WM 2006

Wie bereits zur WM 2002 haben wir auch im Jahr 2006 wieder die auffälligsten Sprachbilder rund um die Fußball-Weltmeisterschaft sammeln und angemessen würdigen. Hinweise sind uns immer willkommen.

WM-Kandidat 1

Die Politik bereitet sich seit Monaten auf das Großereignis der Fußball-WM vor. Sogar die Bundeskanzlerin wird zu diesem Anlass von der BILD-Zeitung genötigt, sich mit den telegenen Herren Beckmann und Kerner zu unterhalten:

"Kerner: Wenn Sie eine Kabinettsitzung leiten - wünschen Sie sich manchmal, Schiedsrichter zu sein? Dann könnten Sie die Trillerpfeife einsetzen, gelbe und rote Karten zeigen...

Merkel: Der Gedanke ist mir ehrlich gesagt noch nie gekommen. Schiedsrichter ist ja nicht meine Aufgabe. Als Kanzlerin bin ich - wenn ich beim Fußballvergleich bleibe - eher Kapitän einer Mannschaft, die Spielführerin.

Kerner: Sie sind Ballack?

Merkel: (lacht) Wenn man es so nimmt, bin ich Ballack." (Bild am Sonntag 4.6.2006; Quelle: bundesregierung.de)

Unsere Laudatio: Frau Merkel hat die Klugheit, den fußballerischen Vergleich über distanzierende Heckenausdrücke ("wenn man es so nimmt", "wenn ich beim Vergleich bleibe") zu markieren. Dennoch gibt sie eine ungewollte Vorlage dafür, bei der nächsten Formschwäche der Regierung Wadenmuskelverhärtungen zu diagnostizieren. Und wenn wir das Bild als metaphorische Wadenbeißer weiterdenken, stellt sich die Frage: Frau Merkel ist Ballack, wer ist dann aber Klinsmann? [do]

Nachtrag: Die Westfalenpost hat besagten Merkel-Ballack-Vergleich zum Anlass genommen, die Mannschaftsaufstellung der Regierung auf weiteren Positionen gleich weiter zu kommentieren.

WM-Kandidat 2

Wenn der Fußball zum beherrschenden Thema wird, dringt er selbst in die umweltpolitische Berichterstattung vor:

"1:0 für Costa Rica - zumindest im Ökovergleich - Egal, wie das Eröffnungsspiel (...) ausgehen wird: Deutschlands Gegner Costa Rica ist bereits Weltmeister. 99 Prozent des produzierten Stroms wurden (...) aus regenerativen Quellen gewonnen. In Deutschland waren es nur etwa 10 Prozent. [...] Allerdings muss man Costa Ricas Erfolg relativieren. Mit einem Stromverbrauch pro Kopf von 1737 Kilowattstunden pro Kopf spielt das Land allenfalls in der Dritten Energie-Liga. Deutschland gehört mit dem 3,5-Fachen zur Weltspitze" (taz 7.6.2006, S.7).

Unsere Laudatio: Zu loben ist die Absicht, die WM als Anlass für Berichterstattung aus und über die sportlichen Gegner zu nehmen. Insgesamt wirkt die Einrahmung des Beitrags durch Fußball und Wettbewerbsmetaphorik allerdings etwas gewollt und zudem rein ökologisch betrachtet wenig durchdacht. Ist es "Weltspitze", wenn man besonders viel Energie verbraucht? [do]

WM-Kandidat 3

Wenn sportliche Helden zu nationalen Identifikationsfiguren werden, wachsen ihre Körperteile metonymisch fast zu Staatsorganen. Die Süddeutsche Zeitung - analog zahlreiche weitere Medien - titelte entsprechend zu den Beschwerden des Michael Ballack:

"Kunst der Verdrängung - die Wade der Nation" (SZ 7.6.2006).

Unsere Laudatio: Da ist Vorsicht angesagt. Jeder kleine Wadenbeißer wird jetzt schon zum Vaterlandsverräter. [do]

WM-Kandidat 4

Jürgen Klinsmann sieht nach dem ohne Ballack erspielten 4-2-Sieg gegen Costa Rica den Zustand der deutschen Nationalwade weit weniger dramatisch:

"Die Wade ist noch nicht da, wo sie hingehört" (ZDF 9.6.2006, 20.14 Uhr).

Unsere Laudatio: Um ein Klinsmann-Zitat aus alten Fußballertagen leicht zu variieren: Dieses Sprachbild ist von einer Gewitztheit, wo man kaum beschreiben kann. [do].

WM-Kandidat 5

Der Einzelspieler erhält während der WM unterschiedlichste nationale Funktionen. Bleiben wir zunächst bei den Körperteilen. Folgende Aussage von Günter Netzer ist geradezu typisch für die Einordnung des Spielers in den Körper der Mannschaft, die wiederum als Metonymie für die gesamte Nation steht:

"Riquelme (...) ist das Herz Argentiniens" (ARD 10.6.2006, 22.55 Uhr).

