Behälter, Clubs, Kreise und verschiedene Geschwindigkeiten
Metaphern für die Konstruktion Europas
Barbara Brandstetter, Berlin (brandstetter.barbara@web.de)
Abstract
The introduction of the euro in the European countries was the project of the century. In the
1990s the project was emotionally discussed, particularly the further integration. In 1994 the French prime minister, Edouard Balladur, presented his ideas of the future integration of the European Union in form of concentric circles. A few days later, the Christian Democrat parties in Germany published a concept of a central core. Metaphors play a key part in the debate about the European Union and the European Monetary Union.1 Metaphorical language helps politicians and journalists to express highly complex issues like the European Union in a comprehensible way for the public. Without metaphors politicians wouldn’t be able to express their ideas of the further European integration. The paper presents an analysis of the use of metaphors in Belgian, Swiss, German and French newspapers in the 1990s. Do European journalists use the same metaphors to describe the ideas of the further European integration?
Die Einführung des Euro war ein Jahrhundertprojekt, das in den beteiligten Ländern sehr emotional begleitet wurde. Metaphern kommt in der Berichterstattung zu komplexen Themen wie der Europäischen Union (EU) und der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) eine entscheidende Bedeutung zu. Ohne Metaphern wie „Kerneuropa“, ein „Europa der konzentrischen Kreise“ oder ein Europa der „verschiedenen Geschwindigkeiten“ wäre es Politikern und Journalisten nicht möglich, ihre Integrationsvorstellungen anschaulich darzustellen. In der folgenden Untersuchung werden Sprachbilder analysiert, die Politiker und Journalisten in den neunziger Jahren in deutsch- und französischsprachigen Medien verwenden, um neue Konzepte für die weitere Integration der EU und WWU zu beschreiben. Greifen die Berichterstatter aus unterschiedlichen Ländern zu ähnlichen Metaphern, um Vorstellungen zu Europa darzustellen?
1. Einleitung
1.1 Historische und politische Grundlagen
Die Einführung des Euro war ein Jahrhundertprojekt. Auf dem Gipfeltreffen in Maastricht im Dezember 1991 verständigten sich die Staats- und Regierungschefs auf das Ziel einer Wirtschafts- und Währungsunion und auf die Bedingungen, die die einzelnen Länder erfüllen müssen, um an dem Währungsverbund teilnehmen zu können. In den folgenden Jahren kreiste der politische Diskurs vor allem um verschiedene Konzepte, wie EU und WWU
1 Metaphors in the language of newspapers has long become an object of critical reflection specially for linguists (Schäffner (1993, 1995, 2001), Musolff/Schäffner/Townson (1996), Mautner (2001), Musolff (2000, 2001, 2004)).
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gestaltet werden könnten. Im Spätsommer 1994 legte der konservative französische Premierminister Edouard Balladur in einem Interview mit der französischen Tageszeitung Le Figaro seine Vorstellungen dar, wie eine weitere Integration Europas in Form „konzentrischer Kreise“ aussehen könnte.2 Die CDU/CSU-Fraktion veröffentlichte wenig später ihre umstrittenen Thesen („Schäuble-Lamers-Papier“) zu einem „Kerneuropa“.3 Sowohl das Konzept Balladurs als auch der Vorschlag der Union sahen vor, dass die europäischen Staaten künftig in der Integration mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten voranschreiten sollen.4 Das Zentrum sollte ein „harter Kern“ bilden, der sich nach den Vorstellungen Schäubles und Lamers aus Frankreich, Deutschland und den Benelux-Ländern zusammensetzen sollte. Das EU- Gründungsmitglied Italien sollte nicht zum „Kern“ gehören:
„Daher muß sich […] der feste Kern von integrationsorientierten und kooperationswilligen Ländern, der sich bereits herausgebildet hat, weiter festigen. Zu ihm gehören z. Zt. fünf bis sechs Länder. Der Kern darf nicht abgeschlossen, muß hingegen für jedes Mitglied offen sein, das willens und in der Lage ist, seinen Anforderungen zu entsprechen“ (CDU/CSU Fraktion, Überlegungen zur Europäischen Politik, 1. September 1994).
Das Vorhaben der weiteren Integration, das in einer Gemeinschaftswährung und letztendlich auch in einer politischen Union münden sollte, wurde in den betroffenen Ländern emotional rezipiert und kontrovers diskutiert. Schließlich ging es um die Preisgabe nationaler Souveränitäten zugunsten Europas. Die Staaten debattierten über Konvergenzkriterien, den Stabilitätspakt, die Ausrichtung der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die Teilnehmer am Währungsverbund und darüber, wer EZB-Präsident werden soll.
2 Interview in Le Figaro vom 30.08.1994, präzisiert in Le Monde vom 30.11.1994.
3 Vgl. hierzu „Überlegungen zur europäischen Politik. Strategiepapier der CDU/CSU“ vom
01.09.1994.
