Archiv 10/2003

Kandidat 1

Die gerne als "Schwesterngezänk" (Spiegel) titulierten Auseinandersetzungen innerhalb der großen Parteien um die Umstrukturierungen der sozialen Sicherungssysteme, werden metaphorisch in höchste religiöse Dimensionen überhöht

"Die Apostel der katholischen Soziallehre wie der frühere Familienminister Heiner Geißler und Arbeitsminister Norbert Blüm werden kaum zur Erkenntnis gelangen, daß sie es waren, die den Gedanken der Solidarität mit den Schwachen pervertiert haben, indem sie den Stärkeren wirtschaftlich die Luft zum Atmen nahmen". (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.10.2003, S.11)

Unsere Laudatio: Hmm, katholische Apostel nehmen den Starken die Luft zum solidarischen Atmen. Das ist ein arg krudes Sprachbild. Zum einen verteidigen Geißler und Blüm eine ganz unkatholische Errungenschaft, nämlich das vom Kulturkämpfer Bismarck etablierte Prinzip sozialer Sicherung, und zum anderen wird hier von Starken und Schwachen geschrieben, wo es sich doch bloß um Reiche und Arme handelt. Ob der Gedanke der Solidarität dadurch wiederbelebt wird, dass wir nun den Armen die Luft zum Atmen nehmen? Wir sind solidarisch mit F.A.Z. und Herzog und rufen hiermit pünktlich zum heranbrechenden Herbst zu einer Gehirnschmalzsammlung auf. [do]

Kandidat 2

Eine ganz besonders entzückende Form der Vermenschlichung per Metapher konnte im Hörfunk mitverfolgt werden. In einem Beitrag aus der Reihe 'Stichtag' erinnerte der WDR an die künstlich erzeugte Ammoniaksynthese:

" [...] und dann musste noch ein Katalysator dazu, das ist eine Art chemischer Heiratsvermittler" (WDR2, 12.10.2003, 9 Uhr 35)

Unsere Laudatio: Für den Laien ist die Metaphorisierung einer chemischen Verbindung zwischen Atomen durch die Hochzeit eine wirklich gut nachvollziehbare Erklärung; in gänzlich unbeabsichtigter Richtung verändert allerdings ein Fortspinnen dieser Metapher nicht nur den Blick auf die Chemie, sondern ebenso auf das menschliche Zusammenleben. Da lebt uns die chemische Natur dann nämlich Vielehen (im Falle des Ammoniaks die eines Stickstoffatoms mit gleich drei Wasserstoffatomen), homosexuelle Partnerschaften (man denke an 02), wechselnde Chemo-Abschnittspartner, Massentrauungen und Massenscheidungen in einem Maße vor, dass es dem Papst grauen muss. Und was lernen wir? Hauptsache, die Chemie stimmt. [do]

Kandidat 3

Metaphorisches Sprechen beinhaltet immer auch Übertreibungen und drastisch bebildertes, z.B. wenn verbale Auseinandersetzungen als Kriege oder wirtschaftliches Handeln als Überlebenskämpfe geschildert werden. Erstaunen muss es dennoch, wenn gerade eine Akademie für Sprache sich in ihren Sprachbildern vergreift:

"Die Akademie für Sprache und Dichtung kämpft weiter gegen die Rechtschreibreform. „Wir wollen alles versuchen, bis das Fallbeil 2005 fällt“, sagte Präsident Klaus Reichert gestern auf der Herbsttagung der Akademie in Darmstadt. Das Chaos im Deutschunterricht werde immer größer. Die Mehrheit der Autoren schreibe außerdem nach wie vor in alter Rechtschreibung [...] Im Jahr 2005 wird die neue Schreibweise an Schulen und in Behörden bindend eingeführt. Mitglieder der Akademie müssten in den kommenden Monaten auf allen Ebenen intensiv verhandeln, um den Wildwuchs in der Rechtschreibung zu beenden" (Nordwest-Zeitung 25.10.2003).

Unsere Laudatio: Wer in der Auseinandersetzung zwischen daß und dass, blutleer und Blut leer ein mörderisches Fallbeil erkennt und zugleich einen im sprachlichen Kräutergarten doch ganz reizvollen Wildwuchs verachtet, der geriert sich doch arg humorlos. Uns bleiben wildwüchsige rechtschreibschwache Dichter allemal lieber als recht schreibschwache wilde Akademiker. [do]

Kandidat 4 (unser Sieger)

Bettina Kluge aus Graz machte uns auf folgendes Zitat des Kölner Erzbischofs aufmerksam:

"Die europäische Werteordnung ist nach Meinung Meisners gefährdet. Gift für die europäische Gesellschaft seien Drogensüchtige, Terroristen und Wissenschaftsgläubige. Auch Homosexualität verurteilte Meisner bei einem Vortrag in Budapest indirekt, denn sie widerspreche der Schöpfungsordnung. Die Frage laute: "Kann der europäische Mensch aus eigener Kraft all diese Gifte ausschwitzen oder überwinden?"  (spiegel-online 28.10.2003)

Unsere Laudatio: Interessant ist an diesem Zitat schon die Zusammenstellung der Gruppen, die der Kardinal in seinen Cocktail ideologischer Gegner aufnimmt. Bischof Joachim betätigt sich hier als Giftmischer ersten Ranges. Für das gesellschaftliche Klima indes ist fatal, wie hier der Kardinal Meißner Porzellan zerschlägt. [bk/do]

Metaphernkiste

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