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Dem europäischen Körper eine europäische Seele.
Körperkonzepte einer europäischen Identität
Katharina Leonhardt, Saarbrücken (k.leonhardt@mx.uni-saarland.de)
Abstract
Metaphorical fields as well as their functional dimensions are as wide-ranging in the political
discourse as they are in nearly any other field. It seems that in general metaphors can realize
far more than it is generally attributed to them (see Davidson 21999: 344-345, 366-369). This
paper focuses on one of the metaphorical functions, namely the one of constructing identity,
which is particularly important to the political discourse in Europe. On the basis of examples
of body concepts of which there are countless ones to be found in the corpus, this function is
discussed hereafter.
Sowohl die Bildfelder als auch die Wirkdimensionen von Metaphern im politischen – wie
auch in nahezu jedem anderen – Diskurs sind äußerst breit angelegt. Generell scheint es,
dass Metaphern deutlich mehr zu leisten vermögen, als ihnen gemeinhin zugesprochen wird
(vgl. Davidson 21999: 344-345, 366-369). Im vorliegenden Beitrag soll nun eine dieser,
insbesondere für den europapolitischen Diskurs bedeutsamen Metaphernfunktionen
fokussiert und anhand der im Korpus so zahlreich belegten Körperkonzepte exemplarisch
besprochen werden: nämlich die der Identitätsstiftung.
1. Einleitung
Eine europäische, wie jede politische, Identität ist von großer Wichtigkeit, weil
sie die Voraussetzung für Loyalität, Solidarität und Akzeptanz für
Mehrheitsentscheidungen, ergo für Demokratie an sich ist (vgl. u.a. Scharpf
1999: 672). Politiker1 versuchen deshalb in ihren Reden und Debatten Europa
als eine Einheit darzustellen, als ein politisches Konstrukt; sie versuchen eine
Gemeinschaft zu konstruieren, mit der sich Bürger identifizieren können. Eine
sprachliche Besonderheit im politischen Diskurs im Allgemeinen wie auch im
europapolitischen Diskurs im Speziellen ist der zielgerichtete Gebrauch von
Metaphern. Ihre ideologischen, persuasiven und manipulativen Wirkdimensionen
bilden sehr oft die Grundlage für die Argumentationsstrukturen
in den Reden der EU-Abgeordneten (oder auch generell im politischen
1 Ausschließlich zugunsten einer besseren Lesbarkeit wird auf die Differenzierung
hinsichtlich des Genus verzichtet und stets die maskuline Form von Personenbezeichnungen
verwendet, welche jedoch generell sowohl weibliche als auch männliche
Personen und Personengruppen einschließt.
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Diskurs). Im Speziellen ist die identitätsstiftende Funktion von
Körperkonzepten an dieser Stelle für die Begründung und Rechtfertigung von
Standpunkten besonders bedeutsam, da der Metaphernproduzent auf diese
Weise Europa bzw. die Europäische Union2 als eine zu anderen politischen
Entitäten (z.B. zu bestimmten Bewerberstaaten, zu anderen Staatengemeinschaften
wie z.B. der USA etc.) abgrenzbare Einheit zeichnet. Er schafft
somit Gemeinschaft und rahmt folglich eine kollektive Identität eines
‚europäischen Körpers‘.
Schon aus der politischen Tradition heraus werden in großem Umfang
insbesondere Körpermetaphern dazu eingesetzt, Staaten und Staatengemeinschaften
als funktionelle Einheiten darzustellen. Mit der Seelenmetapher
beispielsweise wird dabei oft das Fehlen oder die Notwendigkeit
einer (regionalen, nationalen oder eben europäischen) Identität bebildert.
Hierbei wird zumeist im Rahmen der Integrationsdebatte auf kulturelle und
insbesondere religiöse Werte Bezug genommen.
Deutlich wird dies anhand des folgenden Auszugs eines Zeitungsartikels:
(1) „Am Ende seiner Amtszeit äußerte er [scil. Jacques Delors] den Wunsch,
dem europäischen Körper eine europäische Seele einzuhauchen“ (Die
Welt 08.10.2004).