4 Vgl. hierzu Schauer (2000:22ff.): „Dem Modell des Europa mehrerer Geschwindigkeiten liegt ein Konzept zugrunde, welches innerhalb des einheitlichen institutionellen Rahmens differenzierte Integration zulässt und über einen auf objektivierbaren Kriterien basierenden Automatismus verfügt, welche à la longue eine uniforme Integration garantiert.“
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1.2 Metaphern im Europadiskurs
Metaphern haben in diesem Diskurs eine entscheidende Bedeutung. Sprachbilder strukturieren nicht allein die Sprache, sondern auch das Denken und das daraus resultierende Handeln.5 Den Metaphern kommt in der Berichterstattung über das umstrittene Jahrhundertprojekt WWU daher neben ihrer kognitiven auch eine besondere kommunikative und argumentative Funktion zu. Ohne Metaphern würden Politikern häufig die Worte fehlen, um ihre Vorstellungen und Konzepte für die europäische Integration adäquat artikulieren zu können. Journalisten könnten komplexe und abstrakte Sachverhalte wie die Wirtschafts- und Währungsunion für die Leser ohne Sprachbilder nicht leicht verständlich darstellen.6 Analysiert wird in der vorliegenden Abhandlung die Berichterstattung in den neunziger Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), Le Monde, der Neuen Züricher Zeitung (NZZ) und Le Soir.7 Methodologische Grundlage bildet die kognitive Metapherntheorie, die 1980 von Lakoff und Johnson mit ihrem Aufsatz Metaphors we live by mit begründet wurde.8 Der Fokus liegt auf Sprachbildern, die die Redakteure verwenden, um Konzepte für die weitere Integration der EU und der WWU darzustellen. Greifen Journalisten in Belgien, Deutschland, Frankreich und in der nicht in den Entstehungsprozess der Gemeinschaftswährung involvierten Schweiz zu ähnlichen Metaphern, um über den Integrationsprozess zu berichten? Kann von einem Europa der Metaphern gesprochen werden?
5 Die These von Lakoff und Johnson lautet, „daß wir Menschen den gesamten Bereich unserer alltagsweltlichen Erfahrungen mittels Metaphern definieren und strukturieren, und zwar in systematischer Weise, so daß ein ‚conceptual system‘ entsteht, das unsere Denk-, Erfahrungs- und Handlungsweisen lenkt“ (Hülzer 1987:220).
6 Lakoff (1992:463): „Abstractions and enormously complex situations are routinely understood via metaphor.“
7 Der vorliegende Aufsatz ist ein gekürzter, überarbeiteter Auszug aus: Brandstetter, Barbara (2009): Gemeinsames Europa? Die Metaphorik von Wirtschaftsberichten in deutsch- und französischsprachigen Printmedien. Die Untersuchung erstreckt sich auf den Zeitraum von
1993, dem Inkrafttreten des Maastricht-Vertrags, bis einschließlich 1999, der Einführung des
Euro als Buchgeld. Es wurden insgesamt 532 Artikel analysiert.
8 Lakoff/Johnson (1980).
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2. Die Behälter-Metaphorik
2.1 Konzepte für die europäische Integration
Der Behälter-Metaphorik kommt in den neunziger Jahren in der Berichterstattung eine entscheidende Rolle zu, um neue Konzepte für die Gestaltung der Europäischen Union zu beschreiben. Mit dem Behälter-Schema können Politiker wie Journalisten die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sowie Außenseiterpositionen anschaulich und leicht verständlich darstellen. Die Politiker diskutierten ein Europa der „variablen Geometrie“, der
„konzentrischen Kreise“, ein „Kerneuropa“ sowie ein „Europa à la carte“. Dem Gros der Europa-Konzepte liegt die Struktur des Behälter-Schemas zugrunde, das – wie Jäkel9 bemerkt – zwar sehr einfach, aber nicht detailarm ist. Behälter haben eine Innen- und Außenseite, einen Kern- und Randbereich, sie können offen, geschlossen, voll oder leer sein.10
Journalisten thematisieren in ihren Artikeln zur WWU insbesondere die Aspekte ‚Innen – Außen‘ sowie ‚Kern – Rand‘ des Behälter–Schemas. Mit Hilfe der Metaphorik aus dem Herkunftsbereich ‚Behälter‘ verdeutlichen Politiker wie Journalisten sehr anschaulich, welche Länder in die EU und später in die WWU „eintreten“und somit in der Integration voranschreiten dürfen und welche zunächst noch „außen“ vor bleiben müssen.
EU und WWU werden in der Berichterstattung als zwei unterschiedlich große Behälter dargestellt, die nach dem Prinzip russischer Puppen, den Matroschkas, ineinander verschachtelt sind. Nur wer in der EU ist, hat – sofern er die Konvergenzkriterien erfüllt – auch die Möglichkeit, sich Zutritt in den nächsten Behälter, die WWU, zu verschaffen.
2.2 Ein harter Kern, Klassen und Ränge
Intensiv diskutiert wurde die weitere Integration Europas Anfang der neunziger Jahre. Im Spätsommer 1994 legte der konservative französische Premierminister Edouard Balladur in einem Interview mit Le Figaro seine Vorstellungen dar, wie eine weitere Integration Europas in Form
9 Jäkel (1997:189, 190).
10 Vgl. hierzu auch Jäkel (1997:288): „BEHÄLTER-Schema: Begrenzung/Hülle (OFFEN/GESCHLOSSEN) – Innenraum (INNEN-AUSSEN-Orientierung); Zentrum – Peripherie – Inhalt (VOLL/LEER).”
