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„Tagebuch eines Erdbebens von 8,8 Grad“ (Auszüge)
Elisabeth Gumberger (elisabethgum@gmail.com)
Das Beben
Es ist die Nacht des 27. Februars 2010, 3 Uhr 34. Es sind die Stunden, in denen
sich der Mensch im Tiefschlaf befindet.
Ich höre das Rufen meines Mannes: „Está temblando, está temblando“ (“es bebt, es
bebt“).
Die Stimme klingt wie von weit her, ich habe das Gefühl in einen Albtraum einzutauchen,
bis mich eine kräftige Hand aus dem Bette zieht.
Mit beiden Beinen stehe ich schlaftrunken auf einer Erde, die sich nach oben,
unten, zur Seite, nach hinten und nach vorne bewegt.
Wir klammern uns aneinander, halten uns fest und bewegen uns so gut wir
können bis zur Ecke neben der kleinen Türe unseres Schlafzimmers, die in den
Garten führt.
Ein unheimliches tiefes Grollen, Scheppern und Klirren, Ächzen und Krächzen
umgibt uns, und wir schaffen es mit unseren zitternden Händen nicht, diese kleine
Türe, die uns in die Freiheit führen würde, zu öffnen.
Es wird uns klar, wir dürfen uns nicht aus dieser Ecke fortbewegen, denn dieses
große und schwere Haus bewegt sich nur noch im Rhythmus der Erde.
Die Erde hat sich zu einer unkontrollierten Furie entwickelt.
Unsere Rufe und Bitten, sie solle doch aufhören, ersticken in den Staubwolken, die
vom Himmel fallen.
Langsam teilen sich die Wände, die Risse werden länger und länger und wir sind
eingeschlossen in diesem Inferno.
Über der Stadt liegt der Lärm der Sirenen und Alarmanlagen der Häuser, die
Hunde weinen und bellen.
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Uns umarmend und in diese Ecke gedrückt, scheint die Zeit kein Ende nehmen zu
wollen.
Plötzlich liegt alles in Dunkelheit und eine nicht fassbare Totenstille umgibt uns.
Als wir die Türe, die durch die Bewegungen der Erde verklemmt war, zu unserem
Garten öffnen können, erhellt nur das Licht des Vollmondes, das seine Schatten
über den Garten wirft, das unwirkliche Geschehen.
Es lässt uns erkennen, dass wir noch leben und die Erde noch existiert.
Starr vor Schrecken, unfähig ein Wort zu sprechen, zitternd vor Kälte, mit dem
Gefühl eine Wirklichkeit erlebt zu haben, die außerhalb jeder Vorstellungskraft
lag, lassen wir uns in die Gartenstühle fallen.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so saßen, stumm, zusammen mit unseren
verstörten Hunden, als sich endlich das Licht der aufgehenden Sonne abzeichnete.
Mit größter Sehnsucht erwarteten wir das Morgengrauen und die wärmende
Sonne.
Langsam stieg sie am Horizont auf und es wurde heller und heller.
Dass ein neuer Tag anzubrechen begann, schien uns wie eine Unwirklichkeit.
Der Tag danach
Die Stromversorgung ist zusammengebrochen und über unser kleines Tschiboradio
mit Batterie, erhalten wir den einzigen S-ender, der noch funktioniert.
Wir erfahren, dass wir eines der stärksten Erdbeben der letzten 50 Jahre, das zweitgrößte
seit den Seismologischen Messungen, erlebt haben.
Die Zeit, die uns so unendlich erschien, betrug dreieinhalb Minuten und das Epizentrum
befand sich in Talca und Concepción.
Als die Sonne schon weiter am Himmel steht, wagen wir uns auf die Straße.
Das Garagentor ist schwer zu öffnen, die Verschiebungen der Wände haben es
festgeklemmt.
Wir haben große Angst davor, auf die Straße zu gehen und vor allem vor dem,
was wir vorfinden werden.
Gumberger: Tagebuch eines Erdbebens
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Dort treffen wir auf Menschen, die mit fassungslosen, erschrockenen und
bestürzten Gesichtern vor den Ruinen ihrer Häuser stehen. Trotz der noch
sommerlichen Temperaturen frieren wir alle und niemand findet ein Wort.