So vermisst der Journalist, was er im weiteren Verlauf des Artikels expliziert,
im Wirtschaftsraum Europa das Bewusstsein für das kulturelle Gemeingut der
EU-Staaten; dem europäischen Körper fehle eine europäische Seele. Die
Aufnahme weiterer kulturell und religiös unterschiedlich geprägter Kandidatenländer
(wie beispielsweise der Türkei) verhindert demnach die Schaffung
einer europäischen Seele für den europäischen Körper. Mit Hilfe der
Körpermetaphern wird an dieser Stelle – wie auch häufig andernorts – Europa
als Gemeinschaft der Christenheit definiert (so bereits Novalis in seinem 1799
verfassten Essay: Die Christenheit oder Europa); die Europäische Union
metaphorisiert der Autor folglich als Körper mit einer christlichen Seele, was
er gleichsam als Argument gegen eine weiterführende Integration heranzieht.
Dem Metaphernproduzenten gelingt dies, indem er zwei Identitäten, zwei sich
2 Im untersuchten Korpus werden beide Begrifflichkeiten in aller Regel synonym im Sinne
des politischen (d.h. die Staatengemeinschaft EU) und weniger des geographischen
Konzepts (d.h. der Kontinent Europa) verwendet.
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voneinander abgrenzende (politische) Entitäten schafft: zum einen eine
europäische, zum anderen eine außereuropäische, nicht-christliche z.B.
türkische Identität.
Im Folgenden gilt es, mittels einer exemplarischen Korpusanalyse zu
ermitteln, inwiefern und mit welchem Ziel insbesondere Körpermetaphern
Identität stiften, welche Bildspender hierfür besonders geeignet scheinen und
regen Gebrauch im EU-politischen Diskurs finden und ob sich Unterschiede
zwischen einzelnen Sprachen in Bezug auf die Metaphernverwendung
feststellen lassen. Zu diesem Zweck werden die im Europarl-Korpus erfassten
EU-Parlamentsdebatten von 1999 bis 2006 in ihren deutschen, französischen
und spanischen Übersetzungen sowie ausgewählte journalistische Texte zum
Thema EU-Politik im Zeitraum von 1999 bis 2011 analysiert. Im Korpus sind
zahlreiche Belege für Körpermetaphern zu finden, die nicht allein auf rein
politische oder wirtschaftliche, sondern gleichsam auf identitäre Aspekte
abzielen und somit eine europäische Identität konstruieren. Eine Auswahl soll
im Folgenden vorgestellt und diskutiert werden.
2. Der politische Körper und die politische Identität
Seit jeher werden Körpermetaphern dazu eingesetzt, Staaten als großes
Ganzes, als eine Einheit darzustellen, in der jedes Mitglied, also jeder Bürger,
seinen Beitrag zu leisten hat (vgl. u.a. Hobbes 1976 [1651]). Auf diese Weise
identifizieren sich die Staatsangehörigen mit ihrem entsprechenden Staatskörper,
fühlen sich als Teil des großen Ganzen und eins mit ihren Mitbürgern,
grenzen sich von anderen Staaten und deren Bürgern ab. „Der Staat ist ein
Körper“ ist ein uraltes Metaphernkonzept und in Begriffen verankert wie
beispielsweise dt. Staatsoberhaupt (analog frz. chef de l’État, span. jefe de Estado3),
staatliche Organe (analog frz. organes de l’État, span. órganos del Estado), der Arm
des Gesetzes (analog frz. bras de la loi, span. brazo de la ley), Fußvolk (analog frz.
gens de pied/piétaille, span. peonaje4) etc.
3 Span. jefe geht auf frz. chef und dieses auf lat. CAPUT „Kopf“ zurück (vgl. DRAE 222001
und TLFi 2005).
4 Span. peonaje von peón geht zurück auf mlat. PEDO „Fußsoldat“ (vgl. lat. PES „Fuß“) (vgl.
DRAE 222001).
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Dieses Konzept wird in jüngster Zeit auf die Europäische Union übertragen,
der Zielbereich somit aufgrund der aktuellen politischen Gegebenheiten
erweitert, die Identität jedes Einzelnen vergrößert, ohne jedoch dessen
nationale (oder gar regionale) Identität vollständig zu absorbieren. Die
Darstellung Europas als Einheit und nicht als bloßer Zusammenschluss von
Staaten (mit gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen) ist an dieser Stelle
umso bedeutsamer. Damit das System funktioniert, muss es als Einheit
funktionieren – gleich einem menschlichen Körper. Jeder Körperteil muss sich
dem Gesamtkörper zugehörig fühlen, sich mit diesem identifizieren, denn
Fremdkörper werden abgestoßen. Die Übertragung des Metaphernkonzepts
auf den ‚neuen‘ Zielbereich EU manifestiert sich in Begriffen wie z.B. dt.