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„konzentrischer Kreise“ aussehen könnte.11 Wenig später veröffentlichte die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag ihre umstrittenen Thesen zu einem „Kerneuropa“ und einem Europa der „variablen Geometrie“. Das Zentrum sollte ein „harter Kern“ bilden, der sich aus Frankreich, Deutschland und den Benelux-Ländern zusammensetzen sollte.12
Die Journalisten greifen die von den Politikern in die Debatte eingebrachten Metaphern „variable Geometrie“, Europa der „zwei Geschwindigkeiten“ sowie „Kerneuropa“ in ihren Artikeln auf.13
(1) Thesen der CDU/CSU-Fraktion über ein „Kerneuropa”-Konzept und eine „variable Geometrie” mit unterschiedlichen Integrationsstufen beim weiteren Auf- und Ausbau der Europäischen Union haben in Bonn und auch bei einigen Partnerstaaten Deutschlands für Aufregung gesorgt. (Neue Züricher Zeitung, 6.09.1994, 1)
(2) Les Six, donc, mais avec une exception de taille: l'Italie. Ce qui réduit ce
„noyau“ dur au couple franco-allemand et aux trois pays du Benelux. (Le Monde, 5.09.1994, 1)
(3) Mais Jean-Luc Dehaene estime que la CDU a eu tort de désigner nommément les membres supposés d'un éventuel „noyau dur“, à savoir l'Allemagne, la France et le Benelux. (Le Soir, 8.08.1994, 7)
Obwohl die ‚Offenheit‘ des „Kerns von der CDU/CSU von Beginn an betont wurde, lösten die Vorschläge eine heftige Debatte aus, vor allem über die Frage, welche Länder von Beginn an in den „Kern“ gehören und welche sich zunächst mit der „Randposition“ zufrieden geben müssen. Vor allem die französischen Journalisten kritisierten, dass Italien nicht zum „Kern“ gehören soll (Beispiel 2). Kritik kam jedoch auch vom belgischen Ministerpräsidenten
11 Schauer (2000:33) bemerkt hierzu: „Seiner Konzeption zufolge sollte die Europäische Architektur aus drei konzentrischen Kreisen bestehen: einer Basisorganisation (EG/EU), einer besserstrukturierten Organisation auf währungspolitischer wie auch auf militärischer Ebene und einem dritten Kreis außerhalb der EU, der KSZE.“
12 Vgl. hierzu „Überlegungen zur europäischen Politik. Strategiepapier der CDU/CSU“ vom
1.09.1994: „Hierfür sollte die Methode ‚variable Geometrie‘ oder ‚mehrere Geschwindigkeiten‘ trotz erheblicher rechtlicher und praktischer Schwierigkeiten sowie wie möglich durch den Unionsvertrag bzw. das neue verfassungsähnliche Dokument sanktioniert und institutionalisiert werden, da die Methode andernfalls auf intergouvernementale Zusammenarbeit beschränkt bliebe und Tendenzen eines ‚Europa à la carte‘ fördern könnten.“
13 Vgl. hierzu Bühler (1965:286): „Die Metapher ist eines der wichtigsten Mittel zur Schöpfung von Benennungen für Vorstellungskomplexe, für die noch keine adäquate Bezeichnungen existieren“.
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Jean-Luc Dehaene, obwohl Belgien trotz hoher Staatsverschuldung14 nach Vorstellung der CDU/CSU-Fraktion von Anfang an Mitglied des „Kerns“ sein soll (Beispiel 3). Im deutschsprachigen Korpus wird „Kern“ wie in Beispiel (1) häufig in Substantivkomposita in Kombination mit dem Morphem „Europa“ verwendet. Ein entsprechendes Pendant findet sich in den französischsprachigen Zeitungen nicht.
Das Konzept eines „Kerneuropa“ offenbart neben ‚innen – außen‘ ein entscheidendes weiteres Merkmal des Behälter-Schemas: IMPORTANT IS CENTRAL und UNIMPORTANT IS PERIPHERAL.15 Ein „Kerneuropa“ impliziert, dass es in der EU und WWU Länder erster und zweiter „Klasse“ gibt.16 Das Prinzip der Gleichbehandlung aller europäischen Partner wäre aufgehoben. Länder, die der „ersten“ oder „A-Klasse“ angehören, dürfen in der Integration schneller voranschreiten und die weitere Richtung vorgeben. Andere Länder würden in die minderwertigere „B-“ oder „C-Klassen“ eingestuft, die sich am Rand und somit in einigem Abstand zum gewichtigen
„Kern“ befinden und daher auch weniger Einfluss auf Entscheidungen des
„Kerns“ haben. In Beispiel (4) wird die negative Konnotation der „B-Klasse”
durch das Verb „absteigen“ verstärkt.17
(4) Italien will als Gründungsmitglied nicht in die B-Klasse absteigen, Spanien fühlt sich […] als ein geborenes Mitglied der A-Klasse, und Frankreich will Italien und Spanien in der Kerngruppe sehen, … (Neue Züricher Zeitung, 15.09.1994, 25)
(5) Es entsteht unweigerlich eine Zwei-Klassen-Union. (Neue Züricher
Zeitung, 30.11.1996, 1)
(6) Italiens Ministerpräsident Berlusconi hatte sich bereits am Montag von Bundeskanzler Kohl die Versicherung geben lassen, daß Deutschland keineswegs Italien in die zweite Klasse Europas zurückstufen wolle. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.09.1994, 1)
14 Belgien wies zu dieser Zeit mit 135% sogar eine höhere Gesamtverschuldung auf als Italien mit 125,5%. Erlaubt waren laut Maastricht-Kriterien lediglich 60% (Quelle: Europäisches Währungsinstitut 1998).
15 Johnson (1987:124).
16 Musolff (2001:183): Ein Europa „mehrerer Geschwindigkeiten“ würde ein „overtly hierarchical element into the picture of the EU“ einführen.
