metaphorik.de 33/2023

point fort: 

Narrative und Metaphern zur Nachhaltigkeit / Narratives and Metaphors on and around Sustainability
Préface
Redaktion Vorwort / Preface
Article
Penz, Hermine Sprache und Ökologie: Von ökokritischer Diskursanalyse zu Digital Storytelling im Sprachunterricht
Wehrheim, Monika Ernährt ihr euch von diesem Gold? − Ressourcenraub versus Nachhaltigkeit als Thema kolonialzeitlicher Amerika- Chroniken1
Schmidt, Elmar Umweltrisiken und Nachhaltigkeitsnarrative im peruanischen Comic
Scheitza, Jan, Visser, Judith „Contagiare le persone tramite la potenza delle note e delle parole”? Zum Potential von Musikvideos für die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit im Italienischunterricht
Stetter, Julia Klimanarrative für den Literaturunterricht: Saci Lloyds Jugendroman The Carbon Diaries und seine Erzählungen im Gattungskontext der Dystopie
Susteck, Sebastian Unmögliche Idylle. Narrative der Nachhaltigkeit und der Entwicklung in B. Travens Erdölroman Die Weiße Rose und ihre Erschließung im Deutschunterricht
Hoiß, Christian Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht. Auf Spurensuche nach dem sprachdidaktischen Potenzial einer Metapher
Meer, Dorothee GRÜN-OHR HASE – Green Clean – KLIMAPOSITIV – Metaphern und Narrative der Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung auf Instagram1
Osthus, Dietmar patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté? – Konkurrierende Narrative und Konzeptualisierungen in der französischen Debatte um die Stopfleberproduktion
Bartosch, Roman Scale, Latency, Entanglement: Wege zur Klimakompetenz durch kreative Kommunikationen

Herausgeberteam – Editorial Staff – Équipe éditoriale
Martin Döring / Olaf Jäkel / Dorothee Meer / Katrin Mutz /
Dietmar Osthus / Claudia Polzin-Haumann / Sebastian Susteck / Judith Visser
ISSN 1618-2006 (Internet)
ISSN 1865-0716 (Print)

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Vorwort / Preface

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Vorwort

Der vorliegende Sammelband ist aus einer gleichnamigen Tagung, die am 7. und 8. Oktober 2021 im digitalen Format an der Ruhr-Universität Bochum stattfand, hervorgegangen. Die Veranstaltung, die von Dorothee Meer (germanistische Sprachdidaktik), Sebastian Susteck (germanistische Literaturdidaktik) und Judith Visser (Didaktik der romanischen Sprachen) ausgerichtet wurde, bot Raum für die interdisziplinäre Diskussion von Nachhaltigkeit aus unterschiedlichen fachlichen und disziplinären Perspektiven.

Die Aktualität des Stichwortes Nachhaltigkeit, das sich im Titel dieses Sonderbandes verbirgt, ist offensichtlich: Die Menge an alarmierenden Meldungen über weltweite Überschwemmungen z.B. in Pakistan, auftauenden Permafrostböden in Sibirien, abschmelzenden Gletschern und Polkappen, Waldbränden in Europa oder des Verlustes von Tier- und Pflanzenarten weltweit ist ebenso evident wie beängstigend. Aus dieser Entwicklung ergibt sich für den schulischen Unterricht die Notwendigkeit, den Themenbereich der Nachhaltigkeit aufzugreifen und zu durchdenken. In Anbetracht der Tatsache, dass menschliche Wahrnehmung und Kommunikation über Natur in einem reziproken Verhältnis stehen, stellen sich die folgenden wichtigen Fragen: Wie wird über Nachhaltigkeit kommuniziert? Welche Vorstellungen verbergen sich dahinter? Und wie beeinflusst das Sprechen über Umweltherausforderungen möglicherweise die sich bietenden Handlungsoptionen? Entsprechende Anschlussperspektiven auf der Ebene der Inhalte und Lernziele müssen entwickelt werden, da die Rolle von Sprache für Entwicklung von Nachhaltigkeit bisher unterschätzt wurde: Der Sprachunterricht wird damit zu einem wichtigen Element im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung. [...]

 

Preface
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This anthology is the result of a conference of the same name, which took place in digital format at the Ruhr University Bochum on 7 and 8 October 2021. The event was organised by Dorothee Meer (German language didactics), Sebastian Susteck (German literature didactics) and Judith Visser (didactics of Romance languages). It provided a venue for the interdisciplinary discussion of
sustainability from the perspective of various subjects and academic disciplines.

The topicality of the keyword sustainability, as contained in the title of this special issue, is obvious: The sheer number of alarming reports about worldwide floods, e.g., in Pakistan, thawing permafrost in Siberia, melting glaciers and polar caps, forest fires in Europe or the loss of animal and plant species worldwide is as evident as it is frightening. These developments make it necessary for school lessons to take up and think through the topic of sustainability. Considering the fact that human perception and communication about nature are in a reciprocal relationship, the following important questions arise: How is sustainability communicated? What ideas are hidden behind it? And how does talking about environmental challenges influence available options for taking action? Classroom content and learning objectives need to tie in and further develop these thoughts, as the role of language for sustainability development has been long underestimated: This makes language teaching an important element in the context of Education for Sustainable Development. [...]



 

 

Ausgabe: 

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Jahrgang: 

Seite 7

7
Vorwort
Der vorliegende Sammelband ist aus einer gleichnamigen Tagung, die am
7. und 8. Oktober 2021 im digitalen Format an der Ruhr-Universität Bochum
stattfand, hervorgegangen. Die Veranstaltung, die von Dorothee Meer (germanistische
Sprachdidaktik), Sebastian Susteck (germanistische Literaturdidaktik)
und Judith Visser (Didaktik der romanischen Sprachen) ausgerichtet wurde, bot
Raum für die interdisziplinäre Diskussion von Nachhaltigkeit aus unterschiedlichen
fachlichen und disziplinären Perspektiven.
Die Aktualität des Stichwortes Nachhaltigkeit, das sich im Titel dieses Sonderbandes
verbirgt, ist offensichtlich: Die Menge an alarmierenden Meldungen
über weltweite Überschwemmungen z.B. in Pakistan, auftauenden Permafrostböden
in Sibirien, abschmelzenden Gletschern und Polkappen, Waldbränden in
Europa oder des Verlustes von Tier- und Pflanzenarten weltweit ist ebenso
evident wie beängstigend. Aus dieser Entwicklung ergibt sich für den
schulischen Unterricht die Notwendigkeit, den Themenbereich der Nachhaltigkeit
aufzugreifen und zu durchdenken. In Anbetracht der Tatsache, dass
menschliche Wahrnehmung und Kommunikation über Natur in einem
reziproken Verhältnis stehen, stellen sich die folgenden wichtigen Fragen: Wie
wird über Nachhaltigkeit kommuniziert? Welche Vorstellungen verbergen sich
dahinter? Und wie beeinflusst das Sprechen über Umweltherausforderungen
möglicherweise die sich bietenden Handlungsoptionen? Entsprechende Anschlussperspektiven
auf der Ebene der Inhalte und Lernziele müssen entwickelt
werden, da die Rolle von Sprache für Entwicklung von Nachhaltigkeit bisher
unterschätzt wurde: Der Sprachunterricht wird damit zu einem wichtigen
Element im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Ziel des Symposiums war es, mit Blick auf den Unterricht in schulischen
Sprachfächern Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit aus sprachlich-analytischer
und aus handlungstheoretischer Perspektive mit Wissenschaftler*innen
unterschiedlicher philologischer Disziplinen zu diskutieren. Eingeladen
wurden vor diesem Hintergrund Fachwissenschaftler*innen ebenso wie Fachdidaktiker*
innen.
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Im Rahmen des Symposiums wurden zwei Kernbegriffe des schulischen
Sprachunterrichts, der des Narrativs und der Metapher, im Kontext von Nachhaltigkeit
in den Blick genommen. Auch wenn die Beschäftigung mit narrativen
Strukturen und metaphorischen Formen des Sprechens und Schreibens nicht
neu ist, so stellt deren Nutzung für drängende (lebensweltliche) Probleme von
Lehrer*innen und Schüler*innen keineswegs eine etablierte Form der Konstituierung
schulischer Gegenstände dar: Die Dringlichkeit des Problems der
nachhaltigen Umgestaltung der Lebenswelt kann zwar nicht allein mit guten
Argumenten bestritten werden, doch sind weder die metaphorisch und narrativ
strukturierten Wege zur Problemlösung banal, noch liegen empirische Analysen
hinsichtlich der relevanten diskursiven Gegenstände bisher in einem umfassenden
Maße vor. Angesichts dieser Situation traten Expert*innen sowohl aus
dem Bereich der Fachwissenschaft (mit Schwerpunkten etwa in der Diskursanalyse,
des Ecocriticisms, der Ökolinguistik) als auch aus dem Bereich der
Fachdidaktiken (z. B. aus dem Bereich Bildung für nachhaltige Entwicklung) in
einen Austausch, der sich aus theoretischer, empirisch-analytischer und
didaktisch-handlungsorientierter Perspektive mit Narrativen und Metaphern
aus dem Bereich der Nachhaltigkeit im und für den schulischen Sprachunterricht
befasste. Die vorliegenden Tagungsakten dokumentieren diesen Prozess
sowie die Ergebnisse des Symposiums.
Den Band einleitend befasst sich Hermine Penz in ihrem Beitrag „Sprache und
Ökologie: Von ökokritischer Diskursanalyse zu Digital Storytelling im Sprachunterricht“
sowohl mit der Rolle der Sprache in der Entstehung, als auch mit
deren Funktion in der Bewältigung von Umweltproblemen. Hierbei legt sie den
Fokus auf die ‘lebenserhaltenden‘ Beziehungen zwischen Mensch, Sprache,
Umwelt und Lebewesen. Aufbauend auf einem literaturgestützten Einblick in
die ökologische Sprachkritik und ökokritische Diskursanalyse diskutiert sie
exemplarisch anhand einer Debatte über die Errichtung eines Wasserkraftwerkes
im Stadtgebiet von Graz, wie der Nachhaltigkeitsdiskurs von Befürwortern
und Gegnern jeweils strategisch eingesetzt wird. Hieran anschließend zeigt
sie mit Hilfe der Methode des Digital Storytelling, wie es im Rahmen von
hochschulischen Lehrveranstaltungen gelingen kann, Lernenden die Möglichkeit
zu eröffnen, ihre Sicht auf eine Umweltproblematik in Form von kurzen
persönlichen digitalen Geschichten zu entwickeln, um Impulse für mehr
Handlungsorientierung im Sinne eines nachhaltigeren Lebens zu entwickeln.
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Bei der Suche nach nachhaltigen Lebensformen scheint auch der Blick auf
indigene Kulturen Lateinamerikas vielversprechend die, beispielsweise mit
dem Konzept des Buen Vivir, eine Alternative zum westlich-kolonialen Umgang
mit ‘natürlichen Ressourcen‘ zu bieten scheinen. Monika Wehrheim zeigt an
ihrem Beitrag „Ernährt ihr euch von diesem Gold? – Ressourcenraub versus
Nachhaltigkeit als Thema kolonialzeitlicher Amerika-Chroniken“, dass die
Frage nach einem verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen schon in
kolonialzeitlichen Chroniken gestellt wurde. Im Hinblick auf die in Lehrplänen
geforderte Auseinandersetzung mit den Auswirkungen historischer Ereignisse
auf heutige gesellschaftliche Herausforderungen bilden Kolonialchroniken –
hier Lateinamerikas – damit eine auf den ersten Blick durchaus ungewöhnliche,
gleichzeitig aber sehr eindrückliche Textgrundlage für die Beschäftigung mit
Narrativen und Metaphern der Nachhaltigkeit.
Am Genre des Comics und der Karikatur untersucht Elmar Schmidt in seinem
Beitrag „Umweltrisiken und Nachhaltigkeitsnarrative im peruanischen
Comic“, wie sich peruanische Autoren kritisch mit ökologischen Themen auseinandersetzen.
Dabei rückt die Symbolik der bildlichen Darstellungen ebenso
in den Blick, wie die gegenwartsbezogene und historische Dimension der
Auseinandersetzung. Die Textsorte Comic besitzt das Potenzial, Schüler*innen
in ihrem Leseverhalten stärker anzusprechen, während die Kopplung des Leseund
Sehverstehens dafür sensibilisiert, dass sich Metaphern und Narrative
keineswegs nur auf sprachlicher Ebene manifestieren.
Jan Scheitza und Judith Visser erweitern die Perspektive auf das bewegte Bild
und den Ton. Sie setzen sich in ihrem Beitrag „‘Contagiare le persone tramite la
potenza delle note e delle parole‘? Das Potenzial von Musikvideos für die
Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit im Italienischunterricht“ mit der
Herausforderung auseinander, Umweltthemen und Metaphern der Nachhaltigkeit
mit einer Gruppe Lernender zu bearbeiten, die sich sprachlich auf einem
Anfängerniveau befinden. An Metaphern reiche Musikvideos werden als
möglicher, die Multimodalität des Produkts ausnutzender Ansatz diskutiert,
eine den sprachlichen Fähigkeiten angemessene Auseinandersetzung mit dem
Gegenstand Nachhaltigkeit vorzunehmen.
In der Kinder- und Jugendliteratur erfreuen sich ökologische Dystopien zunehmender
Beliebtheit. Dass diese Textgattung im Kontext der Nachhaltigkeit eine
nicht zu unterschätzende didaktische Herausforderung darstellt, zeigt der
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Beitrag von Julia Stetter. Am Beispiel von Saci Lloyds Roman The Carbon Diaries
demonstriert Stetter nicht nur, was ökologische Dystopien gegenüber politischen
Dystopien auszeichnet. Sie arbeitet auch eine Ambivalenz heraus, die
zutage tritt, wenn ökologische Dystopien einerseits das Nachhaltigkeitsbewusstsein
schärfen, aber andererseits typische Coming-of-Age-Narrative
verfolgen, was durchaus von ökologischen Themen ablenken kann.
Probleme ökologischer Nachhaltigkeit sind wesentlich Probleme der Energieversorgung.
Wie Sebastian Sustecks Beitrag „Unmögliche Idylle. Narrative der
Nachhaltigkeit und der Entwicklung in B. Travens Erdölroman Die Weiße Rose
und ihre Erschließung im Deutschunterricht“ argumentiert, stehen sie damit im
Kontext der fossilen Moderne. Als eine Zeit, die mit Chancen und Problemen
der fossilen Revolution stark beschäftigt war, bieten sich dem Deutsch- und
Literaturunterricht die Zwischenkriegsjahrzehnte der 1920er und 30er Jahre an.
Der Beitrag gibt einen systematischen und historischen Einblick in die Zusammenhänge
und analysiert B. Travens Modernisierungs- und Erdölnarrative des
in Mexiko spielenden Romans. Dabei zeigt sich, dass Traven sich nicht mit
einem dyadischen Narrativ von indigener Subsistenzwirtschaft und ökologischer
Zerstörung begnügt. Vielmehr wird zwar solch eine Zerstörung beklagt,
aber dennoch wird, unter Rückgriff auf Marx’sche und Engel’sche Vorstellungen,
ein positives Bild der Erdölmoderne gezeichnet. Vor diesem Hintergrund
werden dann konkrete Vorschläge für den Deutschunterricht entwickelt.
Christian Hoiss geht es unter dem Titel „Der ökologische Fußabdruck im
Deutschunterricht. Auf Spurensuche nach dem sprachdidaktischen Potenzial
einer Metapher“ darum, am Beispiel des ökologischen Fußabdrucks aufzuzeigen,
dass dieses Konzept einerseits als Messinstrument dazu beitragen kann,
wie individuelle und kollektive Lebensstile die Erde langfristig positiv oder
negativ beeinflussen. Insoweit stellt Hoiss heraus, dass der ökologische Fußabdruck
im öffentlichen Diskurs zum allgemein anerkannten Indikator für
nachhaltiges Handeln avanciert, der z.B. in Medien und Bildung rege aufgegriffen
wird, um individuelle und kollektive Reflexionsprozesse anzustoßen.
Andererseits verdeutlicht er aber auch, dass sich hinter der Metapher eine
Vielzahl kognitiver Strukturen und normativer Implikationen verbirgt, die in
der Regel unreflektiert bleiben. Neben einer Analyse der Metaphorik des
ökologischen Fußabdrucks und einer kulturwissenschaftlichen Kritik zeigt der
11
Beitrag Wege auf, wie in diesem Kontext sprachliche Lern- und Reflexionsprozesse
initiiert werden können.
Mit Narrativen und Metaphern im Bereich der hypermedialen Lebensmittelwerbung
beschäftigt sich der anschließende Artikel von Dorothee Meer
mit dem Titel „GRÜN-OHR HASE – Green Clean – KLIMAPOSITIV – Metaphern
und Narrative der Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung auf Instagram“.
Auf der Basis einer empirischen Studie zu 200 Instagramposts von vier
Accounts des Lebensmittelbereichs geht Meer der Frage nach, welches Potenzial
die Befunde dieser Studie für die Behandlung von Fragen der Nachhaltigkeit
im Deutschunterricht (vorrangig der Jahrgangstufe 9) eröffnen. Dabei stellt
sie zum einen heraus, dass die Konzentration auf Fragen der multimodalen
Konstruktion nachhaltiger Werbewelten analytische Erkenntnisse hinsichtlich
einer Textsorte aus dem Lebensbereich der Schüler*innen (Instagramposts)
ermöglicht. Zum andern unterstützt diese Analysearbeit aber auch die Fähigkeit
der Schüler*innen, fachspezifische Handlungskompetenzen zu entwickeln.
Dietmar Osthus („patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
– Metaphorische Konzeptualisierungen und konkurrierende Argumentationsstrategien
in der französischen Debatte um die Stopfleberproduktion“) setzt
sich unter Nachhaltigkeitsaspekten mit französischem Brauchtum in Gestalt der
weihnachtlichen Stopfleber auseinander. Er zeigt an den argumentativen Strategien
von Befürworter*innen und Gegner*innen der Stopfleberproduktion, wie
unterschiedliche metaphorische Konzeptualisierungen einen Beitrag dazu
leisten können, bestimmte Praktiken als ‘natürlich‘ zu rahmen.
Im abschließenden Beitrag „Kreative Kommunikationen“ und nachhaltige
Narrative: Scale, Latency, Entanglements“ von Roman Bartosch geht es um die
Notwendigkeit und Herausforderung kreativer Kommunikation. Bartosch
problematisiert die rein instrumentelle Vorstellung nachhaltigkeitsorientierter
literacy-Konzepte, die im Wesentlichen klimawissenschaftliche Fakten und
klimaschonende Einstellungen und Handlungsmuster vermitteln möchten.
Anhand der Begriffe des Narrativs und der Metapher entwickelt der Beitrag
einen alternativen literaturdidaktischen Zugang, der es erlaubt, kreative
Erzählformen in nachhaltigkeitsbildende Kontexte zu integrieren. Spezifisch
fokussiert er auf immer wieder genannte narrative sowie kognitiv-analytische
Herausforderungen des Klimawandels, die mit Ausmaß (scale), Latenz (latency)
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und der komplexen Verquickung unterschiedlichster Elemente des menschlichen
und nichtmenschlichen Lebens (entanglements) umschrieben werden
können.
Wir danken Katharina Bary für Ihre Unterstützung bei der Durchführung der
digitalen Tagung und bei der Koordination der Beiträge. Unser Dank gilt auch
Kerstin Sterkel für die wie immer herausragende Unterstützung bei der Erstellung
der Druckvorlagen und dem Wehrhahn Verlag für die Publikation der
Druckausgabe.
Bochum, Bremen, Duisburg-Essen, Flensburg, Hamburg und Saarbrücken
Dorothee Meer, Sebastian Susteck, Judith Visser
Martin Döring
Olaf Jäkel
Katrin Mutz
Dietmar Osthus
Claudia Polzin-Haumann

