesstaates zur Massenblüte einer hochgiftigen Plankton-Alge. Fast 18 Millionen Fische fielen dem mikroskopisch kleinen Killer bisher zum Opfer. [...] Biologen kennen die Art unter ihrem lateinischen Namen Prymnesium parvum; die Leute in Texas sprechen schlicht von der "Gold-" oder "Killeralge". Das böse Etikett ist nicht übertrieben, denn die Alge besitzt hochpotente Chemiewaffen" (spiegel-online 25.2.2005).

Unsere Laudatio: Es ist im Populärjournalismus durchaus nicht unüblich, biologische Konkurrenz zwischen verschiedenen Arten mit menschlichen Kriegs- oder Kampfszenarien metaphorisch zu bebildern. Dennoch ist die Wahl des Bildspenders 'Internationaler Terrorismus' erstaunlich. Aber vielleicht soll ja auch nur George W.'s Angriffslust von Teheran nach Texas rückverlagert werden...  Wir warten stündlich auf den Angriffsbefehl aus dem Pentagon. [do]

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