17 „Absteigen“ ist eine Metapher aus dem Herkunftsbereich ‚Skala‘. MORE IS UP, LESS IS DOWN und NEGATIV IST UNTEN. Vgl. hierzu Baldauf (1997:152 und 164).
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Neben dem Sprachbild der „Klasse“ bedienen sich die Journalisten der sprachlichen Bilder von „Rang“ bzw. „rang“ und „Liga“. Die Lexeme siedeln sich in einem oszillierenden Bereich zwischen den Bildspenderbereichen
‚Sport‘ und ‚Behälter‘ an. Wie im Sport erreichen nur die Top-Länder mit entsprechenden Leistungen einen Platz im „ersten Rang“ oder der „Liga A“. Alle anderen werden, wie Italien in Beispiel (7) auf die hinteren „Ränge“ bzw. in die „Liga B“ verwiesen:
(7) Der Vorschlag, der in Italien auf großes Aufsehen stieß, wurde allgemein aufgefaßt als Bestreben, Italien innerhalb Europas in die Liga B zu relegieren. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.09.1994, 15)
(8) L'Autriche doit tout faire pour «ne pas être reléguée au deuxième rang au sein de l'Union européenne» et souhaite faire partie du «noyau dur» de la future construction après son adhésion le 1er janvier prochain, … (Le Monde, 8.09.1994, 4)
2.3 Unterschiedliche Geschwindigkeiten
Das Kern-Schema verknüpfen Journalisten in ihren Artikeln über die weitere Integration häufig mit dem Weg-Schema.18 Die Länder, die dem „Kern“ angehören, können in der europäischen Integration schneller voranschreiten. Die Länder außerhalb des „Kerns“ können mit dem vorgelegten Tempo nicht mithalten. In diesen Beispielen verbindet sich das Type aus dem Herkunftsbereich ‚Weg‘ ÜBERLEGENHEIT IST RÄUMLICHER VORSPRUNG19 mit dem Type IMPORTANT IS CENTRAL. Diese Kombination verdeutlicht eindrucksvoll die Überlegenheit der von Beginn an an EU und WWU teilnehmenden Länder. Wie wichtig es den Ländern war, nicht in den „deuxième rang“ verbannt zu werden, wird an Beispiel (8) deutlich. Danach müsse Österreich alles tun, um dem „noyau dur“ von Beginn an anzugehören.
(9) Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag will die europäische Einigung mit Vorschlägen voranbringen, die eine Festigung der aus Deutschland, Frankreich und den Benelux-Ländern bestehenden
18 Zu diesem Ergebnis kommt auch Schäffner (1996:54).
19 Vgl. hierzu auch Baldauf (1997:145): „Wollen zwei Individuen oder Gruppen dasselbe Ziel erreichen, beschreiten sie also denselben Weg von A nach Z, so wird Überlegenheit als räumlicher Vorsprung konzeptualisiert, der einen von beiden dem angestrebten Ziel näher bringt als den Gegenspieler.“
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Kerngruppe der Europäischen Union (EU) vorsehen. (Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 2.09.1994, 1)
(10) Pour lui, l'Europe de demain sera bien „à géométrie variable“ et l'Allemagne entend bien faire avancer les choses au sein d'un „noyau dur“. (Le Soir, 8.09.1994, 7)
(11) Was bedeutet es für die Länder, die nicht teilnehmen, weil für sie die Eintrittshürden trotz aller Interpretationen und Aufweichbestrebungen zu hoch sind: Werden sie von den Währungskern-Ländern wirtschaftlich abgehängt? (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.07.1995, 14)
In den Beispielen (9) und (11) wird die Metapher des „Kerns“ mit Verben aus dem Herkunftsbereich ‚Weg‘ kombiniert, um zu verdeutlichen, dass das von den Politikern in die Diskussion eingebrachte Konzept die europäische Integration „voranbringt“ bzw. „faire avancer les choses“. Fortschritt hat eine positive Konnotation, die somit auch auf das Konzept eines „harten Kerns“ abfärbt.20
Die Journalisten verwenden neben dem ‚Kern-Schema‘ die von der
CDU/CSU-Fraktion in die Debatte eingeführte Metapher eines Europas
„mehrerer Geschwindigkeiten“, um die Überlegenheit der
„voranschreitenden“ Staaten im Integrationsprozess darzustellen.21 Im September 1994 findet sich in allen vier Zeitungen eine Vielzahl entsprechender Belege. In den Beispielen (12) und (13) werden - wie in den Beispielen (9) und (11) - Metaphern aus dem Herkunftsbereich ‚Weg‘ („vitesses“, „Geschwindigkeiten“) mit Sprachbildern aus dem Bereich
‚Behälter‘ kombiniert („exclus“, „Eintritt“):
(12) La plupart des exclus ont évidemment dénoncé, à des degrés divers, cette vision sectaire d'une Europe à deux vitesses qui ne pouvait que ressusciter les vieilles rancœurs. (Le Soir, 8.09.1994, 7)
(13) Dieser Plan sieht zwar mindestens zwei Geschwindigkeiten vor; der Eintritt in die dritte Stufe wird aber in erster Linie vom Erreichen von Kriterien abhängig gemacht ... (Neue Züricher Zeitung, 8.09.1994, 23)