Unsere Laudatio: Wenn das Evita wüsste... Wir warten unterdessen auf das nächste Erfolgs-Musical aus der Feder von Sir bzw. Baron Lloyd-Webber of Sydmonton. [do]

WM-Kandidat 6

Dazu auch folgendes Beispiel:

"Riquelme, das Metronom im Spiel der Argentinier" (Reinhold Beckmann in der ARD, 10.6.2006, 22.15 Uhr)

Unsere Laudatio: Die metaphorische Übertragung von der Musik auf den Fußball ist an sich immer hübsch. Wünschen wir neben den Argentiniern auch allen anderen beteiligten Nationalmannschaften auch immer gut funktionierende Metronome, damit sie von Taktlosigkeiten wie üblen Fouls Abstand nehmen.. [do]

WM-Kandidat 7

Christoph Metzelder gehört zu den Fußballspielern, die sich trotz jungen Alters recht altklug geben können, etwa wenn sie den sportlichen Kurs des Bundestrainers als Vorbild für die Politik preisen und so das eigene Metier maßlos überschätzen. Folgende Aussage sollte dann aber hoffentlich nicht auf das ganze Land übertragen werden müssen:

"Express: Es scheint so, als ob das deutsche Team wie 2002 über einen großen Teamgeist verfügt …
Christoph Metzelder: Richtig. In der Mannschaft gibt es keinen einzigen Stinkstiefel. Wir haben uns wieder eine Wagenburg-Mentalität zugelegt. Wir lassen von außen nichts an uns ran" (Express 18.6.2006).

Unsere Laudatio: Die Abwesenheit von Stinkstiefeln muss angesichts der hohen Temperaturen und des schweißtreibenden  Trainings schon sehr überraschen. Und ob die resistente Wagenburg das richtige Bild für den Gastgeber von Freunden ist, sei ebenfalls dahingestellt. [do]

WM-Kandidat 8

Das Fußballspiel als orchestrale Aufführung gehört nicht zu den häufigsten, aber sicher zu den hübschesten sprachlichen Bildern. Die eher bescheidenen Leistungen der französischen Nationalmannschaft in der Hinrunde inspirierten zu folgender metaphorischen Viererkette:

"Konzert mit Dissonanzen - [...] Raymond Domenech wollte die große Band, die die Massen am Ende des 20. Jahrhunderts elektrisiert hatte, noch einmal zusammenbringen. [...] Frankreich hatte geplant, noch ein paar großartige Konzerte zu spielen. Das Turnier in Deutschland sollte die Abschiedstournee eines Ensembles werden, von dem jeder weiß, dass seine Zeit abgelaufen ist, dessen Musik aber noch in den Ohren vieler Fans nachklingen wird. Im ersten Spiel der WM haben sie den Ton nur allzu selten getroffen. [...] Und dennoch war etwas anders an jenem Abend in Leipzig. Die erste Geige wurde nicht mehr von Zinedine Zidane gespielt. Thierry Henry gab den Ton an. Und er war es auch, der am Ende am traurigsten darüber war, dass das Konzert trotz eines harmonischen Beginns mit vielen Dissonanzen endete." (taz 20.6.2006)

Unsere Laudatio: Die in den ersten Spielen fehlende Überzeugungskraft der französischen Mannschaft findet eine Erklärung im fehlenden metaphorischen Gefüge. Welche "große Band" hat eine "erste Geige"?

WM-Kandidat 9

Dass es einigen Schweizern ob des großen sportlichen Erfolgs (oder der großen Hitze?) die Sprache fast verschlagen hat, zeigt unser nächster Beleg. Angesprochen auf die Platzverhältnisse in den deutschen WM-Arenen gab Josef Blatter folgendes zum besten:

"Der Rasen ist nicht das Grüne vom Ei". (u.a. Westfalenpost 23.06.2006)

Unsere Laudatio: Liebe Ei(d)genossen: Vorsicht! Erfolg macht (farben-)blind?! [kg]

WM-Kandidat 10

Dass auch Ronaldos Brasilianer wieder ein gewichtiges Wörtchen mitreden werden bei der Titelvergabe, dürfte allerspätestens nach dem letzten Vorrundenspiel gegen Japan klar geworden sein. Doch erst gegen Ende der ersten Halbzeit kam die brasilianische Nummer 9 so richtig ins Rollen und steuerte seinen ersten Treffer bei. In einer Nachbetrachtung des WDR-Hörfunk war folgender Kommentar zu Ronaldos Ausgleichstreffer zu vernehmen:

"Doch kurz vor der Pause erlöste der vollschlanke Problembär seine Anhänger" (WDR 2, 23.06.2006, 6:20 Uhr)

Unsere Laudatio: Hier haben wir es nicht nur mit einem Kandidaten zur Metaphern-WM zu tun, sondern im Falle eines brasilianischen WM-Erfolgs mit der Bewerbung Ronaldos auf den Posten als Berliner Wappentier. [kg/do].