europäische Organe bzw. EU-Organe (entsprechend frz. organes européens bzw.
organes de l’UE, span. órganos europeos bzw. órganos oder häufiger organismos de
la UE), Mitgliedstaaten (entsprechend frz. membres, span. miembros5), der Arm der
Haushaltsbehörde (entsprechend frz. le bras de l’autorité budgétaire, span. el brazo
de la autoridad presupuestaria) etc. Schmitt (1998) spricht an dieser Stelle von
„Recycling“, da die alten, „abgenutzten“ Metaphern nun in einem neuen
Kontext Verwendung finden. Auch hier können sie zum Zwecke der
Identitätsstiftung eingesetzt werden.
Generell versteht man in den Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften
unter dem Identitätsbegriff ein Zugehörigkeits- bzw. Ähnlichkeitsmodell (vgl.
Zirfas/Jörissen 2007: 243), was dem Wortursprung lat. IDEM „ebender, ein und
derselbe“ jedoch widerspricht. Demnach wäre Identität als Selbigkeit, als
Selbstgleichheit aufzufassen, was allerdings jeglichen Wandel, jegliche Entwicklung
negieren würde:
Wer […] die Ähnlichkeitsbeziehung zugunsten einer Gleichheitsbeziehung
zu tilgen versucht, negiert die mit der ähnlichen Identität
verbundene potentiell unendliche Veränderungs- und Wandlungsstruktur
zugunsten einer Identitätspolitik der Reduktion und
Fixierung. Die Gleichung des ‚Ich bin ich‘, [sic] vernichtet jegliche
Erfahrung und jeglichen Wunsch, da sie sich gleichgültig gegenüber
Differenzen und Prozessen zeigt. […] Ein Leben der Identität als
5 Beides geht auf lat. MEMBRUM „Glied, Körperteil“ zurück (vgl. DRAE 222001 und TLFi
2005).
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Selbstgleichheit wäre kein gelebtes, biographisches Leben, es würde
Entwicklungen ausschließen (ebd.: 249).
Entsprechend kann mit dem Identitätsbegriff an dieser Stelle ausschließlich
auf Ähnlichkeiten, auf ‚Verwandtschaften‘ verwiesen werden (vgl. ebd.: 248);
geht es doch im untersuchten Diskursausschnitt um die Konstruktion einer
kollektiven, politischen Identität. An diesem Punkt wird deutlich, dass es sich
weniger um eine Begrifflichkeit, sondern vielmehr um ein Bild, um eine
Metapher handelt, welche die entsprechenden Ähnlichkeiten aufzeigt, diese
fokussiert und mögliche Differenzen verdeckt (vgl. „highlighting and hiding“;
Black 1962: 41). „Identität ist eine Metapher kultureller Erfahrung, deren
Ähnlichkeiten unendlich sind. Man sollte versuchen, […] ihre Ähnlichkeiten
wahrzunehmen“ (Zirfas/Jörissen 2007: 252). Mithilfe des Körperkonzeptes
werden diese Ähnlichkeiten zwischen dem zu zeichnenden Kollektiv und dem
Einzelnen aktiviert. Über die Metaphern wird der Körper definiert und klar
differenziert, wer Teil des Gesamtkörpers ist und wer nicht, wer es u.U.
werden kann und wer nicht etc.
3. Körpermetaphorische Konzeptionen einer europäischen Identität
Für die Schaffung einer europäischen Identität ist es folglich von Bedeutung,
die Ähnlichkeiten zwischen sich (als Bürger oder als politische Institution, als
Staat etc.) und dem Konstrukt Europäische Union wahrzunehmen. Ebenso
wichtig ist jedoch die Abgrenzung zu anderen politischen Entitäten, da es nur
dann zur Bildung einer solchen Identität kommt, wenn auch ein von
Andersartigkeit gekennzeichnetes Gegenüber, von dem man sich abgrenzen
kann, existiert6 (vgl. Kirchhoff 2010: 266-267). Aus diesem Grund tritt die
Frage nach einer europäischen Identität insbesondere im Rahmen der
Integrationsdebatten in den Fokus: „Die Kategorie Europäische Identität […]
ist […] als zentrale Variable zur Analyse des Integrationsprozesses zu
verstehen und kann bei entsprechender Nutzung zu einem Erkenntnisgewinn
führen“ (Wessel 1995: 121). Als integrationswürdig werden folglich diejenigen
6 Wenn dieses nicht nachweislich existent ist, so wird ein Gegenüber ggf. auch künstlich
erschaffen. Beispielsweise konstruiert der Mensch, der sich als „Erdling“ identifiziert in
seiner Phantasie außerirdische Lebewesen, von denen er sich dann wiederum abgrenzen
kann. Andernfalls wäre eine derartige Identifizierung nicht möglich.