20 Vgl. hierzu 19.
21 Vgl. zur Debatte eines Europas verschiedener Geschwindigkeiten Schauer (2000:22ff.):
„Das Erreichen oder die Beibehaltung einer einheitlichen Integrationsstufe ist der wichtigste Faktor dieses Konzepts, wobei der Einheitlichkeit des Acquis hohe Priorität eingeräumt wird“. Vgl. hierzu auch Trenz (2005:333): „Die Imagination eines Europas der mehreren Geschwindigkeiten ist aber auch mit einer klaren Parteinahme verbunden, …“
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(14) Sein Plädoyer für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten speist sich offenkundig aus zwei Vermutungen: erstens, daß nicht alle europäischen Staaten […] das Tempo der Einigung in allen Politikfeldern mitmachen könnten oder mitmachen wollten. Zweitens, daß die bestehenden Institutionen und Verfahren, die bislang nur in kleinen Schritten den jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Erfordernissen angepaßt wurden, … (Frankfurter Allgemeine Zeitung,
2.09.1994, 4)
Von großer Bedeutung war für Politiker und Journalisten im September 1994, ob die in dem CDU/CSU-Papier geäußerten Punkte die Meinung der deutschen Regierung widerspiegeln oder ob sich Bundeskanzler Helmut Kohl von dem Konzept distanzieren würde.22 Kohl vermied in seiner Stellungnahme explizit, von „mehreren Geschwindigkeiten“ oder „variabler Geometrie“ zu sprechen. Er bediente sich sprachlicher Bilder aus dem Herkunftsbereich der ‚Schifffahrt’, um ein Fortkommen mit unterschiedlichen
„Geschwindigkeiten“ darzustellen:23
(15) Nous voulons que les choses avancent que Maastricht soit poursuivi en
1996, mais il y a une chose que nous ne voulons pas: nous ne voulons en aucun cas que le navire le plus lent freine le convoi du développement européen, a declaré le chancelier. (Le Soir, 8.09.1994, 7)
(16) Kohl sagte, die Europäische Union solle möglichst viele Länder umfassen, aber „das langsamste Schiff darf nicht den Geleitzug aufhalten. Wir wollen vorankommen.” (Frankfurter Allgemeine Zeitung,
6.09.1994, 1)
(17) … das langsamste Schiff darf nicht den Geleitzug stoppen, so
Bundeskanzler Helmut Kohl. (Neue Züricher Zeitung, 15.09.1994, 25)
Kohl vertritt die Meinung, dass es sich die EU, die als „Geleitzug” in Richtung Integration unterwegs ist, nicht leisten kann, wegen eines langsamen „Schiffs” aufgehalten zu werden. Wie der Kommentator Hansrudolf Kamer am 7. September 1994 in der Neuen Züricher Zeitung bemerkt, bringt „das Bonner Diskussionspapier […] sachlich kaum etwas Neues und verweist eigentlich
22 In einer Rede an der Universität in Leiden wies John Major die Idee zurück und argumentierte, ähnlich wie in George Orwells „Animal Farm“, „some would be more equal than others“ (Musolff 2001:184).
23 Das Bild des Konvois verwendet Kohl bereits in früheren Jahren. So weist Musolff (1996:180ff.) die Metapher in einem Interview in der Financial Times mit Kohl am 4.01.1993 nach.
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nur auf das, was bereits besteht: das ‚Europa der verschiedenen
Geschwindigkeiten‘“.24
2.4 Konzentrische Kreise, Geometrie und ein Europa à la carte
Das Sprachbild eines Europas der „konzentrischen Kreise“ findet sich ausschließlich im Jahr 1994. Nach Balladurs Vorstellungen sollte die Europäische Architektur aus drei konzentrischen Kreisen bestehen: einer Basisorganisation (EG/EU), einer besserstrukturierten Organisation auf währungspolitischer und militärischer Ebene und einem dritten Kreis außerhalb der EU, der KSZE.25
(18) In dem fehlenden rechtlichen Zwang, dies zu tun, unterscheidet sich das Modell der konzentrischen Kreise aber vom Europa der zwei (oder mehreren) Geschwindigkeiten. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.09.1994,
5)
(19) Premierminister Balladur hat am Mittwoch im Ministerrat das Europa- Papier der CDU/CSU kritisiert, in dem ein „harter Kern“ von EU- Mitgliedern für die Wirtschafts- und Währungsunion und einer für die Sicherheitspolitik vorgesehen ist, obwohl dieses Papier einige Übereinstimmungen mit seinen eigenen Vorstellungen über ein künftiges „Europa der drei Kreise“ zeigt. (Neue Züricher Zeitung,
8.09.1994, 2)
(20) Autant les interventions de M. Balladur sur l'avenir de l'Union, notamment sur l'élargissement et la „géométrie variable“, sont restées théoriques, autant le document présenté par le parti du chancelier jeudi présente les choses avec rudesse, de désignant nommément les rares pays élus pour faire partie du „premier cercle“. (Le Monde, 5.09.1994, 4)
Weder das Konzept noch die Metapher können sich durchsetzen. Nach 1994 verschwindet das Sprachbild der „konzentrischen Kreise“ wieder aus der Berichterstattung in den untersuchten deutsch- und französischsprachigen Zeitungen.
24 Mit Inkrafttreten des Maastricht-Vertrags hatte sich Großbritannien „opts-out“-Klauseln ausbedungen, um an der späteren WWU und dem geplanten Kapitel zur Sozialpolitik nicht teilnehmen zu müssen. „Theses opt-outs marked an officially recognized difference between Britain and other EU countries that invited an interpretation in terms of different INTEGRATION SPEEDS being favoured by member state governments“ (Musolff 2004:49).