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Preface
This anthology is the result of a conference of the same name, which took place
in digital format at the Ruhr University Bochum on 7 and 8 October 2021. The
event was organised by Dorothee Meer (German language didactics), Sebastian
Susteck (German literature didactics) and Judith Visser (didactics of Romance
languages). It provided a venue for the interdisciplinary discussion of
sustainability from the perspective of various subjects and academic disciplines.
The topicality of the keyword sustainability, as contained in the title of this
special issue, is obvious: The sheer number of alarming reports about
worldwide floods, e.g., in Pakistan, thawing permafrost in Siberia, melting
glaciers and polar caps, forest fires in Europe or the loss of animal and plant
species worldwide is as evident as it is frightening. These developments make
it necessary for school lessons to take up and think through the topic of
sustainability. Considering the fact that human perception and communication
about nature are in a reciprocal relationship, the following important questions
arise: How is sustainability communicated? What ideas are hidden behind it?
And how does talking about environmental challenges influence available
options for taking action? Classroom content and learning objectives need to tie
in and further develop these thoughts, as the role of language for sustainability
development has been long underestimated: This makes language teaching an
important element in the context of Education for Sustainable Development.
The aim of the symposium was to discuss questions of ecological sustainability
from a perspective of linguistic analysis as well as based in a theory of action
together with researchers from different philological disciplines. With that
reasoning, academic experts and didactitians in the various disciplines were
invited.
The symposium examined two core concepts of language teaching in schools,
narrative and metaphor, in the context of sustainability. The exploration of
narrative structures and metaphorical forms of speaking and writing may not
be new, but using them for pressing (real-world) problems of teachers and
students is by no means an established form of constituting classroom subject
matter: Solid arguments are not enough to convey how urgent the need for a
sustainable transformation of our lived world is. That said, metaphorically and
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narratively structured approaches to taking on this problem are neither banal,
nor have there been comprehensive empirical analyses regarding the relevant
discursive objects until now. Against this background, researchers from various
academic fields (with a focus on discourse analysis, ecocriticism and ecolinguistics)
and from the field of didactics (e.g. Education for Sustainable
Development) met to discuss sustainability narratives and metaphors within
and for language teaching in schools from theoretical, empirical-analytical and
didactics-action-oriented angles. These conference proceedings document the
process as well as the results of the symposium.
In the first contribution to the volume, titled “Language and Ecology: From
Ecocritical Discourse Analysis to Digital Storytelling in the Language
Classroom”, Hermine Penz examines both the role of language in the
development of environmental problems and its function in overcoming them.
She focuses on “life-sustaining” relationships between humanity, language, the
environment and living things. Starting with a literature-based analysis of
ecological linguistic criticism and ecocritical discourse analysis, she uses the
debate on the construction of a hydroelectric power plant in the Austrian city of
Graz to discuss how proponents and opponents strategically employed
sustainability discourse. She then applies the method of digital storytelling,
showing how teaching within higher education can enable students to develop
their view of an environmental problem in the form of short personal digital
stories to inspire people to take more action for a more sustainable life.
When searching for sustainable ways of life, it seems promising to look at
indigenous cultures in Latin America whose concept of Buen Vivir (as one
example) seems to offer an alternative to the Western-colonial approach to
natural resources. Monika Wehrheim’s contribution “Can You Eat that Gold? –
The Theft of Natural Resources Versus Sustainability as an Issue in Colonial
Chronicles of America“ shows that the question of a responsible use of
resources was already being raised in colonial chronicles. Examining the effects
of historical events on today’s social challenges is mandatory in modern
curricula. Colonial chronicles – in this case from Latin America - form a textual
basis for dealing with narratives and metaphors of sustainability that is at first
glance quite unusual but at the same time quite compelling.
In his article “Environmental Risks and Sustainability Narratives in Peruvian
Comics”, Elmar Schmidt uses the genre of comics and caricatures to examine
15
how Peruvian authors deal critically with ecological issues. He focuses on the
symbolism of the pictorial representations as well as on the contemporary and
historical dimensions of the debate. Comics as a text type have the potential to
address students more strongly in their reading behaviour, while the combination
of reading and visual comprehension sensitises them to the fact that
metaphors and narratives by no means manifest purely on a linguistic level.
Jan Scheitza and Judith Visser broaden the perspective to include moving
images and sound. In their contribution “’Contagiare le persone tramite la
potenza delle note e delle parole’? The Potential of Music Videos for Addressing
Sustainability in the Italian Classroom”, they discuss the challenge of talking
about environmental issues and sustainability metaphors with students who
are beginner language learners. The authors discuss music videos, which can be
rich in metaphor, as a possible approach that provides a linguistically simpler
and more appropriate way of engaging with the subject of sustainability by
exploiting videos’ multimodality.
Ecological dystopias are becoming increasingly popular in children’s and youth
literature. Julia Stetter’s paper shows that this text genre presents a didactic
challenge in the context of sustainability that should not be underestimated.
Using Saci Lloyd’s novel The Carbon Diaries as an example, Stetter demonstrates
not only what distinguishes ecological from political dystopias, she also teases
out an ambivalence that emerges when ecological dystopias raise sustainability
awareness on the one hand but pursue typical coming-of-age narratives on the
other hand – something that can certainly distract from ecological issues.
Problems of ecological sustainability are to a significant extent problems of
energy supply. As Sebastian Susteck’s contribution “Impossible Idyll.
Narratives of Sustainability and Development in B. Traven’s Petroleum Novel
Die Weiße Rose and How It Is Taught in German Lessons” argues, these
problems are situated in the context of fossil-fuel reliant modernity. The
interwar decades of the 1920s and 30s lend themselves to German language and
literature teaching as a period that was heavily preoccupied with the opportunities
and problems of the fossil revolution. Susteck’s article provides a
systematic and historical insight into the context, analysing the modernisation
and petroleum narratives B. Traven wrote into his novel set in Mexico. Susteck
shows that Traven does not content himself with a dyadic narrative of
indigenous subsistence farming and ecological destruction. Rather, although
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deploring such destruction, he nevertheless paints a positive picture of
petroleum modernity, drawing on Marx’s and Engels’s ideas. Against this
background, the author then develops concrete suggestions for German
classroom lessons.
Christian Hoiss’s article “The Ecological Footprint in German Lessons. In Search
of the Language-Didactic Potential of a Metaphor” discusses the example of the
ecological footprint. He shows that this concept can, on the one hand, contribute
as a measuring instrument to how individual and collective lifestyles influence
the earth positively or negatively in the long term. Hoiss points out that the
ecological footprint is advancing in public discourse to become a generally
recognised indicator of sustainable action and is being enthusiastically seized
upon in media and education, for example, to trigger individual and collective
processes of reflection. On the other hand, the concept also illustrates that the
metaphor conceals a multitude of cognitive structures and normative
implications that usually remain unreflected. In addition to this analysis of the
ecological footprint metaphor complete with a critique from a cultural studies
standpoint, the article provides ways of initiating linguistic learning and
processes of reflection within this context.
The next paper by Dorothee Meer, entitled “GRÜN-OHR HASE – Green Clean –
KLIMAPOSITIV - Metaphors and Narratives of Sustainability in Food
Advertising on Instagram”, deals with narratives and metaphors in the field of
hypermedia food advertising. Drawing on an empirical study of 200 Instagram
posts from four food sector accounts, Meer explores the potential that the
findings open up for treating sustainability issues in German lessons (primarily
in Year 9). One thing she points out is that the focus on questions of the
multimodal construction of sustainable advertising worlds enables analytical
insights about a text type from students’ lived experience (Instagram posts). In
addition to that, this analytical work also helps students become more
competent in taking informed action in these matters.
Dietmar Osthus (“patrimoine culturel et gastronomique or épouvantable cruauté? –
Metaphorical Conceptualisation and Competing Argumentation Strategies in
the French Debate about Foie Gras Production”) dissects French customs
surrounding Christmas foie gras from a sustainability perspective. He uses the
argumentative strategies of supporters and opponents of foie gras production
17
to show how different metaphorical conceptualisations can contribute to
framing certain practices as ’natural’.
The final article “Creative Communications and Sustainable Narratives: Scale,
Latency, Entanglements” written by Roman Bartosch deals with the necessity
and challenge of creative communication. Bartosch problematises the purely
instrumental notion of sustainability-oriented literacy concepts, which
essentially want to convey climate science facts, climate-friendly attitudes and
behavioural patterns. Using the concepts of narrative and metaphor, the author
develops an alternative didactic approach to literature that allows creative
narrative forms to be integrated into sustainability education contexts.
Specifically, he focuses on frequently mentioned narrative and cognitiveanalytical
challenges of climate change, which can be described as scale, latency
and the complex entanglement of various elements of human and non-human
life.
We would like to thank Katharina Bary for her support in running the digital
conference and coordinating the articles. Our thanks also go to Kerstin Sterkel
for her outstanding support, as always, in preparing the layout and to
Wehrhahn Verlag for publishing the print edition.
Bochum, Bremen, Duisburg-Essen, Flensburg, Hamburg and Saarbrücken
Dorothee Meer, Sebastian Susteck, Judith Visser
Martin Döring
Olaf Jäkel
Katrin Mutz
Dietmar Osthus
Claudia Polzin-Haumann