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Kandidatenländer betrachtet, welche ausreichend Ähnlichkeiten mit dem
Konzept Europa aufweisen, welche sich mit der Europäischen Union
identifizieren können. Hierzu wird sehr häufig das Bild der europäischen
Familie gebraucht, also einer Gemeinschaft aus Personen (aus Körpern), um
mit Hilfe der Darstellung von Ähnlichkeitsbeziehungen und Identifizierung
als (genetische) Verwandtschaften und verwandtschaftliche Relationen Zugehörigkeit
zu verdeutlichen, eine gewisse Selbstverständlichkeit zu suggerieren
und ebenso die entsprechende Identität zu schaffen.
Wenn zum Beispiel die EU als Familie metaphorisiert wird, dann ist
sie nicht mehr nur eine politische Organisation, sondern erlangt
familienhafte Züge: Sie bietet den Mitgliedstaaten bzw. Familienmitgliedern
Nestwärme, vermittelt Zugehörigkeit und schafft
Abgrenzung zu Anderen (Hülsse 2003: 218).
Die genetische Verwandtschaft kann dann beispielsweise als Argument für
eine Aufnahme eines bestimmten Kandidatenlandes in die europäische
Familie eingesetzt werden, da die Zugehörigkeit biologisch vorgegeben ist
und damit außer Frage steht. Ebenso erübrigt sich die Identitätsfrage, da die
Ähnlichkeitsbeziehungen von Natur aus vorhanden sind (vgl. ausf. Hülsse
2003).
(2) „Wir [scil. die Türkei] gehören zur Familie“ (Titel, Die Zeit 50/1999).
Die Türkei selbst argumentiert folglich an dieser Stelle mit der genetisch
gegebenen Familienzugehörigkeit zu Europa und schafft eine europäische
Identität, welche die türkische einschließen soll.
Sind die Divergenzen zu stark, der betreffende Staat nicht ‚ausreichend
europäisch‘, wird eine Aufnahme in die Europäische Union (vorerst) abgelehnt;
entsprechende Auflagen zur Angleichung können formuliert und
zumindest die Möglichkeit der Aufnahme in die EU kann in Aussicht gestellt
werden, sofern die Bedingungen zur Zufriedenheit der Entscheidungsträger
erfüllt wurden. Dann greift eine Familienmetapher nur noch in negierter Form
(ergo: „Europa ist keine Familie“, sondern z.B. „ein christlicher Club“; vgl. z.B.
Hülsse 2003: 225).
(3) „Europa ist eine Familie mit vielen Adoptivkindern“ (Titel, FAZ
11.12.2011).
Die genetische Verwandtschaft wird den Kandidatenländern an dieser Stelle
also abgesprochen, dennoch deren Integration nicht ausgeschlossen, sofern die
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entsprechenden Auflagen eingehalten und erfüllt werden. So heißt es in dem
Zeitungsartikel weiter:
[…] Man kann die europäische Währungsgemeinschaft mit einer
Familie vergleichen, die nach und nach immer mehr Pflege- und
Adoptivkinder aufnimmt. Es gibt starke und schwache Kinder, und
es gilt, alle zu integrieren. Irgendwann stößt die Familie an ihre
Grenzen. In der EU-Familie halten viele Mitglieder die Regeln nicht
ein. Mehr Haushaltsdisziplin tut not. Kann man Menschen zu
Disziplin erziehen? […] (ebd.).
Ähnlichkeit und Identität könne demzufolge lediglich über Assimilationsprozesse,
durch Erziehungsmaßnahmen erlangt werden. Hierin inbegriffen ist
die Möglichkeit des Scheiterns derartiger Maßnahmen.