25 Vgl. hierzu Schauer (2000:33).
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Neben einem „Kerneuropa“, einem Europa „variabler Geometrie“ verwenden Politiker wie Journalisten – wenn auch deutlich seltener – das Bild eines Europas „à la carte“. Danach soll jeder Staat eigenhändig entscheiden, in welchen Bereichen er an der europäischen Integration teilnehmen möchte – ähnlich einer Bestellung im Restaurant, in dem jeder sein Menü anhand der Speisekarte nach seinem Gusto zusammenstellen kann.26 Dieses Konzept stieß sowohl bei der deutschen als auch bei der französischen Regierung auf Ablehnung.27 Es wurde vor allem von Großbritannien favorisiert.
(21) Genügend Sicherungen gegen ein übertriebenes Europe à la carte sind im Amsterdamer Vertrag eingebaut. (Neue Züricher Zeitung, 19.06.1997,
3)
(22) In der Zielsetzung gleich ist das Modell „Europa à la carte“. (Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 6.09.1994, 5)
(23) Le patronat français se prononce contre une Europe à la carte où chaque
Etat choisirait les règles qu'il respecterait ou non. (Le Monde, 12.12.1995,
2)
(24) Au contraire, l'Europa „à la carte“ suppose que certains États membres décident une fois pour toutes de ne pas participer à certaines politiques communes, comme par exemple la Grande-Bretagne ... (Le Soir,
8.09.1994, 7)
In keiner der vier Zeitungen werden die neuen Europakonzepte jedoch detailliert erläutert. Dies erklärt auch die Anführungszeichen in der Bericht- erstattung – insbesondere bei den Konzepten der „variablen Geometrie“, der
„konzentrischen Kreise“ und eines Europa „à la carte“. Lediglich
„Kerneuropa“ taucht nach einigen Tagen in den vier Zeitungen nicht mehr in Anführungszeichen auf. Die in die Debatte von Politikern eingebrachten und von den Journalisten verwendeten Metaphern zeigen anschaulich, wie
„sachliche Informationsdefizite […] mit Metaphern kompensiert“ werden.28
Da die Konzepte nicht erläutert werden, bieten die sprachlichen Bilder eine
26 Vgl. hierzu Stubb (1996), zitiert in Schauer (2000:30f.): „[T]he culinary metaphor of a Europa à la carte allows each Member State to pick and choose, as from a menu, in which policy area it would like to participate, whilst at the same time maintaining a minimum number of common objectives.“
27 Vgl. hierzu die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.09.1994: „[Der SPD-Politiker] Glotz sagte, man könne kein Europa machen, „wo sich 16 Leute zu einer Bergtour verabreden, fünf aber von Anfang an erklären, bei der ersten Steigung würden sie nicht mitklettern“.
28 Vgl. hierzu Gil (1998:97).
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Plattform an Interpretationsmöglichkeiten für die Zeitungsleser – und eine Grundlage für Missverständnisse.29 Das Problem thematisiert die belgische Zeitung Le Soir: „On parle tantôt d’Europe, à plusieurs vitesses‘, tantôt d’Europe ‚à la carte‘ sans trop savoir ce que recouvrent ces expressions.“30 So kritisiert Edouard Balladur beispielsweise das Konzept der CDU/CSU- Fraktion, obwohl seine Vorstellungen über ein künftiges „Europa der drei Kreise“31 große Übereinstimmungen mit dem Lamers-Schäuble Papier zeigen.32 Ähnliches beobachtet Musolff (1996:16) in einer Rede John Majors in Leiden am 7. September 1994. Der Premier kritisierte das Konzept eines Europas der „konzentrischen Kreise“. Dabei hatte er wenige Monate vor der Veröffentlichung des Diskussionspapiers selbst ein „multi-track, multi-speed, multi-layered Europe“ gefordert.33
2.5 Clubs für die Teilnahme an der Währungsunion
Nach dem Jahr 1994 dreht sich die Diskussion überwiegend um die Frage, welche Länder an der Wirtschafts- und Währungsunion34 teilnehmen dürfen.
29 Vgl. hierzu Musolff (1996:16): „Although the metaphors of different ‚courses’, ‚tiers’,
‚circles’ or ‚speeds’ of political integration in Europe were at that time clearly designated as having ‚international’ status, their pragmatic-political meanings seemed to differ substantially in different languages.”
30 Le Soir, 8.09.1994, Seite 7.
31 Der französische Premierminister äußerste erstmals in einem Interview in Le Figaro am
30.08.1994 seine Vorstellungen von einem Europa der konzentrischen Kreise. Schauer (2000:33) bemerkt hierzu: „Seiner Konzeption zufolge sollte die Europäische Architektur aus drei konzentrischen Kreisen bestehen: einer Basisorganisation (EG/EU), einer besserstrukturierten Organisation auf währungspolitischer wie auch auf militärischer Ebene und einem dritten Kreis außerhalb der EU, der KSZE.“
32 Vgl. hierzu die Neue Züricher Zeitung (8.09.1994, Seite 2): „Premierminister Balladur hat am Mittwoch im Ministerrat das Europa-Papier der CDU/CSU kritisiert, in dem ein ‚harter Kern‘ von EU-Mitgliedern für die Wirtschafts- und Währungsunion und einer für die Sicherheitspolitik vorgesehen ist, obwohl dieses Papier einige Übereinstimmungen mit seinen eigenen Vorstellungen über ein künftiges ‚Europa der drei Kreise‘ zeigt“.