 

Sprache und Ökologie: Von ökokritischer Diskursanalyse zu Digital Storytelling im Sprachunterricht

Hermine Penz

Universität Graz (hermine.penz@uni-graz.at)

Abstract

Die Ökolinguistik befasst sich mit der Rolle der Sprache in der Entstehung aber auch der Bewältigung von Umweltproblemen (Fill 1993). Stibbe (2015) legt den Fokus der Ökolinguistik auf die ‘lebenserhaltenden‘ Beziehungen zwischen Mensch, Umwelt und allen Lebewesen.

Der vorliegende Beitrag gibt einen kurzen Einblick in die ökologische Sprachkritik und ökokritische Diskursanalyse und diskutiert deren Anwendung auf unterschiedliche Bereiche des Umweltdiskurses. Anhand eines Beispiels um die Debatte zur Errichtung eines Wasserkraftwerkes im Bereich der Stadt Graz wird demonstriert, wie der Nachhaltigkeitsdiskurs von Befürwortern und Gegnern eingesetzt wird, um ihre jeweiligen Positionen zu vertreten und ihre Ziele zu erreichen. Zusätzlich wird die Methode des Digital Storytelling vorgestellt, die den Lernenden die Möglichkeit eröffnet, ihre Sicht auf die Umwelt in Form von kurzen persönlichen digitalen Geschichten zu präsentieren und Impulse für mehr Handlungsorientierung im Sinne eines nachhaltigeren Lebens zu bieten.

Ecolinguistics deals with the role of language in creating and solving environmental problems (Fill 1993). In his approach to ecolinguistics, Stibbe (2015) emphasizes the life-sustaining relations between humans, environment and all other beings. This contribution provides a brief insight into ecological discourse analysis and eco-critical analysis, in particular, and discusses its application to environmental discourses. The debate on the construction of a hydro-electric power plant in the south of the city of Graz serves as an example of how the discourse of sustainability is used both by the proponents and opponents of the project in order to present their positions and to achieve their goals. In addition, the method of digital storytelling (DS) is introduced to allow learners to present their views on the environment in the form of short and personal digital stories. This method serves to offer a more actionoriented approach to students in their learning environment and in achieving a more sustainable life.

Ausgabe: 

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Jahrgang: 