Schweigend gehen wir durch die Straßen, in denen die Häuser in Schutt und
Asche liegen.
Was bedeuten dreieinhalb Minuten in einem Menschenleben und noch mehr in
der Weltgeschichte, - und trotzdem haben nur drei Minuten das Leben tausender
von Menschen, hier in dieser Region verändert.
Über unser kleines Radio erhalten wir weitere Informationen.
Warnungen über einen Tsunami an der Küste werden von offiziellen Stellen in
den Wind geschlagen.
Den nächsten Tag werden hunderte von Toten an der Küste beklagt.Das Meer ist
mit aller Wucht zurückgekommen und hat ganze Dörfer und Stadtviertel vernichtet
und mit sich gerissen. Viele Menschen sind den gewaltigen Wellen zum
Opfer gefallen.
Wir haben uns bis jetzt noch nicht getraut in unser Haus, das wie ein großer
Sarkophag vor uns steht, hinein zu gehen. Es heißt allen Mut und alle Kraft zu
sammeln, um diesen Schritt zu machen.
Nicht nur die ständigen Nachbeben, die an diesem Tag immer wieder die Stadt
erschütterten, sondern auch die Konfrontation mit der Situation, in welchem
Zustand sich das Haus befindet, machen uns Angst.
Die Wände sind mit Rissen übersät und gespalten, die Räume mit Staub und Erde
bedeckt.
Geschirr und Flaschen liegen auf dem Boden. Die große schwere Vitrine, sowie
Kühlschrank und Herd stehen mitten in der Küche. In der Mitte des Wohnzimmers
liegen der Fernseher, die Blumentöpfe und die geliebten Mitbringsel aus
verschiedenen Ländern. Kein Bild hängt mehr an seinem Platz.
Die Bibliothek mit den Büchern ist durch die abgestürzte Wand zusammengebrochen.
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So stehen wir in unserem Haus, das einmal unser geliebtes Heim war, in dem wir
schöne Feste feierten und Freunde empfingen, in dem wir uns wohlfühlten, vor
einer völlig neuen Situation, die unser Leben schlagartig ändert.
In all unserer Traurigkeit müssen wir an alle diejenigen denken, denen durch
dieses Erdbeben nichts mehr blieb und die auch noch geliebte Menschen verloren
haben.
Das Dach unseres Hauses ist nicht eingestürzt, die Mauern stehen zum großen Teil
noch, - vielleicht gibt es ja noch Hoffnung.
Eine neue Nacht bricht herein und für uns geht ein langer anstrengender Tag zu
Ende.
Wieder ist es der Vollmond, der alles mit seinen langen Schatten in eine gespenstische
Kulisse taucht …
Die Erde ist nicht zur Ruhe gekommen und hat uns mit ständigen Nachbeben
weiterhin in Angst und Schrecken gehalten.
Wir haben uns mit einer Matratze im Garten installiert und schlafen unter freiem
Himmel.
Ich schaue zum Himmel, beobachte den Mond und die Sterne, die wie immer ihre
Bahnen ziehen, als wäre nichts geschehen und erinnere mich an die vielen
Geschichten, die mir mein Vater in der Kindheit erzählte. Wie sehr er mich
begeisterte, mit seinen Erklärungen über das Weltall, - durch das wir mit einer
riesigen Geschwindigkeit rasen, und Sterne, die wir noch sehen können, schon
lange nicht mehr existieren. Es waren die Zusammenhänge des Mondes mit dem
Wasser und der Erdanziehungskraft und viele andere Geschichten, die mir als
Kind so faszinierend und unglaublich erschienen.
Am meisten liebte ich seine Beschreibungen der Sternbilder. Die Venus, Jupiter
und Orion in Verbindung mit dem Mond, der Kleine und Große Wagen, der Löwe,
die drei Marias und viele andere mehr.
Das Kreuz des Südens, an dem sich die Seefahrer orientierten, einmal zu sehen,
wurde zu einem kindlichen Abenteuertraum.
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Diese Nacht unter freiem Himmel, mit dem Blick zu den Sternen, über uns der
Vollmond und weiter unten das Kreuz des Südens, ließ mich das Abenteuer
meines Lebens erkennen und die unverständliche Größe dieser Welt, in der wir
uns bewegen.