33 Nach Musolff (1996:25) lassen sich diese Missverständnisse nur auf einem Weg beseitigen:
„The only way […] seems to me to lie not in a stigmatization of these terminologies or metaphors, but in explaining and discussing them up to a point when their implications for political recipes have become clear to all those sitting round the European table.“ Vgl. Hierzu auch Reeves (1996).
34 Die Währungsunion wird von Politikern und Journalisten häufig als „Kern“ der Europäischen Union und als „Chefsache“ beschrieben. Vgl. hierzu Reichenbach et al. (1999:64).
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Dabei wird die WWU als ‚Behälter’ konzeptualisiert, zu dem nur die Länder
„Zugang“ erhalten, die die Konvergenzkriterien erfüllen. Alle anderen müssen zunächst „draußen“35 und somit „ausgeschlossen” bleiben.
(25) Zu mehr, etwa zur Erörterung des Namens einer zukünftigen Einheitswährung, zur Klärung des Verhältnisses zwischen teilnehmenden und aussenstehenden Währungen […] wird weder die Zeit noch der Wille zum Konsens reichen. (Neue Züricher Zeitung,
26.06.1995, 1)
(26) Nach Meinung von Martino könne nicht Italien wegen seiner zerrütteten Staatsfinanzen aus einer Währungsunion ausgeschlossen bleiben, das in Relation zum Volkseinkommen noch höher verschuldete Belgien aber dabei sein. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.09.1994, 15)
Die englischen Präpositionen „in“ und „out“ verdeutlichen das Konzept
‚innen – außen’. Im Deutschen und Französischen werden die Präpositionen substantivisch gebraucht und – was etwas verwundert – in der überwiegend Anglizismen meidenden französischen Berichterstattung verwendet. Neben den „ins“ und „outs“ taucht im französischsprachigen Korpus eine dritte Gruppe auf, die der „pré-ins“. Ein diplomatischer Begriff, um die Länder zu benennen, die bereits mehr Konvergenzfortschritte erzielt haben, als die Gruppe der „outs“.
(27) Comment organiser le rapport entre les pays de l'UEM et les autres, les
in et les out? (Le Monde, 1.12.1995, 5)
(28) L'accord conclu par le conseil européen […] prévoit que les pays in […] pourront se réunir pour débattre de sujets d'intérêts communs, mais que les out […] seront en droit de demander que les mêmes dossiers soient examinés au sein du conseil Ecofin ... (Le Monde, 28.04.1998, 5)
Die „Klassen-Gesellschaft“ auf dem Weg zur EU und WWU wird von Journalisten häufig auch in Form verschiedener „Clubs“ bzw. „clubs“ beschrieben, zu denen lediglich ausgewählte Mitglieder Zutritt haben. Die elf Länder, denen die EU-Kommission im Frühjahr 1998 die Teilnahme an der WWU bescheinigt, werden in der folgenden Berichterstattung als „Euro-Klub“
35 Laut Johnson (1987:125) stellt die Verknüpfung der beiden Konzepte ‚Innen – Außen’ und
‚Kern – Rand’ eine Art Regelfall dar: „We almost always superimpose a CONTAINER
schema on our CENTER-PERIPHERY orientation. Where we draw the bounding container will depend upon our purposes, interests, perceptual capacities, conceptual system and values. […] When such a CONTAINER schema is superimposed we experience the center as inner and define the outer relative to it.”
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bzw. „club euro“ oder als „Elferclub“ bzw. „club des onze pays“ beschrieben. Zutritt zu diesem „Club“ sollen auch nach der Einführung des Euro 1999 lediglich Länder erhalten, die dauerhaft solide Staatsfinanzen vorweisen können. Südliche Länder wie Portugal, Italien und Spanien, die zunächst Schwierigkeiten hatten, die Konvergenzkriterien zu erfüllen, werden vor allem Anfang der neunziger Jahre despektierlich als „Club-Med“ – „Club Méditerannée“ – bezeichnet:36
(29) Wenn die Währungsunion fahrplanmässig auf den Weg gebracht werden sollte, könnten die so genannten Club-Med-Länder nur mehr schwerlich draussen gelassen werden. (Neue Züricher Zeitung, 2.06.1997,
7)
(30) Die erhoffte Konvergenz in den Köpfen und das Einpendeln der gegenseitigen Ansprüche im Elferklub hängen nicht zuletzt davon ab, ob die Europäische Zentralbank unabhängig von politischem Druck eine am Ziel der Preisstabilität orientierte Geldpolitik treiben kann. (Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.03.1998, 1)
(31) Le deuxième niveau décrit par M. de Silguy est celui des „in“, c'est-à- dire des pays membres du club euro. (Le Monde, 17.12.1996, 4)
(32) … lorsqu'il entendit parler, au forum de Davos, de l'éventualité d'un retard concerté de l'entrée des pays du sud (les pays du Club med) dans l'euro, pour éviter que les pays à monnaie forte soient tirés par le bas, par les plus instables. (Le Monde, 2.01.1999, 3)
Welche Gefahr nach Meinung einiger Politiker von den „Club-Med-Ländern“ ausgeht, macht Beispiel (32) deutlich. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos wird dafür plädiert, die „pays du sud“ erst später in den „Euroclub“ aufzunehmen. Andernfalls würden stabile Währungen „nach unten“ gezogen. Die Metapher aus dem Herkunftsbereich ‚Skala‘ („tirés par le bas“) impliziert eine Bewegung nach unten, die negativ konnotiert ist.37
Steht erst einmal fest, welche Länder dem WWU-Club angehören, wird der
„Elferclub“ seinerseits als Behälter konzeptualisiert, in den die
Gemeinschaftswährung, der Euro, eingeführt wird:
36 Die Gesamtverschuldung in Spanien lag 1994 bei 63,1 %, in Italien bei 125,5% und in
Portugal bei 69,6% (Europäisches Währungsinstitut 1998).