WM-Kandidat 11a

Die schwedische Nationalmannschaft ist nächster Gegner der deutschen Auswahl. Die Presse übt sich schon in metaphorischen Zuschreibungen:

"Auch vor dem Achtelfinale am Sonnabend in München (17 Uhr) glauben gefühlte 82 Millionen Bundesbürger fest daran, dass die "Knäckebrot-Kicker" zu knacken sind" (Märkische Allgemeine 22.6.2006)

Unsere Laudatio: WASA sagt, der Journalist, ist originell, etwas pfiffiger ist aber das folgende metaphorische Sprachspiel:

WM-Kandidat 11b

"Klinsi, diese IKEA-Kicker müssen wir vermöbeln!" (BZ 21.6.2006)

Unsere Laudatio: Wir raten zur Vorsicht. Noch komplizierter als die Schwedenmöbel zusammenzubauen ist es, sie auseinander zu nehmen. Ob Klinsmann den richtigen Imbus-Schlüssel einwechselt? [do]

WM-Kandidat 12a

Das Achtelfinalspiel gegen die Schweden hat darüber hinaus unterschiedlichste Sprachbilder hervorgebracht. Am gängigsten ist die Metonymie Schwede = Elch. Wie in folgendem Beispiel:

"München sieht Elchtest mit Todesgefahr. Schweden fordert am Sonnabend im ersten Achtelfinale den Gastgeber Deutschland heraus" (Neues Deutschland, 23.6.2006)

WM-Kandidat 12b

Wenn die "sozialistische Tageszeitung" schon auf diese Populärmetapher zurückgreift, will die kapitalistische Konkurrenz nach dem Spiel nicht hintan stehen:

"Deutschland besteht den Elch-Test" (handelsblatt.com 24.6.2006)

Unsere Laudatio: Die Elchtest-Metapher ist ein viel hintersinnigeres Sprachbild, als man auf den ersten Blick meint: Schließlich war es das Fabrikat eines Sponsors der deutschen Mannschaft, das seinerzeit beim Versuch Hindernisse zu umkurven gekippt ist... [do]

WM-Kandidat 13

Elch und Ikea-Metaphern amalgamieren gar, wie in folgendem Beleg aus dem Hause BILD:

"Im Münchener Stadion werden die IKEA-Elche gegrillt" (Bild am Sonntag, 25.6.2006)

Unsere Laudatio: Dieses Sprach'BILD' ist nicht nur umwerfend in seiner Borniertheit und Beschränktheit, sondern fast schon gefährlich bis nationalistisch. Elchkritik ist auch hinsichtlich der WM-Metaphorik geboten! [nr/do]

WM-Kandidat 14 (unser Sieger)

Projektionen aus dem Fußball auf die Gesprächskultur kennen wir seit langem, etwa wenn sich Gesprächspartner 'die Bälle zuschieben' oder sich jemand mit einer Äußerung 'ein Eigentor schießt'. Umgekehrt wird es indes interessant:

"Schneider - Schnelldenker am Ball, hat aber heute nicht so sicher formuliert mit seinen Füßen" (Reinhold Beckmann, ARD 30.6.2006, 17 Uhr 17)

Unsere Laudatio: Das Fußballspiel als Text, eine inspirierende Metapher, zumindest für Sprachwissenschaftler. Die Abseitsfalle wird zu einer ins Leere laufenden Argumentation, das Mittelfeld sollte neben Vorfeld und Nachfeld Eingang in die Syntaxtheorien finden, und über die Textbedeutung eines Jens Lehmann müssen wir nach dem gespickten Elfmeterschießen auch nicht lange diskutieren... [do]

WM-Kandidat 15

Carola Köhler aus Berlin macht auf eine weitere metaphorische Glanzleistung aus dem Viertelfinale aufmerksam:

"Der Glanz Argentiniens rostet in der Angst vor dem Ausscheiden." (Marcel Reiff in der 98. Minute des Viertelfinalspiels Deutschland-Argentinien)

Unsere Laudatio: Brillant und poetisch, dieser metaphorische Ausdruck. Dennoch irrt Marcel Reiff. Wir Deutsche wissen es seit unserem eigenen WM-Ausscheiden im Halbfinale: In den vergossenen Tränen spiegelt sich wunderbarer das in den vergangenen Spielen entfachte Feuer. [ck/do]

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