Seite 19

19
Sprache und Ökologie: Von ökokritischer Diskursanalyse zu
Digital Storytelling im Sprachunterricht
Hermine Penz, Universität Graz (hermine.penz@uni-graz.at)
Abstract
Die Ökolinguistik befasst sich mit der Rolle der Sprache in der Entstehung aber auch der
Bewältigung von Umweltproblemen (Fill 1993). Stibbe (2015) legt den Fokus der Ökolinguistik
auf die ‘lebenserhaltenden‘ Beziehungen zwischen Mensch, Umwelt und allen Lebewesen.
Der vorliegende Beitrag gibt einen kurzen Einblick in die ökologische Sprachkritik und
ökokritische Diskursanalyse und diskutiert deren Anwendung auf unterschiedliche Bereiche
des Umweltdiskurses. Anhand eines Beispiels um die Debatte zur Errichtung eines
Wasserkraftwerkes im Bereich der Stadt Graz wird demonstriert, wie der Nachhaltigkeitsdiskurs
von Befürwortern und Gegnern eingesetzt wird, um ihre jeweiligen Positionen zu
vertreten und ihre Ziele zu erreichen. Zusätzlich wird die Methode des Digital Storytelling
vorgestellt, die den Lernenden die Möglichkeit eröffnet, ihre Sicht auf die Umwelt in Form
von kurzen persönlichen digitalen Geschichten zu präsentieren und Impulse für mehr
Handlungsorientierung im Sinne eines nachhaltigeren Lebens zu bieten.
Ecolinguistics deals with the role of language in creating and solving environmental problems
(Fill 1993). In his approach to ecolinguistics, Stibbe (2015) emphasizes the life-sustaining
relations between humans, environment and all other beings. This contribution provides a
brief insight into ecological discourse analysis and eco-critical analysis, in particular, and
discusses its application to environmental discourses. The debate on the construction of a
hydro-electric power plant in the south of the city of Graz serves as an example of how the
discourse of sustainability is used both by the proponents and opponents of the project in
order to present their positions and to achieve their goals. In addition, the method of digital
storytelling (DS) is introduced to allow learners to present their views on the environment in
the form of short and personal digital stories. This method serves to offer a more actionoriented
approach to students in their learning environment and in achieving a more
sustainable life.
1. Einleitung
Das Thema Nachhaltigkeit hat seit einigen Jahren Einzug in die Lehrpläne an
Schulen gefunden. Unter anderem hat das österreichische Bundesministerium
für Wissenschaft und Forschung1 im Jahr 2013 bereits ein „Grundsatzpapier zur
Bildung für Nachhaltige Entwicklung in der PädagogInnenbildung Neu“
1 Das zuständige Ministerium wird immer unter dem Namen angeführt, der zum Zeitpunkt
des Erscheinens der jeweiligen Publikationen aktuell war. Der Bereich Bildung war teilweise
in einem eigenen Ministerium beheimatet, vorübergehend mit den Angelegenheiten für
Frauen zusammengelegt und ist derzeit in einem gemeinsamen Ministerium für Bildung und
Forschung angesiedelt.
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20
erstellt und in der Folge einen „Grundsatzerlass Umweltbildung für
nachhaltige Entwicklung“ (BMBF 2014) veröffentlicht. Laut diesem fördert
Umweltbildung „den Erwerb von Kompetenzen, um die natürlichen Lebensgrundlagen
und Ressourcen in ihrer Begrenztheit zu verstehen und Umwelt
und Gesellschaft vorausschauend, solidarisch und verantwortungsvoll mitzugestalten“
(BMBF 2014: 2). Da es sich hier um ein Unterrichtsprinzip handelt, ist
es fächerübergreifend, jedoch scheinen die sprachlichen Fächer nicht in den
Unterrichtsbeispielen auf, die in den „Kompetenzen von Pädagoginnen und
Pädagogen zur Umweltbildung für nachhaltige Entwicklung“ des BMBWF
2019 als Beispiel angeführt werden.
Die Ökolinguistik ist eine Disziplin, welche die Beziehungen zwischen Sprache
und Umwelt erforscht. Dieser Zweig der Sprachwissenschaft erscheint aus
diesem Grund besonders geeignet, das Unterrichtsprinzip Bildung für nachhaltige
Entwicklung im Unterricht für sprachliche Fächer umzusetzen. Schon in
den frühen 1990er Jahren hat die Ökolinguistik festgestellt, dass unsere Sprache
und deren Verwendung Umweltprobleme verschärfen bzw. zu deren Lösung
beitragen kann (siehe Halliday 1990; Fill 1993, 1998). Der aktuelle Beitrag gibt
einen kurzen Einblick in die Ökolinguistik, insbesondere in die ökologische
Sprachkritik und ökokritische Diskursanalyse, und zeigt deren Anwendung auf
den Umweltdiskurs. Als Beispiel für eine ökokritische Diskursanalyse dient die
Debatte um die Errichtung eines Wasserkraftwerkes am Murfluss im Stadtgebiet
von Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs. Zusätzlich wird die
Methode des Digital Storytelling vorgestellt und deren Anwendung im Unterricht
veranschaulicht. Dieser innovative Ansatz erlaubt es den Lernenden, ihre
persönliche Perspektive zum gewählten Thema einzubringen und verstärkt
somit den Aspekt des eigenen Handelns. Abschließend werden Vorschläge für
eine Ausweitung des Projekts gemacht und Schlussfolgerungen im Sinne einer
Bildung für nachhaltige Entwicklung gezogen.
2. Ökolinguistik − Ökokritische Diskursanalyse
Der Konnex zwischen Sprache und Ökologie wurde bereits vor ca. 50 Jahren
vom norwegisch-amerikanischen Sprachwissenschaftler Einar Haugen hergestellt,
indem er die Ökologiemetapher auf Sprache anwendete. Haugen
definiert die Ökolinguistik als „the study of the interactions between any given
language and its environment” (Haugen 1972: 325). Unter Umwelt versteht
Penz: Sprache und Ökologie
21
Haugen die soziale und psychologische Umgebung von Sprache(n), d.h. die
Gesellschaft, die diese Sprache verwendet, aber auch die Interaktion mehrerer
Sprachen im Gehirn mehrsprachiger Menschen. Diese Definition der Ökolinguistik
wurde insbesondere während der 1980er Jahre – aber auch bis heute –
auf den Bereich der Mehrsprachigkeit und des Sprachkontakts sowie der
Erhaltung von regionalen Sprachen angewendet und bildet einen der drei
Forschungsstränge, die in der Ökolinguistik konstatiert wurden (Fill 1998). Der
Bereich der ökologischen Linguistik wendet die analytischen Konzepte der
Ökologie auf die Sprache an und findet sich in der ökosystemischen Sprachwissenschaft
von Trampe (1990) aber auch der entsprechenden brasilianischen
Ausprägung von Couto (2018).
Eine weitere – und besonders einflussreiche - Ausrichtung der Ökolinguistik
wurde von Hallidays (1990) Vortrag bei der Internationalen Tagung der Angewandten
Linguistik (AILA) in Tessaloniki initiiert. Diese befasst sich mit der
Rolle der Sprache in der Entstehung, aber auch der Bewältigung von Umweltproblemen.
Halliday betonte den Beitrag der Sprache in der Entstehung und
Aufrechterhaltung von Ideologien, wie dem Wachstumsdenken, dem Anthropozentrismus,
dem Klassendenken, etc. und wies darauf hin, dass die Beschäftigung
mit Umweltproblemen eine zentrale Aufgabe der Angewandten
Linguistik sei. Sein Beitrag gab somit den Anstoß zur Entwicklung der ökokritischen
und ökologischen Diskursanalyse, welche wiederum auf unterschiedliche
Traditionen der Diskursanalyse zurückgreift und mehrere Ausprägungen
entwickelt hat.
Die ökokritische Diskursanalyse untersucht die Rolle der Sprache in der
Beziehung zwischen allen Lebewesen, d.h. Mensch, Tier, Pflanzen, und der
Umwelt. Von ökologischer Diskursanalyse spricht man, wenn der Fokus
zusätzlich auf dem Aspekt der lebenserhaltenden Beziehungen zwischen diesen
Akteuren liegt (Alexander/Stibbe 2014: 1). Untersucht werden dabei sprachliche
Kategorien wie das Lexikon, die Grammatik, aber auch rhetorische Aspekte
(wie die Schaffung von Kontrasten), Metaphern, narrative Strukturen, etc.
2.1. Das Umweltlexikon
Die Wörter einer Sprache sind besonders zugänglich für eine Analyse und
bilden jenen Aspekt der Sprache, der sich am raschesten an soziokulturelle aber
auch ökologische Veränderung anpasst. Daher wurde auch seit den Anfängen
metaphorik.de 33/2023
22
der ökokritischen Diskursanalyse Kritik an Begriffen und deren Aussagekraft
im Bereich der Umweltkommunikation geübt. Diese bezieht sich insbesondere
auf die folgenden drei Bereiche: semantische Vagheit, semantische Unterdifferenzierung
und irreführende Kodierung (Harré et al. 1999; Mühlhäusler 2003).
Semantische Vagheit führt einerseits dazu, dass unterschiedliche Personen
verschiedene Interpretationen haben können. Andrerseits werden semantisch
vage Begriffe genutzt, um mit Sprache zu manipulieren, zu indoktrinieren und
gesellschaftliche Ungleichheiten herzustellen und aufrecht zu erhalten. Als
negatives Beispiel dafür nennt Mühlhäusler (2003: 68) den Begriff sustainability/
Nachhaltigkeit, der sowohl im Sinne einer expansionistischen als auch einer
ökologischen Weltsicht verwendet werden kann. In der ökologischen Sicht
kann er die Vision einer besseren Gesellschaft projizieren, die auf Harmonie,
Wechselwirkungen und einem intrinsischen Wert aller Lebensformen beruht
und als Metapher für unsere Fähigkeit dazu gesehen werden kann, dass wir
unsere politischen, ökonomischen und sozialen Institutionen in diese Richtung
entwickeln können. Im negativen Sinn wird der Begriff eingesetzt, um die
schlimmsten Praktiken des expansionistischen Weltmodells fortzusetzen und
unter dem Schlagwort der Nachhaltigkeit zu verschleiern. Die inflationäre
Verwendung des Begriffs Nachhaltigkeit führt darüber hinaus zu einer
Beliebigkeit in der Bedeutung. Ähnlich verhält es sich mit Wörtern wie natürlich.
Dieses Adjektiv hat in seinen vielen Verwendungszusammenhängen wenig mit
der ursprünglichen Bedeutung zu tun und dient in vielen Fällen nur Werbezwecken.
Die semantische Unterdifferenzierung muss in Bezug dazu gesehen werden,
was Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt wissen oder wissen müssen, d.h.
ob es notwendig ist, genaue Differenzierungen vorzunehmen oder nicht. Der
Begriff Wachstum/growth wurde kritisiert, weil er eine Weltsicht propagiert, in
der Wachstum als erstrebenswert und das Gegenteil als negativ dargestellt wird
(Halliday 1990/2001: 192). Darüber hinaus bezieht er sich auf viele qualitativ
unterschiedliche Phänomene, d.h. natürliches, wirtschaftliches, arithmetisches,
exponentielles, gefährliches, etc. Wachstum, welche sehr unterschiedliche
Bereiche und Bedeutungen umfassen.
Irreführende Kodierung kann entweder historisch zufällig entstanden sein, aber
auch gezielt eingesetzt werden. Als bewusste Irreführung wurden z.B. Wörter
wie fertilizer/Dünger oder herbicide/Pflanzenschutzmittel kritisiert, da sie weder
Penz: Sprache und Ökologie
23
den Boden fruchtbarer machen (auf lange Sicht führen Düngemittel zur Auslaugung
von Böden), noch Pflanzen schützen, sondern alle Lebewesen außer einer
bestimmten Monokultur schädigen bzw. töten (siehe Trampe 1990).
Kritische Betrachtungen des Umweltvokabulars (und von gesamten Diskursen
– siehe 2.3) haben versteckte Ideologien wie Wachstumsdenken, Ausbeutung
der Natur und Gewinnoptimierung auf Kosten der Umwelt aufgedeckt (siehe
u.a. Halliday 1990/2001; Schultz 2001; Alexander 2009).
2.2 Ökologie und Grammatik
Auch grammatikalische Aspekte der Sprache sind und waren Gegenstand der
ökokritischen Diskursanalyse. Dazu zählen Untersuchungen zur Frage, inwiefern
Mensch/Tier/Natur als aktiv oder passiv dargestellt werden (siehe Goatly
1996, 2018; Alexander 2009). Nominalisierungen in der Beziehung zwischen
Mensch und Umwelt stehen ebenfalls im Mittelpunkt der Kritik, da sie häufig
die Rolle der Menschen als AkteurInnen/BeherrscherInnen/NutzerInnen der
Umwelt verschleiern, wie z. B. im Begriff Waldmanagement. Relevant für die
Darstellung der Beziehungen zwischen Menschen, anderen Lebewesen und
Natur ist auch der Einsatz von Pronomen (Mühlhäusler 2003: 90-93). Die
unterschiedliche Verwendung von Pronomen für Menschen, Tiere und
Pflanzen (he/she vs. it) erzeugt eine größere Distanz zu diesen, die sich unter
anderem auch in einem Verlust von Respekt der Natur gegenüber ausdrückt
(siehe Kahn 1992 in Mühlhäusler 2003: 92).
2.3 Ökologie und Diskurs
Auf der diskursiven Ebene lag der Fokus von ökokritischen Studien bisher vor
allem auf Metaphern und der Verwendung von Frames (Deutungsrahmen),
aber auch Narrativen und rhetorischen Strategien. Hier soll nur ein kurzer
Auszug aus der vorhandenen Literatur angeführt werden. Arbeiten zu Naturmetaphern
in den letzten Jahrhunderten finden sich in Harré et al. (1999) und
Verhagen (2008). Letzterer stellt Metaphern, die eher eine anthropozentrische
Weltsicht ausdrücken (Natur als scala naturae mit dem Menschen als der
höchsten Stufe, Natur als MASCHINE) jenen gegenüber, die eine biozentrische
Sicht auf die Welt bieten (Natur als MUTTER, Natur als NETZWERK, Natur als
MAßSTAB). Eine sprachökologisch-diskursive Theorie wird von Döring (2005) in
metaphorik.de 33/2023
24
seiner Studie über Presseberichte zur Oderflut entwickelt, welche die metaphorische
Konstruktion von Natur und Nation in den Mittelpunkt stellt. Illustrativ
sind auch Nerlichs ökologische Analysen von Metaphern, wie etwa ihre Untersuchung
zur Silent Spring Metapher in den britischen Medien (Nerlich 2003)
sowie ihre Arbeiten zu Metaphern im Klimawandeldiskurs (Nerlich/Jaspal
2012). Reisigl (2020) unterstreicht die kommunikative Dimension des Klimawandels
und kritisiert, dass der Begriff des Narrativs in den Sozialwissenschaften
zu weit gefasst ist, um Menschen zu einer Änderung ihres Lebensstils
zu motivieren. Es sei wichtig aufzuzeigen, in welchen Kontexten der Begriff des
Narrativs sinnvoll ist und wo andere Formen des kommunikativen Handelns
wie das Beschreiben, Erklären, Argumentieren und Instruieren relevant sind.
Penz (2022) diskutiert sprachliche Strategien und Interpretationen im Zusammenhang
mit (Un)Sicherheiten im Klimawandeldiskurs. Die Betonung von
(Un-)Sicherheit bildet einen von mehreren Deutungsrahmen, die im Klimawandeldiskurs
identifiziert wurden (Penz 2018). Deutungsrahmen werden vielfach
durch Wörter und Metaphern aktiviert und führen dazu, dass bestimmte
Sichtweisen privilegiert werden. So betonten amerikanische Medien die Unsicherheit
bezüglich der Frage, ob der Klimawandel weitgehend auf menschliches
Handeln zurückzuführen ist, lange Zeit viel zu stark, indem sie
ForscherInnen, die den Klimawandel negierten, ebenso viel Raum gaben, wie
der großen Mehrheit der WissenschaftlerInnen, die den menschlichen Einfluss
auf das Klima als äußerst wahrscheinlich einstuften (Boykoff 2007).
Das Thema Framing steht auch im Mittelpunkt von Alexanders (2009) Arbeit
zum strategischen Framing in der Ölindustrie. Auch Stibbe (2015) befasst sich
mit Metaphern und Framing im Bereich der Klimadebatte, wobei er diese als
Typen von Narrativen sieht, ebenso wie Ideologien oder Evaluierungsstrategien.
Die Verwendung von Wissenschaftsrhetorik in der Umweltkommunikation
wird in Harré et al. (1999) diskutiert. Rhetorische Strategien,
wie die Schaffung von Gegensätzen, werden dort ebenfalls beschrieben.
2.4 Greenwashing und die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit/
Discourse engineering
Die Verharmlosung von umweltschädlichem Verhalten und/oder dessen
Darstellung als umweltfreundlich wird als greenwashing bezeichnet. Hier geht
es vor allem um die Verwendung von Umweltvokabular und -rethorik sowie
Penz: Sprache und Ökologie
25
Bildern von (unberührter) Natur in Werbung und Industrie, um ein umweltfreundliches
Image zu vermitteln (Alexander 2009, 2018; Stöckl/Molnar 2017).
Als Beispiel dazu dient die Verwendung von Wörtern, die positive Assoziationen
hervorrufen. So bevorzugen Firmen, die Gentechnik anwenden, z.B.
Monsanto, den Begriff Biotechnologie statt Genmanipulation (Cook 2005). Umdeutungen
werden etwa von der Firma Coca-Cola verwendet, indem sie die Ausbeutung
der Grundwasserreserven im Sinne von Wasserschutz und Klimaschutz
darstellt. Dies erfolgt u.a. durch positiv assoziierte Wörter wie nachhaltig,
Wasserressourcen, Entwicklung sowie die Verwendung von Euphemismen und
Nominalisierungen (siehe MacDonald 2018).
2.5 Fragestellungen für eine ökokritische Diskursanalyse
Aus den bisherigen Studien lassen sich folgende Fragestellungen für eine ökologische
Diskursanalyse ableiten, die auch im Schulunterricht Anwendung finden
können:
• Wie wird die Beziehung zwischen Menschen, anderen Lebewesen und
Umwelt sprachlich dargestellt?
• Welche Besonderheiten zeigt die Wortwahl: Erderwärmung oder Klimawandel?
Atomenergie oder Kernenergie?
• Wer sind die AkteurInnen in Texten (Mensch/Natur/Tiere)?
• Wer kann/soll/muss handeln (wir als Einzelpersonen, andere, die Wirtschaft,
die Industrie, etc.). Wie werden die AkteurInnen sprachlich dargestellt
(aktiv oder passiv)?
• Welche Metaphern werden verwendet? (z.B. für Klimawandel: Katastrophe
und Untergang, Krieg und Revolution, religiöse Metaphern wie Sintflut)
• Framing: Welche Deutungsrahmen werden geschaffen?
• Was wird gesagt, was wird nicht gesagt?
• Wie interagieren sprachliche und visuelle Kommunikation, d.h. Sprache
und Bild in der Umweltkommunikation?
Die genannten Fragen sind als Impulse für mögliche Fragestellungen