Bilder, die Europa als einen und nicht, wie in der Familienmetapher, als Zusammenschluss
mehrerer Körper kommunizieren, werden zu ganz ähnlichen
Zwecken, insbesondere zur Identitätsstiftung eingesetzt. An dieser Stelle
lassen sich die Körpermetaphern meist dem unternehmensstrategischen
Konzept der Corporate Identity zuordnen, welches auf die bereits oben
diskutierten Ähnlichkeitsbeziehungen referiert. Nach außen sichtbar wird dies
über das sog. Corporate Design, welches sich im Falle der EU in z.B. einer
gemeinsamen Flagge, Hymne, Rechtssprechung u.a. widerspiegelt. Dieses
vorzugsweise auf Unternehmen und Betriebe projizierte Metaphernkonzept7
kann nun auch auf politische Entitäten, wie die Europäische Union,
übertragen werden. Es schafft ebenfalls Einheit, Zugehörigkeit und Identität;
Hierarchien (z.B. vom Kopf bis zum Fuß → Orientierungsmetapher; vgl.
Lakoff/Johnson 1980: 22), Abhängigkeiten und Funktionsweisen (z.B. Organe
als Funktionsträger, Krankheiten als Funktionsstörungen), Abgrenzung zu
anderen Körpern (z.B. den Nicht-EU-Staaten) sowie affektiv-emotionale bzw.
kulturell-religiöse Aspekte (z.B. Seele) werden kommuniziert.
Insbesondere hinsichtlich der Identitätsfrage greift auf affektiv-emotionaler
Ebene die Seelenmetapher:
(4) „[…] ce texte crée un super-État, centralisé, omnipotent, totalitaire, mais
privé d’identité et d’âme […]. État sans âme ni identité, enfin, qui renie
7 Der Herkunftsbereich FAMILIE findet gleichsam häufig zur Metaphorisierung von
Unternehmensstrukturen Verwendung, was sich in lexikalisierten Begrifflichkeiten wie
dt. Mutterkonzern, Tochtergesellschaft, Schwesterunternehmen etc. niederschlägt.
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ses racines helléno-chrétiennes, accepte d’intégrer la Turquie malgré
l’opposition des peuples, ne croit qu’à la mondialisation, à la
concurrence et au marché. Alors, aujourd’hui comme lors du
référendum organisé dans mon pays, je vote non“ (Gollnisch, Straßburg,
12.01.2005).
Gollnisch konstruiert in diesem Beitrag mittels der Seelenmetapher zwei
Identitäten, die er klar voneinander abgrenzt: einerseits eine europäische und
andererseits eine türkische Identität. Als differenzierendes Kriterium erwähnt
er die seit jeher bestehende Religionszugehörigkeit. Während die Europäische
Union auf eine lange Tradition der Christenheit zurückblicke, sei die Türkei
islamisch geprägt. Darauf begründen sich seines Erachtens die beiden
Identitäten, die nicht miteinander vereinbar sind, weshalb einem um die
Türkei erweiterten europäischen Körper die Seele und folglich jegliche
Identität im Falle der EU-Erweiterung genommen wäre. Auf diese Weise
rechtfertigt und begründet Gollnisch schließlich seine Gegenstimme im
Parlament. Die Schaffung von Identität mittels Metaphern zieht demnach
ebenso eine argumentative Leistung nach sich, wobei die Argumentationsstruktur
die Art der zu stiftenden Identität(en) beeinflusst bzw. umgekehrt. Im
folgenden Beleg beispielsweise wird die Seele – im Gegensatz zu Gollnischs
Wortmeldung – mit der Integrationsidee gleichgesetzt:
(5) „Das wäre ein historisches Versagen sondergleichen und würde die
Seele Europas, nämlich die Integrationsidee, verkümmern lassen“
(Europarl 3).
Da die Erweiterungsfrage stets die Identitätsfrage nach sich zieht bzw. diese
einschließt (vgl. Hülsse 2003: 232), ist zu schlussfolgern, dass implizit erneut
die europäische Identität Bildempfänger der Seelenmetapher ist. Trotz der
Deckungsgleichheit des Herkunfts- und des Zielbereichs in beiden Belegen
wird genau entgegengesetzt argumentiert. Dasselbe Bild kann folglich
durchaus ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen zulassen, je nachdem, mit
welchen Konnotationen die Seele des europäischen Körpers vom Metaphernproduzenten
belegt wird. Rahmt sie, wie bei Gollnisch, eine religiös
begründete Identität, so wird gegen die Integration islamischer Staaten
argumentiert. Wird die Integrationsidee an sich auf diese Weise bebildert, so
gilt sie als Argument für eine paneuropäische Identität und demzufolge für
die Integration aller Kandidatenländer ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit.
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Doch auch außerhalb der Erweiterungsdebatte wird die Seelenmetapher
identitätsstiftend eingesetzt:
(6) „Die Charta wäre genau dieses Instrument, das die Seele Europas formt
und zu einer gemeinsamen Identität beitragen könnte“ (Hans-Peter
Martin, Straßburg, 14.03.2000).