37 Vgl. hierzu Baldauf (1997:164): „NEGATIV IST UNTEN“.
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(33) Dementsprechend ändert sich zumindest am vorgesehenen Fahrplan zur Einführung der Währung nichts. (Neue Züricher Zeitung, 19.06.1997,
3)
(34) Damit sei es noch unwahrscheinlicher geworden, daß es zu einer Verschiebung der Einführung der einheitlichen Währung kommen werde. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.06.1997, 3)
(35) Jacques Chirac avait tenu pour sa part […] à „confirmer ce que chacun sait, c'est-à-dire notre volonté claire et déterminée de faire en sorte que, en respectant notre modèle social, en assumant notre volonté de lutter contre le chômage et de favoriser la croissance, nous puisons [...] entrer dans la monnaie unique“. (Le Monde, 19.06.1997, 2)
(36) L'introduction de l'euro est une révolution, ... (Le Soir, 4.01.1999, 2)
3. Zusammenfassung
Die vorliegende Analyse zeigt, dass sich Politiker und Journalisten der Behälter-Metaphorik bedienen, um ihre Vorstellungen von der Europäischen Union und der weiteren Integration zu verdeutlichen. Mit sprachlichen Bildern aus dem Bereich ‚Behälter’ lässt sich anschaulich und somit auch leicht verständlich beschreiben, welche Länder „in“ die EU bzw. WWU gehören und welche zunächst „draußen“ bleiben müssen.
Die in die Debatte eingebrachten sprachlichen Bilder eines „Kerneuropa“, eines Europa „mehrerer Geschwindigkeiten“, einer „variablen Geometrie“ oder aber eines Europa „à la carte“ sind in den neunziger Jahren nicht in Sprachlexika zu finden. Wie neu oder fremd dem Zeitungsleser diese Konzepte offenbar waren, zeigt die Tatsache, dass diese Metaphern von den Journalisten zunächst in Anführungszeichen gesetzt wurden.
Doch anders als das „Kerneuropa“ und das Europa „mehrerer Geschwindigkeiten“ können sich die anderen Konzepte und Sprachbilder in der Berichterstattung der folgenden Jahre nicht durchsetzen.38 Nach 1994 finden sich in den Artikeln die Konzepte einer „variablen Geometrie“,
„konzentrischer Kreise“ und eines Europa „à la carte“ – wenn überhaupt – nur
sporadisch. Das mag daran liegen, dass das ‚Kern – Rand’-Konzept eingängiger, anschaulicher und somit auch leichter zu verstehen und zu
38 Vgl. hierzu Rigotti (1994:193): „Im allgemeinen beobachtet man einen langen Zeitraum der Koexistenz mehrerer Metaphernfelder, bevor es einem gelingt, die anderen aus dem Rennen zu werfen.“
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verinnerlichen ist als das Bild der „variablen Geometrie“ oder der
„konzentrischen Kreise“. Schließlich handelt es sich bei den geometrischen Formen um zweidimensionale Figuren. In einem dreidimensionalen Kern lässt sich das Konzept von ‚innen – außen’ plastischer darstellen. Die Analyse zeigt, dass sich im öffentlichen Diskurs nur die Metaphern und die damit verbundenen Konzepte durchsetzen, die kognitiv leicht erschließbar und somit eingängig sind.
In der Berichterstattung nach März 1998, als feststand, welche Länder die Gemeinschaftswährung zum 1. Januar 1999 einführen würden, wird die Metapher des „Kerneuropa“ nach und nach durch die Lexeme „Euroraum“ und „Euroland“39 ersetzt. Mit Hilfe der Behälter-Metaphorik werden Konzepte und Ideen für Europa beschrieben, die sich anders weder anschaulich noch leicht verständlich darstellen ließen.
Die neuen Sprachbilder zur weiteren Integration Europas werden von Politikern in die Debatte eingebracht. Journalisten übernehmen diese in der Berichterstattung, ohne die einzelnen Konzepte detailliert zu erläutern, was Interpretationsspielräume lässt und so leicht zu Missverständnissen führt.
Die Metaphorik aus dem Herkunftsbereich ‚Behälter‘ findet sich sowohl in der FAZ, in der NZZ, Le Monde und Le Soir. Ganz gleich, welchem Sprachraum die Autoren entstammen, die Journalisten bedienen sich weitgehend identischer Sprachbilder. Die vorliegende Analyse untermauert somit frühere Studien.40
So wird die These Weinrichs, dass „eine Harmonie der Bildfelder zwischen
den einzelnen Sprachen“ existiert und „[d]as Abendland […] eine Bildfeldgemeinschaft ist“,41 durch die Ergebnisse zweifelsfrei gestützt. Insofern kann durchaus von einem Europa der Metaphern gesprochen werden.
39 Vgl. hierzu Herberg (2001:133): „Euroland. It has been suggested that the economic expert and publicist Claus Noé was the first to use this term” (Die Zeit, 29.10.1998, 28).
40 Schäffner (1993:27).
41 Weinrich (1976:287).
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