aufzufassen, die in der ökokritischen Analyse von Texten eine Rolle spielen
können. Sie sollen darüber hinaus den Blick für weitere Aspekte der sprachlichen
und visuellen Analyse von Umweltdiskursen schärfen. Eine ökokritische
metaphorik.de 33/2023
26
Diskursanalyse ermöglicht eine kritische Sicht darauf, wie die Beziehung
zwischen Menschen, anderen Lebewesen und ihrer Umwelt in diversen Diskursen
dargestellt und konstruiert wird und schafft somit ein Bewusstsein für
die Rolle, die die Sprache in der Entstehung und Bewältigung von Umweltproblemen
spielen kann. Um jedoch die persönliche Sicht der SchülerInnen und
Studierenden auf diverse Umweltthemen einbringen zu können, wurde als
zusätzliche Methode in meinen Lehrveranstaltungen zur Ökolinguistik/
Sprache und Ökologie die Methode des Digital Storytelling eingesetzt. Das
folgende Kapitel führt zunächst in diese Methode ein. In der Folge werden die
Methoden der kritischen Diskursanalyse und des Digital Storytelling anhand
eines Beispiels illustriert, in dem es um die Errichtung eines Wasserkraftwerks
in der Stadt Graz und den damit verbundenen Diskursen und Auseinandersetzungen
der Kraftwerksbefürworter und -gegner geht. Das Beispiel soll dazu
anregen, Umweltdiskurse aus dem lokalen Umfeld der Lernenden in den
Unterricht einzubinden, einer kritischen Analyse zu unterziehen und Anregungen
für die Entwicklung einer eigenen Perspektive zu geben.
3. Digital Storytelling
Die Methode des ‘Digital Storytelling‘ wurde in den 1990er Jahren entwickelt
und kombiniert mündliches Erzählen mit digitalen Technologien. Das hier
vorgestellte Format wurde vom Story Telling Center in Kalifornien entwickelt,
ursprünglich vor allem in der gemeinnützigen Arbeit in Gemeindezentren
verwendet und hat seither internationale Verbreitung gefunden (siehe Lambert
2013; Lundby 2008). Das Erzählen von Geschichten ist Teil unseres Alltags und
diente seit jeher der Vermittlung von Erlebnissen und Erfahrungen auch im
Schulunterricht. Es ist nicht verwunderlich, dass Erzählen auch im digitalen
Zeitalter nicht an Bedeutung verloren und Eingang in die sozialen Medien
gefunden hat. Der Begriff Digital Story (DS) hat in den letzten Jahren vor allem
durch die steigende Bedeutung der sozialen Medien vielfältige Interpretationen
erfahren. Die Art des Digital Storytelling, die hier vorgestellt wird, hat sich als
erfolgreiches und einfach zu erstellendes Modell erwiesen, das in unterschiedlichsten
Kontexten angewandt werden kann.
Die Methode wird hier nur kurz vorgestellt, genauere Instruktionen für die
Erstellung der Digital Stories können von der Webseite des Erasmus+ Projektes
„My Digital Story (MYSTY)“ (www.mysty.eu) abgerufen werden, die eine
Penz: Sprache und Ökologie
27
genaue Anleitung für Lehrende und SchülerInnen zur Verfügung stellt. Das
Projekt wurde mit SchülerInnen der beteiligten Schulen in Ungarn, Italien,
Österreich und dem Vereinigten Königreich durchgeführt (siehe Gardner et al.
2019; Pölzleitner et al. 2019). Die Methode basiert auf sehr einfachen digitalen
Technologien, die problemlos zu handhaben sind und daher ab dem Volkschulalter
eingesetzt werden können. SchülerInnen oder TeilnehmerInnen erstellen
ein kurzes Video (=digitale Geschichte) in der Länge von 2-5 Minuten, in dem
sie einen Aspekt in ihrem Leben herausgreifen und diesen auf sprachlicher und
medialer Ebene aufbereiten. Das Einbringen der persönlichen Perspektive – oft
auch mit emotionaler Beteiligung – ist elementarer Bestandteil des Digital
Storytelling. Eine Geschichte basiert im Allgemeinen auf 3-5 Bildern, die als
Grundlage für das Verfassen eines schriftlichen Story-Skripts dienen. Die Ideenfindung
startet mit einer gemeinsamen Diskussion, die Feedback zu den jeweiligen
Vorschlägen erlaubt. Die Produktion der Geschichte erfolgt auf Basis der
Bilder, die mit einem Voiceover versehen und mit einfachen Programmen (PPT
Voiceover [Stimmaufnahme + exportieren als Video], Tik Tok, inShot, Com-
Phone Story Maker (Android), Shadow Puppet Edu (IOS) etc.) am Handy oder
Notebook erstellt werden. Ein wesentliches Element ist die Präsentation der
Digital Stories in der Gruppe. Danach können diese auf Internetseiten hochgeladen
und einem breiteren Publikum zur Verfügung gestellt werden, wenn
die AutorInnen der Geschichten dazu ihr Einverständnis erteilen.
4. Das Projekt: Das Murkraftwerk in Graz
Die Debatte um die Errichtung eines Wasserkraftwerkes an der Mur im Bereich
der Stadt Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, bildet die Grundlage für das
folgende Projekt. Dieses dient als Beispiel dafür, wie aktuelle Umweltdiskurse
mithilfe der Methoden der ökokritischen Diskursanalyse und des DS für
SchülerInnen und Studierende didaktisch nutzbar gemacht werden können.
Die Mur, der Hauptfluss der Steiermark, fließt durch Slowenien, Ungarn und
Kroatien und bildet in Teilen seines Verlaufs auch die Grenze zu diesen Staaten.
Sie trennt die Stadt Graz in zwei Teile, die bis heute ein soziales Gefälle
zwischen linkem und rechtem Murufer sichtbar werden lassen. Die Mur diente
über Jahrhunderte als wichtige Handelsader und wurde vom 14. – 19. Jahrhundert
auch beschifft. Zahlreiche Hochwasser führten immer wieder zu Überschwemmungen
weiter Teile der Stadt, insbesondere im 19. Jahrhundert. Durch
metaphorik.de 33/2023
28
die Regulierung Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Fluss verkürzt und das
Bett der Mur vertiefte sich. Bis 1925 wurden Fäkalien im Fluss entsorgt. Damals
wurde erstmals eine Kanalisation gebaut. Industrieabwässer landeten bis in die
1980er in der Mur und machten sie zu einem der schmutzigsten Flüsse Europas
(siehe Dienes 2016). Gemeinsame Aktionen einer Lokalzeitung (Kleine Zeitung)
und Bürgerinitiativen, die durch aktive Kampagnen lokale und nationale Politiker
für ihr Anliegen gewinnen konnten, bewirkten schließlich, dass die örtlichen
Industrien ihre Abwässer reinigen mussten. Durch diese Maßnahmen
stieg die Wasserqualität ab Ende der 1980er Jahre deutlich an, sodass sich
wieder Fische ansiedelten und die Mur auch im Bereich der Stadt Graz als
ökologisch wertvolles Gewässer eingestuft werden konnte.
Bereits Mitte der 1990er Jahre wurde die Idee eines Wasserkraftwerks im Süden
der Stadt Graz projektiert, im Jahre 2001 wegen zu hoher Kosten jedoch wieder
verworfen. Von Beginn an wurde das Murkraftwerk sowohl als Projekt zur
Gewinnung von ‘grüner‘ Energie als auch für die Stadtentwicklung angepriesen,
das die Erschließung neuer Erholungs- und Freizeiträume für die
Grazer Bevölkerung im Bereich des Murufers inkludierte. Als der lokale
Energieanbieter „Energie Steiermark“2 2009 die Projektpläne erstmals öffentlich
vorstellte, formierten sich sofort BefürworterInnen und GegnerInnen bei den
politischen Parteien und in der Bevölkerung. Die ÖVP (Österreichische Volkspartei),
SPÖ (Sozialdemokratische Partei Österreichs) und FPÖ (Freiheitliche
Partei Österreichs) waren dafür, während die Grünen und die KPÖ (Kommunistische
Partei Österreichs) gegen das Kraftwerk auftraten. In der Folge
formierte sich auch die Plattform „Rettet die Mur“ und wurde gegen die Kraftwerkspläne
aktiv. Nach einigen Jahren des Hin und Her, in denen auch die
Wirtschaftlichkeit des Kraftwerks angezweifelt wurde, fasste der Grazer
Gemeinderat im Jahr 2016 den Beschluss für das Kraftwerk (Winter-Pölsler
2017). Von 2017-2019 wurde das Wasserkraftwerk im Süden der Stadt Graz
gebaut, war jedoch bis zu seiner Fertigstellung heftig umstritten.
Der Konflikt um den Kraftwerksbau und die Argumentation der Befürworter
und Gegner bildet den Ausgangspunkt für die Veranschaulichung der Methode
der ökokritischen Diskursanalyse. Das Thema Murkraftwerk liefert auch die
Inspiration für zwei Digital Stories, die Studierende in Lehrveranstaltungen der
2 „Energie Steiermark“ ist das viertgrößte Energieunternehmen Österreichs mit Sitz in der
Stadt. Der Mehrheitseigentümer ist das Land Steiermark.
Penz: Sprache und Ökologie
29
Autorin produzierten. Sowohl die ökokritische Diskursanalyse als auch das
Digital Storytelling werden in den sprachwissenschaftlichen Seminaren der
Autorin zur Ökolinguistik am Institut für Anglistik gelehrt und angewendet.
Das hier gezeigte Beispiel würde sich besonders für den schulischen Unterricht
im Fach Deutsch anbieten. Am Ende des Beitrags werden Möglichkeiten aufgezeigt,
wie lokale ökologische Probleme auch als fächerübergreifendes Projekt
im Rahmen des Deutschunterrichts weitergeführt werden könnte und als Fallbeispiel
für ähnliche Projekte dienen kann.
4.1 Ökokritische Analyse zum Murkraftwerk in Graz
Für die folgende Analyse von umweltrelevanten Texten wurden die Veröffentlichungen,
vor allem das Informations- und Werbematerial der Kraftwerksbetreiber,
aber auch Texte der Kraftwerksgegner ausgewählt und exemplarisch
untersucht.
4.1.1 Strategien der Kraftwerksbetreiber
Für die Analyse der Kommunikation der Kraftwerksbefürworter wurden
primär die Texte der „Energie Steiermark“ herangezogen, welche diese zu
Informations- und Werbezwecken auf ihrer Webseite3, in zahlreichen Medien
sowie in Form von (großformatigen) Plakaten im Bereich der Baustelle
veröffentlichte. Hier werden einige Ausschnitte präsentiert und mittels
ökokritischer Diskursanalyse genauer untersucht.
3 Siehe https://www.e-steiermark.com/erzeugung/Wasserkraft/MurkraftwerkGraz/Ja.
metaphorik.de 33/2023
30
Öko-Strom statt Atom: ‘Ja‘ zum Murkraftwerk!4
• Strom soll sauber sein und ohne Schadstoffe erzeugt werden. Aus Sonne,
Wind oder Wasser. 20.000 Familien kann das geplante Murkraftwerk
Graz-Puntigam mit reiner Öko-Energie versorgen.
• Das Murkraftwerk Graz leistet viel!
• Wichtiger Beitrag, um die Klimaziele von Paris zu erreichen
• Beitrag zur Unabhängigkeit von Energieimporten, Graz wird energieautarker
• Beitrag zur Ökologisierung der Grazer Fernwärme-Versorgung
• Sicherung von 1.800 Arbeitsplätzen während der 2jährigen Bauphase
• Steigerung der Versorgungssicherheit nach Blackouts
• Bau des Speicherkanals (Investment: 80 Mio. Euro) mit der Stadt Graz,
führt zu einer Verbesserung der Wasserqualität in der Mur.
• Die Mur kehrt zurück in das Stadtbild und wird neu belebt (Radwege,
Naturerlebnispfade, Promenade, Badeplätze etc.).
• 99 einzelne Öko-Maßnahmen (z.B. Fischleiter, Seichtwasserzonen,
Fledermauskästen, Würfelnatterhabitate, …) sorgen für einen sensiblen
und verantwortungsvollen Umgang mit der Natur
• Graz erhält rund 3000 zusätzliche, neue Bäume: Wo heute 2 Büsche oder
Bäume stehen, müssen während der Umsetzung des Projekts 3 nachgepflanzt
werden.
• Es wird ein Naherholungsgebiet für zahlreiche Freizeit- und Wassersport-
Aktivitäten geschaffen.
Abb. 1: Text einer Werbeanzeige der Kraftwerksbetreiber
Wie eingangs beschrieben, ermöglicht die Untersuchung des Wortschatzes eine
kritische Sicht darauf, wie das Projekt sprachlich konstruiert, gerahmt und
teilweise geschönt wird. Bei der Wortwahl spielen Konnotationen, d.h. Assoziationen,
die mit den Wörtern verbunden sind, eine wesentliche Rolle. Hayakawa
4 Abgesehen von den Überschriften erfolgten die Hervorhebungen in Fettdruck durch die
Autorin.
Penz: Sprache und Ökologie
31
(1964) spricht von Schnurrwörtern (purr words), die positiv aufgeladen sind, und
Knurrwörtern (snarl words), die negative Assoziationen aufweisen. Der Text der
„Energie Steiermark“ enthält eine Vielzahl von positiv konnotierten Wörtern
aus thematischen Bereichen, die der Bevölkerung wichtig sind, d.h. Arbeit,
Versorgung mit Energie, Umweltschutz, Freizeit.
In Bezug auf Energie werden die Adjektive sauber, rein und die Nominalphrase
ohne Schadstoffe gewählt. Energie aus Sonne, Wind und Wasser wird als sauber
angeführt. Zudem erzeugen Wörter wie unabhängig, autark, sicher positive Resonanzen,
wie die folgenden Phrasen illustrieren: Unabhängigkeit von Energieimporten,
Graz wird energieautarker, Sicherung von Arbeitsplätzen, Steigerung der
Versorgungssicherheit.
Ein wesentlicher Aspekt der Werbestrategie liegt in der Darstellung des
Projektes als umweltfreundlich und in der Verwendung von sogenannten
‘grünen’ Wörtern, insbesondere dem Wort ökologisch und diversen Zusammensetzungen
mit dem Morphem/Wortteil öko, wie z. B. in: Öko-Strom, Ökologisierung,
Öko-Energie, Öko-Maßnahmen, nachhaltige und ökologische Aufwertung, 99
ökologische Maßnahmen zum Schutz der Umwelt (inkl. detaillierter Aufzählung
von Einzelmaßnahmen).
Neben den positiv besetzten Ökowörtern fällt auch die strategische Anwendung
von Ambiguität im Satz „Die Mur wird neu belebt“ auf. Der Begriff belebt
wird hier geschickt in einer Doppeldeutigkeit verwendet: Einerseits wird das
Wort mit (Freizeit-)Aktivitäten und Angeboten verbunden, die nach Fertigstellung
des Kraftwerkes im Bereich des Flussufers möglich sein sollen (Radwege,
Promenade, Badeplätze, Naherholungsgebiet für Freizeit- und Wassersportaktivitäten).
Beleben kann andrerseits verstanden werden als mit Leben oder
Natur bzw. natürlicher Energie versehen, wie in belebtes Wasser – angereichert mit
natürlicher Energie.
Zusätzlich werden rhetorische Mittel, wie etwa die Schaffung von Kontrasten
und Reimen, eingesetzt. Bereits die Überschrift zum ersten Textausschnitt stellt
den Kontrast „Öko-Strom statt Atom“ in den Mittelpunkt, gefolgt von einem
stark betonten „‚Ja‘ zum Murkraftwerk“. Zusätzlich reimen sich Strom und
Atom.
metaphorik.de 33/2023
32
Wie bereits erwähnt, stellt im Diskurs der „Energie Steiermark“ die Betonung
der ökologischen Aspekte des Murkraftwerks eine besondere Auffälligkeit
dar5).
Die folgende Liste bietet nur einen Ausschnitt aus den 99 ökologischen
Maßnahmen, die aufgezählt werden.6
99 Ökologische Maßnahmen
• Im Rahmen des Projekts wird in nachhaltige und ökologische Aufwertung
investiert!
• Insgesamt 99 ökologische Maßnahmen wurden zum Schutz der
Umwelt entwickelt. Die Maßnahmen betreffen die Bereiche Forst und
Pflanzen, Ausgleichsflächen am und im Gewässer, Tiere am Land sowie
allgemeine ökologische Maßnahmen.
• In der Stadt Graz werden neue Auwaldflächen im Ausmaß 1: 1,4
geschaffen, im Stadtgebiet und südlich der Stadt werden in Summe 7 ha
neu angelegt
• 100 Nistkästen und Spalierbegrünung für Fledermäuse
• 60 Vogelnistkästen
• Extensivwiese für Schmetterlinge
• Versteckplätze und Eiablageplätze für die Würfelnatter
Abb. 2: Auflistung ökologischer Maßnahmen durch die Kraftwerkbetreiber
Zunächst fällt auf, dass 99 ökologische Maßnahmen genannt werden. Die Zahl
99 wurde hier wohl mit Absicht gewählt, ebenso wie die weiteren Zahlen im
Text. Hier handelt es sich um strategische Textarbeit, die dem Marketing und
Werbediskurs entstammt. Diese Maßnahmen werden im Text der Webseite
detailliert aufgezählt. Ausschnittsweise finden sie sich auch auf den Informationsplakaten
entlang der Baustelle (siehe auch Bild aus der DS). Der Fokus auf
Details spiegelt sich auch in der wiederholten Nennung von Zahlen wider,
5 Siehe https://www.e-steiermark.com/erzeugung/Wasserkraft/MurkraftwerkGraz/
Oekologie.aspx.
6 Diese Maßnahmen werden auf der Webseite der „Energie Steiermark“ einzeln aufgezählt
und beschrieben: http://www.murkraftwerkgraz.at/downloads/Massnahmenkatalog_
Murkraftwerk_Graz.pdf.
Penz: Sprache und Ökologie
33
indem von 100 Nistkästen für Fledermäuse und 60 Vogelnistkästen die Rede ist.
Im Zentrum stehen die Maßnahmen zum Schutz der Umwelt. Dies sind allerdings
Kompensationsmaßnahmen, die durchwegs nötig sind, um die Natur
und die Lebensgrundlagen für viele Tiere, die durch das Kraftwerk zerstört
werden, wieder einigermaßen herzustellen. Was die Schaffung neuer Auwaldflächen
betrifft, handelt es sich großteils um Baumpflanzungen, die südlich der
Stadt Graz und nicht im Stadtgebiet selbst bzw. im Areal um das Kraftwerk
geplant sind.
Neben den Texten auf der Webseite der „Energie Steiermark“ wurde massive
Werbung in Form von Plakaten und Medieninseraten mit Darstellung der
ökologischen Maßnahmen betrieben. Die oben präsentierten Textbeispiele
finden sich daher auf diversen Plakaten im Bereich der Baustelle wieder. Diese
werden oft in Verbindung mit Bildern von unberührter Natur – etwa einer
natürlichen Aulandschaft – präsentiert, d.h. es wird gerade jene Landschaft
präsentiert, die durch das Kraftwerk zerstört wird.
4.1.2 Der Diskurs der KraftwerksgegnerInnen
Die vorliegende Analyse basiert ebenfalls auf Daten von der Webseite, in
diesem Fall der Kraftwerksgegner, die unter dem Slogan „Rettet die Mur“
agierten (http://www.rettetdiemur.at/Fakten). Die Plattform „Rettet die Mur“
sieht sich als überparteiliche Organisation, die sich für „den Erhalt der
freifließenden Mur und ihrer Lebensräume“ einsetzt (siehe Facebook-Seite
https://www.facebook.com/rettetdiemur.at/ (letzter Zugriff am 28. Juni 2022;
die letzte Meldung wurde am 2.10.2021 gepostet). Die genannte Webseite
konnte zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels nicht mehr aufgerufen
werden, während die Facebook-Seite noch zugänglich ist. Im folgenden Text