Martin argumentiert in seiner Wortmeldung für die Grundrechte-Charta und
setzt im weiteren Verlauf erneut (wie bereits in den zuvor exemplarisch
angeführten Belegen) die Seele Europas mit dessen Identität in eine kausale
Beziehung. Die Europäische Union würde sich folglich über ihre Rechtsbestimmungen,
über gemeinsame Grundrechte definieren, was somit eine
europäische Seele und – mit Bezug auf eine Corporate Identity bzw. das
Corporate Design – eine Identitätsbildung bewirkt.
Andere Bilder definieren die europäische Identität über die Einheit, die
Gemeinschaft aller Mitgliedstaaten, die entsprechenden Zusammengehörigkeitsgefühle
sowie die in bestimmten Fällen eintretenden bzw. geforderten
Kooperationsverpflichtungen. Diese werden häufig beispielsweise mittels
Schulterschlussmetaphern ausgedrückt:
(7) „Es darf keinen Zweifel daran geben, dass eine solche
Katastrophensituation von den Mitgliedstaaten der EU Schulter an
Schulter angegangen werden muss“ (aus dem Dän. von Busk,
Straßburg, 03.09.2002)8.
Busk spricht in seinem Redebeitrag über das Hochwasser im August 2002 und
die weitreichenden Folgen der Überschwemmungen. Den betroffenen
Regionen und Ländern gelte es nun zu helfen und in einer Staatengemeinschaft
wie der Europäischen Union seien auch Naturkatastrophen eine
Angelegenheit der Gesamtheit und nicht mehr nur allein der Betroffenen.
Trotz dessen, dass an dieser Stelle die EU nicht als ein Körper, sondern als
Zusammenschluss mehrerer einzelner Körper (der EU-Mitgliedstaaten)
gezeichnet wird, wird eine gemeinsame, europäische Identität mittels der
Schulterschlussmetapher und der damit verbundenen Zusammengehörigkeit
8 Das dänische Original selbst ist hingegen nicht körpermetaphorischer Natur: „Der må
ikke herske tvivl om, at en sådan katastrofesituation skal løftes i flok af EU´s
medlemsstater“ (Busk, Straßburg, 03.09.2002).
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bzw. Zugehörigkeit zu einem großen Ganzen im Sinne der Corporate Identity
sowie daraus folgender Verbindlichkeiten konstruiert.
Nicht so im folgenden übersetzten, ebenfalls ursprünglich dänischen
Redebeitrag:
(8) „En este ámbito, como también en otros, cuando la Unión Europea y los
Estados Unidos se mantienen hombro con hombre [sic], podemos hacer
mucho a favor de la justicia y la libertad en el mundo“ (aus dem Dän.
von Haarder, Straßburg, 23.10.2002)9.
Vielmehr stiftet an dieser Stelle dieselbe Metapher durch die Zeichnung
zweier kooperierender Körper, eines europäischen und eines USamerikanischen,
zwei Identitäten. Das ist jedoch nicht allein über die
Metaphernwahl, sondern vielmehr mit dem Wissen über die politischen
Gegebenheiten beider Staatengemeinschaften zu begründen und aufgrund der
Tatsache, dass es sich bereits jeweils um sehr große ‚Körperschaften‘ handelt,
die zudem auch noch geographisch zu weit voneinander entfernt liegen, als
dass wir sie uns als einen Körper imaginieren könnten.
Die häufig in Phrasemen wie frz. tourner le dos à qn./qc. und entsprechenden
Äquivalenten im Deutschen und Spanischen verfestigte Rückenmetapher
wirkt identitätsstiftend, indem sie Abgrenzung zu denjenigen Objekten
schafft, denen der politische Körper seinen Rücken zuwendet:
(9) „Campant sur la vision archaïque et monolithique d’une Europe au
cadre unique et à la politique uniforme, notre Parlement vient une
nouvelle fois de tourner le dos à la voie féconde d’une Europe de la
coopération volontaire entre nations souveraines“ (Europarl 3).