ruft die Plattform zu Initiativen gegen das Kraftwerk auf und veranschaulicht
mithilfe eines kommentierten Ausschnitts des Stadtplans die Veränderungen
durch den Bau des Kraftwerkes.
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Wähl die Mur, wähl das Leben MURKRAFTWERK - JETZT IST INITIATIVE
GEFORDERT
Mit dem Murkraftwerk verbaut die Grazer Politik ihren eigenen BürgerInnen die Zukunft.
Die Interessen Weniger werden vor das Wohl aller Menschen gestellt. Durch die
bevorstehenden Rodungen würde Graz einen gewaltigen Teil seiner grünen Lunge
verlieren, rund das Zehnfache der Stadtpark-Vegetation soll dem Projekt zum Opfer
fallen. Auch wirtschaftlich und politisch sieht die Realität gar nicht so rosig aus wie in den
Werbebroschüren der Kraftwerkswerber.
Hier die wichtigsten Fakten zu den Veränderungen durch das umstrittene Kraftwerks-
Projekt aus Sicht der Kraftwerksgegner (http://www.rettetdiemur.at/Fakten).
Abb. 3: Initiativen der Kraftwerk-Gegner
Auch die KraftwerksgegnerInnen verwenden rhetorische Strategien, um ihre
Sichtweise auf das geplante Kraftwerk möglichst eindringlich und plakativ zu
vermitteln. Der Slogan zu Beginn des Textausschnittes „Wähl die Mur – Wähl
das Leben“ verbindet den Fluss mit dem Leben, d.h. der Fluss steht hier für das
Leben. Abgesehen von dieser positiven Bewertung des Flusses enthält der Text
in der Folge vor allem negativ assoziierte Wörter in Verbindung mit dem Bau
des Kraftwerks, d.h. Knurrwörter. Wörter wie verlieren, zum Opfer fallen, Raub (der
Stadtlunge) stellen den Bau als Raub an der Stadt dar.
Der Text verwendet vor allem rhetorische Strategien wie Metaphern: Raub der
Stadtlunge oder die Zukunft verbauen (wörtlich und als Metapher zu verstehen).
Ebenso werden Kontraste eingesetzt, z.B: Die Interessen Weniger werden vor das
Wohl aller Menschen gestellt.
Penz: Sprache und Ökologie
35
Der Text wird durch eine kommentierte schematische visuelle Darstellung des
Ausmaßes und der Folgen des Kraftwerksbaus ergänzt. Die Textfelder präsentieren
in Kürze einige ‘Fakten‘ zum geplanten Kraftwerk. Dazu zählen die
Verschlechterung der Wasserqualität, ein großer Rückstau des Flusses bis in das
innere Stadtgebiet, die Rodung von 16.000 ufernahen Bäumen sowie eine drei
Meter hohe Staumauer. Im Text der KraftwerksgegnerInnen wird die Zahl der
gerodeten Bäume genannt, während die Befürworter nur die Anzahl der
zusätzlichen Ersatzpflanzungen erwähnen. In einem Bericht der Kleinen Zeitung
vom 6.2.2018 wurde geschätzt, dass für das Kraftwerk zwischen 8000 und
16.000 Bäume gerodet werden mussten. Die Bandbreite der Zahlen ergibt sich
aus den unterschiedlichen Darstellungen der BefürworterInnen und GegnerInnen
zu diesem Zeitpunkt. Insgesamt wurde eine Fläche von 4,7 Hektar gerodet.
Laut „Energie Steiermark“ würden jedoch Wiederaufforstungen auf einer
Fläche von 6,8 Hektar (südlich des Kraftwerks) erfolgen.
Trotz begleitender Aktionen wie regelmäßiger Information auf der Facebook-
Seite zum Kraftwerksbau und der damit verbundenen Zerstörung der Natur,
der Errichtung von Protestcamps in der Nähe der (geplanten) Baustelle und
Medienmeldungen erschien die Kommunikation der KraftwerksgegnerInnen
wesentlich weniger öffentlich präsent als jene der BetreiberInnen. Die massiven
Werbekampagnen der KraftwerksbetreiberInnen mit dem Fokus auf den ökologischen
Maßnahmen waren durch Plakate und Schautafeln im gesamten Stadtgebiet
und im Baustellenbereich allgegenwärtig und dominierten die Kommunikation
in der Öffentlichkeit.
4.1.3 Ökologiefreundliche und saubere Energie oder Greenwashing?
Wie bereits erwähnt, erschien in der Zeit des Kraftwerksbaus der Diskurs der
GegnerInnen (inkl. Aktionen) in der Öffentlichkeit insgesamt weniger präsent
als jener der BetreiberInnen. Die Bewertung, welchen Nutzen das Kraftwerk
tatsächlich bringt und inwieweit das Projekt in seinen unterschiedlichsten
Aspekten als nachhaltig eingeschätzt werden kann, erfordert umfangreiche
Recherchen sowie die Sichtung von Diskursen aus Quellen, die weder den
ProponentInnen noch den GegnerInnen zuzuordnen sind und über die lokale
Berichterstattung hinausgehen. In Zeiten der Energiekrise, die durch Russlands
metaphorik.de 33/2023
36
Angriffskrieg in der Ukraine Gesamteuropa im Griff hat, wird das Murkraftwerk
zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung (im Jahr 2019), aktuell (d.h. 3 Jahre
danach) und zukünftig wahrscheinlich unterschiedlich interpretiert werden.
Während von den BetreiberInnen in der Planungs- und Bauphase vor allem die
wirtschaftlichen Vorteile des Kraftwerksbaus hervorgehoben wurden und der
Aspekt des Klimaschutzes nur in einem Punkt erwähnt wurde, erfolgte nach
der Fertigstellung ein ‚Re-framing‘, in dem der Kraftwerksbau als ‘größtes
Klimaschutz-Investment‘ des Landes gepriesen wurde
Presseaussendung der Energie Steiermark vom 9. Oktober 2019
Murkraftwerk Graz: Größtes Klimaschutz-Investment des Landes
offiziell in Betrieb genommen
Energie Steiermark setzt mit 80 Millionen-Projekt ihre Offensive bei
Ausbau Erneuerbarer Energie-Erzeugung fort - Mur liefert ab sofort
CO2-freien Strom für 45.000 Menschen
„Dieses 80-Millionen-Euro-Investment ist ein konkreter und messbarer
Beitrag zur Klimawende und trägt darüber hinaus zur Versorgungssicherheit
bei…“
Das Kraftwerk setzt in Sachen Ökologie europaweit höchste Standards:
99 ökologische Ausgleichsmaßnahmen wurden und werden für Pflanzen,
Tiere und Menschen umgesetzt…
Der Lebensraum entlang der Mur wird durch zahlreiche Angebote für
Wassersportler und Erholungssuchende sowie Öko-Zonen für die kommenden
Generationen aufgewertet.
Abb. 4: Pressemitteilung In-Betrieb-Name Murkraftwerk
Der Text der obigen Presseaussendung stellt das Murkraftwerk beinahe ausschließlich
in den Deutungsrahmen des Klimaschutzes und der Ökologie. Dies
wird insbesondere durch die Häufung entsprechender Schnurrwörter und
positiv konnotierte Phrasen aus dem Bereich Klima und Ökologie sowie durch
Superlative und Modifizierungen deutlich:
größtes Klimaschutz-Investment, CO2-freier Strom, konkreter und
messbarer Beitrag zur Klimawende, Versorgungssicherheit, in Sachen
Penz: Sprache und Ökologie
37
Ökologie europaweit höchste Standards, 99 ökologische Ausgleichsmaßnahmen,
der Lebensraum entlang der Mur wird … aufgewertet,
Ökozonen für die kommenden Generationen
Der Klimaschutz wurde im Herbst 2019 ein vorrangiges Thema und bot den
idealen Deutungsrahmen für eine besonders positive Positionierung des Projekts
im Sinne des Klimaschutzes. Die Umdeutung zum Klimaschutzinvestment
kann vor dem Hintergrund der erstarkenden Dringlichkeit der Klimawandelthematik
und der vermehrten Präsenz dieses Themas in der Politik und den
Medien durch die Fridays for Future-Bewegung sowie den laufenden Verhandlungen
zum Europäischen New Green Deal im Herbst 2019 verstanden werden.
Eine kritischere Perspektive bietet erwartungsgemäß die Berichterstattung der
Salzburger Nachrichten, welche den Kraftwerksbau aus der räumlichen Distanz
und jener eines Mediums eines anderen Bundeslandes betrachtete:
Umfehdetes Grazer Murkraftwerk offiziell in Betrieb genommen
Das Grazer Murkraftwerk hat im Rahmen einer Eröffnungsfeier am
Mittwoch offiziell seinen Betrieb aufgenommen. Der 88 Mio. Euro teure
Bau begann im Jänner 2017 nach der Grazer Gemeinderatswahl und
sorgte für viele Proteste von Umweltaktivisten. Das Kraftwerk wird
Strom für rund 20.000 Haushalte beliefern. Neben Worten des Lobes von
Politik und Betreibern gab es auch Kritik von Umweltschützern. …
Laut Umweltdachverband habe das Kraftwerk nichts mit nachhaltigem
Klimaschutz zu tun. „Heute ist kein guter Tag für die österreichische
Ökobilanz - ,sauber‘ geht definitiv anders. Das Murkraftwerk beutet ein
Flussjuwel weiter aus, dessen ökologische Bedeutung gar nicht hoch
genug geschätzt werden kann. Die Mur ist ein einzigartiger Biodiversitätshotspot,
insbesondere für die Fischfauna“, hieß es in einer
Aussendung. Weiters wurde gefordert, kein weiteres Kraftwerk mehr an
der Mur zu errichten. Für das Kraftwerk Puntigam war umfangreich
gerodet worden, Aktivisten hatten sich u.a. an Bäume gekettet, um die
Bauarbeiten zu behindern. Die Energie Steiermark setzt nach eigenen
Angaben auf 99 Ausgleichsmaßnahmen, unter anderem die Pflanzung
tausender neuer Bäume.
Salzburger Nachrichten, 9.10.2019
Abb. 5: Berichterstattung Salzburger Nachrichten
metaphorik.de 33/2023
38
Der Bericht der Salzburger Nachrichten stellt klar, dass das Projekt in den Augen
des Umweltdachverbandes mit nachhaltigem Klimaschutz nichts zu tun hat.
Daraus müsste man schließen, dass die vielfach beworbenen ökologischen Maßnahmen
im Zuge des Kraftwerkbaus als Greenwashing zu interpretieren wären.
Betrachtet man das Projekt unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeitsziele
der Agenda 2030, die wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte umfassen,
ergibt sich ein differenzierteres Bild: Obwohl das Kraftwerk von den GegnerInnen
als wirtschaftlich nicht rentabel bewertet wurde, bietet es doch einen
Beitrag zur lokalen Energieproduktion durch Wasserkraft, die im Vergleich zu
Energieformen wie Kohle, Erdöl, Erdgas und Atomenergie als sauber gilt.7
Ökologische Aspekte, wie die Erhaltung von bestehenden Auwäldern und die
Gewährleistung eines ausreichenden Lebensraumes für unterschiedliche
Spezies, werden hier offensichtlich wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet.
Ein Umstand, der zu Diskussionen darüber anregen kann, inwieweit die
Gewichtung der Nachhaltigkeitsziele in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und
Umwelt offen für Interpretationen und/oder Kritik sein sollte.
4.2 Digital Stories zum Murkraftwerk
Da es sich bei dem Murkraftwerk um ein lokales Projekt handelt, zu dem sich
SchülerInnen und Studierende auch ihre eigene Meinung bilden, erschien es
ideal, das Thema nicht nur durch eine ökokritische Analyse von Diskursen zu
bearbeiten, sondern den Lernenden die Gelegenheit zu bieten, ihre eigene
Perspektive zu dem Thema einzubringen. In meinen Lehrveranstaltungen zu
„Sprache und Ökologie/Ökolinguistik“ verwende ich seit einigen Jahren die
Methode des Digital Storytelling, um eben diese Möglichkeit anzubieten. Die
folgenden zwei Digital Stories (DS) wurden in unterschiedlichen Lehrveranstaltungen
erstellt. Die Vorgabe war jeweils, dass die Studierenden ein (Umwelt)
Thema ihrer Wahl zum Thema ihrer DS machen sollten. Das Thema Murkraftwerk
war nicht vorgegeben, sondern wurde von einigen Studierenden frei
gewählt. Beide DS bieten eine kritische Perspektive auf den Kraftwerksbau. Die
Meinungen der Studierenden zum Murkraftwerk in den Kursen waren nicht
7 Allerdings ist anzumerken, dass im Jahr 2022 trotz der Proteste einiger Mitgliedsländer
auch Erdgas und Atomenergie von der Europäischen Kommission als nachhaltige bzw.
‚grüne‘ Energie eingestuft wurden (siehe Europäische Kommission 2022; EU Pressmitteilung
vom 6.7.2022).
Penz: Sprache und Ökologie
39
ausschließlich kritisch, jedoch wurden keine DS produziert, die eine positive
Sicht darstellten. Beide DS sind in der Unterrichtssprache Englisch.
4.2.1 Digital story 1: „Walk on the Mur” (von Hamed Tayebi und Xaver
Hergenröther)
Die DS „Walk on the Mur” wurde auf Basis von sechs Fotos erstellt, die die
beiden Studierenden während eines Spaziergangs Anfang Jänner 2018 entlang
der Baustelle zum Murkraftwerk aufgenommen hatten. Die Geschichte beginnt
mit einem Foto der Baustelle mit Spuren der gerodeten Bäume. Der Text zu den
Bildern ist durch eine außergewöhnlich hohe Poetizität gekennzeichnet und
stellt vor allem Fragen hinsichtlich des Dialogs mit der Natur, der auf einem
Informations- und Werbeplakat der KraftwerksbetreiberInnen propagiert wird.
Dies geschieht anhand der Baustellenfotos sowie der Abbildung eines verbliebenen
Protestcamps der KraftwerksgegnerInnen nahe der Abfallentsorgungsanlage
im Bereich der Baustelle.
BILD 1: Spazierweg am Murufer mit gerodetem Ufer und Baustelle
Story Skript:
Walking along the river Mur in Graz we were wondering about all the trees
that used to be there. We were wondering if the river’s direction has changed.
metaphorik.de 33/2023
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BILD 2: Große Werbetafel der Energie Steiermark: Im Dialog mit der Natur
Suddenly a huge sign told us that the river Mur is in dialogue with nature.
The picture promised that nature is coming back to us soon as green as the
billboard. The river is going to be a power plant and the old soap factory “die
Seifenfabrik” is now an event centre. I wondered if there are going to be fish
in the river once the power station is in place. We are promised to even get a
beach here for us in the near future but today the construction site is scary in
its magnitude.
BILD 3: Foto der Baustelle mit gelben Rohren
In place of these yellow pipes the river was flowing only a few months ago.
We asked an elderly couple what the pipes were for. They had no idea at all
(too?). Many people were taking pictures of the construction site. At that
moment I felt that this ugly construction site is the most photographed
monument in Graz.
BILD 4: Selfie der beiden Studenten mit Baustelle im Hintergrund
We asked ourselves, “Who is in dialogue with nature here”? For us it was the
dialogue of humans and machines in what was formerly nature. We
wondered if this power station would ever help save the environment.
BILD 5: Gelände der Abfallentsorgung mit Bündeln von gepresstem Altpapier
We turned back towards Graz and came upon this waste process factory. Piles
of rubbish were packed in squares sitting on top of each other in perfect
discipline.
Penz: Sprache und Ökologie
41
BILD 6: MUR CAMP von KraftwerksgegnerInnen
Finally we approached this Mur camp where someone is living nowadays. A
placate says “Lieber mit der Wahrheit fallen, als mit der Lüge siegen.“ He’s
protesting for us but not many citizens like what he is doing. In a short stretch,
it smelled really gross there. The stench of the waste is his daily companion.
We got back to the city wondering if this is, in fact, a fair dialogue with nature.
Abb. 6: Beispiel Digital Story 1
4.2.2 Digital Story 2: “Our green walking path” (von Jelena Lukic-Mezin)
Die DS von Jelena Lukic-Mezin startet mit dem visuellen Kontrast zweier Bilder:
ein alter Baumriese am Murufer wird mit der aktuellen Baustelle an der Mur
kontrastiert. In dieser Geschichte wird vor allem der Spazierweg entlang des
Flussufers als Erholungsquelle für Familienausflüge beschrieben und seine
Zerstörung durch die Baustelle bedauert. Der erste Teil der Geschichte baut auf
Fotos mit den betroffenen Familienmitgliedern, d.h. der Studentin, deren Ehemann
und deren einjährigem Sohn bei Familienausflügen in den Murauen, auf.
Im Zentrum stehen die sinnlichen Naturerfahrungen der kleinen Familie
während ihrer Spaziergänge. Die Bilder der idyllischen Spaziergänge werden
in der zweiten Hälfte durch Baustellenfotos des Kraftwerksbaus abgelöst. An
die Stelle der grünen Natur mit bunten Blumen treten Baumaschinen auf der
Baustelle in tristem Grau. Die Sinneseindrücke wandeln sich zur Beschreibung
von Staub, Schmutz und Smog, die nun durch die Bautätigkeit am Flussufer zur
täglichen Erfahrung der Familie werden. Der letzte Teil der DS kontrastiert den
metaphorik.de 33/2023
42
angeblichen Nutzen, der in den umfangreichen Marketing- und Werbemaßnahmen
für die Grazer Bevölkerung unermüdlich propagiert wird, mit den
tatsächlichen Verlusten der Anrainer an Naturerfahrung und Naherholung
während des Kraftwerkbaus. Aufgrund der Länge der Geschichte werden hier
nur einige Ausschnitte präsentiert:
BILD 1: Kontrastbilder: Alter Baum am Flussufer und Baustelle Murkraftwerk
Story Skript (in Auszügen):
Our green walking path next to the Mur in Graz Liebenau became an ugly
construction site of the new power plant.
Penz: Sprache und Ökologie
43
BILD 2: Bild der Studentin mit ihrem Sohn im Kinderwagen am grünen Murufer
Our green walking path next to the Mur was an ideal relaxing trip for my
small family nearly every day for two years from the point our son was born
in 2015.
BILD 3: Foto des Ehemanns der Studentin, der Sohn im Kinderwagen schiebt (am
grünen Murufer)
The green trees gave us comfort and a hideaway from the heat in summer and
from the nasty wind in the winter months.
BILD 4: Sohn der Familie im Kinderwagen blickt interessiert in die Umgebung
André, our son, was amazed by the little birds, ducks swimming in the river
BILD 4: Grüne Wiese mit gelben Blumen
and the wild flowers we were picking up at the path.
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44
BILD 5: Spazierweg nach Rodung der Bäume
But in 2017 everything changed. On January the 2nd 2017 the Mur power plant
project started. They firstly started with the preparation of the construction
site, which meant they would firstly destroy our beautiful trees and our path.