Das Parlament, welches der Autor obigen Belegs als einen zweidimensionalen
Körper, d.h. mit einer Vorder- und einer Rückseite, zeichnet, steht zwischen
zwei möglichen Ausprägungen Europas – einem „Europa mit gemeinsamen
Rahmen und einheitlicher Politik“ einerseits und einem „Europa der freiwilligen
Zusammenarbeit zwischen souveränen Nationen“ (Übersetzungen
nach ebd.) andererseits. Kehrt es nun einer Option den Rücken, wendet es sich
automatisch – mit dem Gesicht – der anderen zu. Demzufolge werden zwei
9 Das dänische Original selbst ist hingegen nicht körpermetaphorischer Natur: „Det gælder
på dette felt som på andre, at når EU og USA står sammen, er der meget, vi kan gøre for
ret og frihed i verden“ (Haarder, Straßburg, 23.10.2002).
Leonhardt, Körperkonzepte einer europäischen Identität
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gegensätzliche Identitätsgrundlagen geschaffen, zwischen denen sich das
Parlament entscheiden muss. Identifiziert es sich mit der einen Version
Europas, grenzt es sich unweigerlich von der anderen ab. Ebenfalls zwei
Optionen werden im folgenden Beleg implizit präsentiert:
(10) „L’Union européenne ne tournerait pas non plus le dos à une Bosnie à
forte population islamique si elle demandait l’adhésion“ (ebd.).
Die Entscheidung ist an dieser Stelle bereits gefallen. Die Vorstellung eines
zweidimensionalen Körpers Europa wird hierbei erneut deutlich. Europa will
Bosnien nicht den Rücken kehren, d.h., gewährt die Möglichkeit eines EUBeitritts.
Auf diese Weise wird gewissermaßen Zugehörigkeit geschaffen und
der christlichen Religion als typisch ‚europäisch‘ und somit als Abgrenzungsmerkmal
zu islamisch geprägten Ländern widersprochen. Die hier
konstruierte europäische Identität definiert der Redner folglich über andere
Kriterien als dem der konfessionellen Ausrichtung, weshalb er keinen Grund
sieht, Bosnien im Falle einer Anfrage die Möglichkeit auf den EU-Beitritt zu
verwehren.
Des Weiteren wirken die Organmetaphern innerhalb der politischen
Körpermetaphorik identitätsstiftend:
(11) „L’Europe respire aujourd’hui avec ses deux poumons, a dit le pape“
(Garaud, Straßburg, 03.05.2004).
Die von Papst Johannes Paul II. seinerzeit geprägte Metapher der beiden
europäischen Lungen(flügel)10 wird immer wieder im untersuchten Korpus
aufgenommen. Aufgrund ihres religiösen Hintergrundes sowie den
Konnotationen zum Kalten Krieg wirkt sie stark emotionalisierend. Auch hier
werden implizit zwei Identitäten geschaffen und zwar über die Darstellung
zweier Lungen: eine west- und eine osteuropäische, wenngleich dies
impliziert, dass sie stets zu einem gemeinsamen Körper gehörten. Die aktuelle
politische Situation hebt diese interne Zweiteilung Europas jedoch gänzlich
auf, sodass der Papst in seiner Rede nun einen europäischen Körper
10 „[…] Ich hoffe, daß Schritte gelingen, um den Westen und den Osten dieses Kontinents
einander näher zu bringen, jene beiden Lungen, ohne die Europa nicht atmen kann […]“
(Papst Johannes Paul II. in seiner Ansprache bei der Begegnung mit den Mitgliedern der
Bundesregierung und des Diplomatischen Corps am 20. Juni 1998 in Wien, unter:
http://stjosef.at/papstbesuch/3papst_d.htm (29.05.2012)).
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konstruiert, der mit einer gesunden Lunge atmen kann. Folglich rahmt er auch
nur eine gemeinsame europäische Identität.
Ein weiterer Beleg zeigt die Organe des europäischen Körpers als Funktionsträger:
(12) „Meiner Meinung nach ist es unabdingbar, dass wir diese Erklärung
gemeinsam als eine kollektive Willenserklärung unterschreiben, und
dass sie neben den Mitgliedstaaten und der Kommission auch vom
Europäischen Parlament unterzeichnet wird als Beweis dafür, dass die
Europäische Union und ihre Organe gemeinsam auf das gleiche Ziel
hinarbeiten“ (aus dem Engl. von Barroso, Brüssel, 20.06.2006)11.
Auch hier wird die Europäische Union als ein Körper gezeichnet, dessen
Mitgliedstaaten und Organe zusammenarbeiten; sie sollen als Kollektiv, eben
als ein in seinen Einzelteilen funktionierender Körper, als eine Einheit auftreten.
Die gemeinsame Unterschrift der Erklärung bildet hier – als Teil des
Corporate Design – das Ähnlichkeitsmoment, welches Identität schafft.
4. Fazit
Wie nachgewiesen werden konnte, dienen Körpermetaphern in den
Parlamentsdebatten vorwiegend im Kontext des Integrations- und
Erweiterungsdiskurses der Identitätsstiftung. Als in diesem Rahmen besonders
produktiv erwiesen sich die Familien- und die Seelenmetapher, die
Schulter-, die Rücken- sowie die Organmetapher. Hierbei werden stets zwei
Identitäten konstruiert. Das verwundert nicht, liegt es doch in der Natur der
Identität, sich nicht allein über Gleichförmigkeit und Ähnlichkeitsbeziehungen
zu definieren, sondern gleichsam über Abgrenzung und Unterschiedlichkeit
gegenüber anderen Entitäten. Dieses Konzept gilt sprachen- und kulturübergreifend,
weshalb es in allen drei kontrastierten Sprachen Anwendung
findet. Insbesondere im EU-Erweiterungsdiskurs werden Merkmale definiert,
welche über die Eignung eines Kandidatenlandes als EU-Mitglied entscheiden
und so als Argument für oder gegen dessen Aufnahme eingesetzt werden.
11 Das englische Original selbst ist hingegen nicht körpermetaphorischer Natur: „I believe
that it is critical that we will sign this together as a collective act of will, and that the
European Parliament will sign that declaration, alongside the Member States and the
Commission, as proof that the European Union and its institutions are working together
towards the same goals“ (Barroso, Brüssel, 20.06.2006).
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Meist spielt die religiöse Prägung hierbei eine gewichtige Rolle. Der Aspekt
der Abgrenzung tritt dann besonders in den Fokus. Insgesamt dienen
Körpermetaphern jedoch vorwiegend der Darstellung der Europäischen
Union als einer Einheit, als einem großen Ganzen. Zugehörigkeit und
Gemeinschaft wird kommuniziert, um z.B. die gegenseitige Hilfe und
Unterstützung der einzelnen Mitgliedstaaten einzufordern.
Bedeutsame Unterschiede zwischen der Metaphernverwendung in den
einzelnen Sprachen in Bezug auf deren Einsatz zum Zwecke der Identitätsbildung
waren nicht zu konstatieren. Zudem sind die belegten Bilder mit
identitätstiftender Funktion in allen hier kontrastierten Sprachen nachweisbar.
Vielmehr handelt es sich also um ein kollektiv geteiltes Konzept, weshalb es
häufig und umso wirksamer auch argumentativ im Plenum zum Einsatz
kommt. So werden Selbstverständlichkeiten geschaffen, auf Basis derer die
Argumentationskette fortgeführt wird und Abgrenzungen (möglicherweise
auch diskriminierender Art) gerechtfertigt werden.
5. Bibliographie
5.1. Korpus
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unter: http://opus.lingfil.uu.se/bin/opuscqp.pl?corpus=Europarl3
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5.1.2. Pressekorpus
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unter: http://fazarchiv.faz.net/ (29.05.2012).
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unter: https://www.lexisnexis.com/de/business/ (29.05.2012).
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unter: https://www.lexisnexis.com/de/business/ (29.05.2012).
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Ithaca/New York.
Davidson, Donald (21999 [1978]): „Was Metaphern bedeuten“, in: Ders.:
Wahrheit und Interpretation, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am
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http://rae.es/rae.html (29.05.2012).
Hobbes, Thomas (1976 [1651]): Leviathan. Erster und zweiter Teil, herausgegeben
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Hülsse, Rainer (2003): „Sprache ist mehr als Argumentation. Zur
wirklichkeitskonstruierenden Rolle von Metaphern“, in: Zeitschrift für
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Lakoff, George/Johnson, Mark (1980): Metaphors We Live By, Chicago/London.
Scharpf, Fritz W. (1999): „Demokratieprobleme in der europäischen Mehrebenenpolitik“,
in: Merkel, Wolfgang/Busch, Andreas (edd.): Demokratie
in Ost und West, Frankfurt am Main, 672-694.
Schmitt, Christian (1998): „Zum Recycling abgenutzter Metaphern. Sprachliches
Altmaterial für neue kommunikative Zwecke“, in: Gil,
Alberto/Schmitt, Christian (edd.): Kognitive und kommunikative
Dimensionen der Metaphorik in den romanischen Sprachen, Akten der
gleichnamigen Sektion des XXV. Deutschen Romanistentages Jena
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