BILD 11: Blick auf Baustelle durch Baustellengitter, Werbetafel der Energie
Steiermark direkt hinter dem Gitter zeigt grünes Gelände nach Fertigstellung des
Kraftwerks
Penz: Sprache und Ökologie
45
How much Graz and its citizens will get out of this project is presented on all
the ads next to the building site, or in the newspapers or on the websites about
of the power plant. But me and my family and I believe also other citizens of
Graz lost a lot.
BILD 12: Alter Baum am Ufer
We lost our woods which are the lungs of this part of Graz where we live.
BILD 13: Wiese mit Blume im Vordergrund
We lost our relaxing zone, our beautiful walks, nice meetings with other
people and encounters with little birdies, ducks and wild flowers.
Abb. 7: Beispiel Digital Story 2
metaphorik.de 33/2023
46
Beide DS beklagen den Verlust von Natur, wobei erstere zwar auch die
persönliche Perspektive der beiden Studierenden einbringt, die persönliche
Betroffenheit jedoch weniger stark in den Vordergrund stellt als die DS der
jungen Familie.
Die Methode des Digital Storytelling (DS) wurde hier als Erweiterung von
Lehrveranstaltungen eingesetzt, die es den Studierenden erlaubt, ihre persönliche
Perspektive zum gewählten Thema einzubringen. DS bietet jedoch unterschiedliche
Möglichkeiten, persönliche Betroffenheit darzustellen. Es liegt im
Ermessen der jeweiligen VerfasserInnen, welchen Grad der Distanz sie einnehmen
wollen.
Die hier gezeigten DS zu dem Thema repräsentieren einen kritischen Blick auf
die Errichtung des Kraftwerks. Es besteht jedoch ebenso die Möglichkeit, eine
DS mit der gegenteiligen Perspektive zu erstellen und die Fertigstellung des
Projektes zu feiern, u.a. ein neu gewonnenes zukünftiges Freizeit- und Erlebnisgelände
für sich sehen oder auch nur die Energiegewinnung als Vorteil zu
betrachten. Unterschiedliche Positionen könnten in der Folge als Grundlage für
weiterführende Diskussionen (auch zum Konzept der Nachhaltigkeit) genutzt
werden.
4.3 Diskussion und Vergleich der Methoden: Ökokritische
Diskursanalyse und Digital Storytelling
Ökokritische Diskursanalyse und Digital Storytelling stellen zwei unterschiedliche
Methoden dar, die sich im Unterricht für Nachhaltigkeit ideal
ergänzen. Während erstere die kritische Analyse von Texten ins Zentrum stellt
und den Blick der Lernenden auf Sprache als strategisches Werkzeug und Mittel
der Konstruktion der Wirklichkeit lenkt, erlaubt Zweiteres den distanzierten
Blickpunkt zu verlassen und die eigene Betroffenheit und persönliche Perspektive
zu einem Thema einzubringen. Dies bewirkt auch einen ersten Schritt in
Richtung Handlungsorientierung im eigenen Umfeld. Der Beitrag der Studierenden
erfordert eigene Textproduktion in Verbindung mit der Auswahl an
geeigneten Bildern. Das Verfassen der Texte kann im Sprachunterricht pädagogisch
unterstützt werden. Im vorliegenden Projekt war dies nicht der Fall.
Insbesondere im Fremdsprachenunterricht spielt die pädagogische Hilfestellung
jedoch eine größere Rolle. DS können bereits auf niedrigen Niveaustufen,
etwa ab A2 Niveau, erstellt werden. Ihre Produktion eröffnet jenseits der
Penz: Sprache und Ökologie
47
einfachen Textproduktion auch kreative Möglichkeiten, die im Sprachunterricht
sehr oft wenig Beachtung erfahren. Diese Kreativität kann sich in der
sprachlichen Gestaltung, aber auch im Umgang mit dem Digital Storytelling
und der Erstellung und Auswahl der Bilder (in Verbindung mit dem Text)
äußern. So besitzt die Methode das Potenzial, das kommunikative Repertoire
der Lernenden allgemein, aber auch speziell im Sinne der Nachhaltigkeit zu
erweitern.
4.4. Erweiterung des Projektes
Den Ausgangspunkt für die ökokritische Diskursanalyse im vorliegenden
Projekt lieferte das aktuelle Kraftwerksprojekt in der unmittelbaren lokalen
Umgebung. Die aktuelle Situation könnte jedoch auch zum Anlass genommen
werden, um Diskurse über den Fluss in der Vergangenheit mit den heutigen zu
vergleichen. Am Beispiel der Mur kann besonders gut gezeigt werden, dass sich
das Umweltbewusstsein seit den 1970er Jahren entscheidend verändert hat.
Dazu könnte ein Text aus dem Jahre 1973 dienen, der veranschaulicht, wie
verschmutzt der Fluss in jener Zeit war.
Kleine Zeitung, 5. Juli 1973
Die Mur – eine Kloake
TV Dokumentation ‚Kleiner Fluß – was nun?‘ gedreht
Mit dem Wasser der Mur in Graz kann man nicht einmal einen Dampfkessel
betreiben, dazu ist es zu schmutzig. Die Grazer sind darüber nicht mehr
erstaunt. Sie kennen das Bild: Statt eines Flusses, der blau oder gar grün ist,
sehen sie eine braune Suppe, an manchen Tagen und zu manchen Tageszeiten
sehen sie nur Schaumkronen, die sich an Engstellen zu Schaumbergen aufstauen,
die wie Schneehaufen aussehen. Dabei ist die Mur in Murau noch ein
reines Gebirgsflüsschen, in Graz ist sie zu einer cloaca maxima, einer Riesenkloake
geworden.
Wer ist Schuld an diesem Zustand, aber vor allem, wie kann ihm abgeholfen
werden? Damit beschäftigt sich eine Fernsehdokumentation, die gestern am
Lendkai in Graz und in Gratkorn an der Einmündung des Fabrikskanals der
Firma Leykam-Josefsthal aufgenommen wurde. …
Abb. 8: Berichterstattung über die Mur von 1973
metaphorik.de 33/2023
48
Der Zeitungstext aus den 1970er Jahren beschreibt den Zustand des Flusses in
der Zeit, als die Papierindustrie im Norden der Stadt sämtliche Abwässer
ungeklärt in die Mur leitete. Der Text könnte dazu verwendet werden, mit den
SchülerInnen zu recherchieren, wie es gelang, diesen Zustand dahingehend zu
ändern, dass die Mur im 21. Jahrhundert ein Gewässer wurde, das als ökologisch
wertvoll einzustufen ist. Dazu könnte die Berichterstattung der Lokalzeitung,
die sich für die Sanierung des Flusses einsetzte, als Datengrundlage
dienen.
In weiterer Folge könnte ein fächerübergreifendes Projekt entstehen, das zum
Beispiel das Thema „Die Mur in der Geschichte der Stadt Graz“ beleuchtet. Das
folgende Bild aus der Mitte des 19. Jahrhunderts bietet einen idealen Einstieg in
die historischen Beziehungen zwischen Mensch und Fluss.
Abb. 9: Jakob Alt, Ansicht von Graz in der Steiermark, um 1850, Steiermärkisches
Landesarchiv8
Darüber hinaus könnten weitere Fragestellungen ins Zentrum rücken. Hier
wäre es z.B. möglich, die Nutzbarmachung des Flusses durch den Menschen zu
untersuchen, die Flora und Fauna des Flusses in den naturwissenschaftlichen
8 https://www.museum-joanneum.at/kulturgeschichte-online/die-mur-einekultu...
soziale-praxis.
Penz: Sprache und Ökologie
49
Fächern zum Thema zu machen oder auch allgemeinere Fragen zu den Rechten
von Natur im Allgemeinen oder Flüssen im Besonderen zu stellen. So ungewöhnlich
dies für westliche Kulturen klingt, so erhielt der Whanganui River in
Neuseeland den Rechtsstatus einer juristischen Person (Warne 2017).
Somit könnte ein Projekt entstehen, das im Deutschunterricht ökologische
Sprachkritik betreibt, jedoch als fächerübergreifende Projektarbeit in den
Fächern Geschichte, Geographie, Biologie weitergeführt wird. Übertragbar ist
dieser Ansatz auch auf weitere sprachliche Fächer. In Englisch könnten Flüsse
wie „The Thames“ oder „The Missisippi“ ins Zentrum gestellt werden, oder
auch jedes Thema, das sich für eine ökokritische Analyse von Texten und
Diskursen in diesem Bereich eignet.
5. Diskussion zum Ertrag für den Unterricht
Das Unterrichtsprinzip „Umweltbildung für nachhaltige Entwicklung“, das
2014 in Österreichs Schulen erlassen wurde, ist fächerübergreifend. Die Ziele
der Umweltbildung werden wie folgt definiert:
Umweltbildung zeigt auf, wie die komplexe Verflechtung vielfältiger
gesellschaftlicher Einflüsse zum gegenwärtigen Zustand unserer
Umwelt geführt hat, und kann das Bewusstsein, das Verantwortungsgefühl
und die Kompetenz der Schülerinnen und Schüler für die
Gestaltung ihrer Zukunft stärken (BMBF 2014: 2).
Umweltbildung fördert damit den Erwerb von Kompetenzen, um die
natürlichen Lebensgrundlagen und Ressourcen in ihrer Begrenztheit
zu verstehen und Umwelt und Gesellschaft vorausschauend, solidarisch
und verantwortungsvoll mitzugestalten (BMBF 2014: 2).
Zu den geforderten Kompetenzen zählen: a) Wissen aufbauen, reflektieren,
weitergeben, b) Haltungen entwickeln, c) bewerten, entscheiden, umsetzen.
Dieses Unterrichtsprinzip erscheint auf den ersten Blick nicht primär auf den
Sprachunterricht abzuzielen, jedoch erfordern die zu erwerbenden Kompetenzen
eindeutig Spracharbeit, indem Texte interpretiert, analysiert und produziert
werden müssen. Das vorgestellte Projekt fördert die Entwicklung eines
kritischen Umweltbewusstseins durch die genaue Analyse von Texten, die
unterschiedliche Standpunkte zu einem aktuellen Umweltthema präsentieren.
Die (öko-)kritische Diskursanalyse regt dazu an, Texte diverser AkteurInnen
kritisch zu analysieren und im Zusammenhang mit zusätzlichen Recherchen
zum Thema Wissen aufzubauen, um die jeweiligen Perspektiven zu reflektieren
metaphorik.de 33/2023
50
und zu hinterfragen. Das Einbringen der persönlichen Perspektiven der SchülerInnen
durch DS regt auch zu weiteren Aktivitäten für die Erhaltung der
Umwelt an und schafft somit Raum Handlungskompetenzen, die zu einem
Leben im Sinne einer lebenserhaltenden Interaktion zwischen den Menschen
untereinander sowie Mensch und Umwelt beitragen: Ein Ziel, das die Ökolinguistik
als zentral ansieht. Laut Fill (1993: 133) bildet der ökopädagogische Teil
der Ökolinguistik den wichtigsten Aspekt, da es darum geht, ein Denken zu
entwickeln, das nicht Wachstum in den Mittelpunkt stellt, sondern das
Zusammenleben der Menschen untereinander, mit anderen Spezies und mit der
Natur. Ökologisches Handeln, das ausschließlich für Menschen positiv ist,
jedoch in anderen Bereichen zu Schäden führt (z.B. Gefährdung von anderen
Spezies) ist kritisch zu hinterfragen und in eine Richtung zu ändern, dass jenes
Denken gefördert wird, „das zur Erhaltung des Fleißgleichgewichts zwischen
Menschen, anderen Lebewesen und unbelebter Natur beiträgt“ (Fill 1993: 134).
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Ernährt ihr euch von diesem Gold? − Ressourcenraub versus Nachhaltigkeit als Thema kolonialzeitlicher Amerika- Chroniken1

Monika Wehrheim

Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (m.wehrheim@uni-bonn.de)

Abstract


Die spanische Eroberung Amerikas war von Anbeginn an auf das engste verknüpft mit dem Streben nach schnellem wirtschaftlichem Gewinn. Im Zentrum stand dabei die Sicherung von Edelmetallen wie Gold und Silber, die oftmals gewaltsam erbeutet wurden. Der Beitrag soll
im Folgenden der Frage nachgehen, wie der Ressourcenraub und die damit einhergehende Zerstörung von Natur und indigenen Lebensräumen sowie der durch die spezifische koloniale Ausbeutung vorangetriebene Genozid in den kolonialzeitlichen Amerika-Chroniken verhandelt werden. Auf der Grundlage der kolonialzeitlichen Texte soll gezeigt werden, dass die Debatte um Nachhaltigkeit auch historisch entwickelt werden kann, wurde doch die Frage nach dem Umgang mit den vorhandenen Ressourcen seit Beginn der Kolonisierung gestellt – freilich in einer anderen Terminologie und Perspektive als heute. Die Eroberung Amerikas können wir als einen gigantischen Raubzug betrachten, bei dem nicht allein Gold und Silber, sondern auch Menschen (als Sklaven oder im Encomienda-System) dem Nutzen der Eroberer anheimfielen. Interessanterweise wurde dieser Aneignungsprozess aber von Beginn an immer auch kritisch hinterfragt und zwar nicht nur von indigener, sondern auch von spanischkatholischer
Seite.

From the very beginning, the Spanish conquest of the Americas was closely linked to the pursuit of quick economic profit. The focus laid on securing precious metals such as gold and silver, which were often captured by force. In the following, this article will explore the question of how the theft of resources and the accompanying destruction of nature, indigenous habitats, and ultimately a genocide driven by specific colonial exploitation were negotiated in the colonial America chronicles. On the basis of the colonial texts, it will be shown that the debate on sustainability can also be developed historically, since the question of how to deal with available resources has been raised from the beginning of colonization on - admittedly in a different terminology and perspective than today. The conquest of the Americas can be seen as a gigantic raid in which not only gold and silver, but also people (as slaves or in the encomienda system) fell to the use of the conquerors. Interestingly, however, this appropriation process was always critically questioned, not only by indigenous but also by Spanish missionaries.

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Seite 55

55
Ernährt ihr euch von diesem Gold? − Ressourcenraub versus
Nachhaltigkeit als Thema kolonialzeitlicher Amerika-
Chroniken1
Monika Wehrheim, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
(m.wehrheim@uni-bonn.de)
Abstract
Die spanische Eroberung Amerikas war von Anbeginn an auf das engste verknüpft mit dem
Streben nach schnellem wirtschaftlichem Gewinn. Im Zentrum stand dabei die Sicherung von
Edelmetallen wie Gold und Silber, die oftmals gewaltsam erbeutet wurden. Der Beitrag soll
im Folgenden der Frage nachgehen, wie der Ressourcenraub und die damit einhergehende
Zerstörung von Natur und indigenen Lebensräumen sowie der durch die spezifische koloniale
Ausbeutung vorangetriebene Genozid in den kolonialzeitlichen Amerika-Chroniken verhandelt
werden. Auf der Grundlage der kolonialzeitlichen Texte soll gezeigt werden, dass die
Debatte um Nachhaltigkeit auch historisch entwickelt werden kann, wurde doch die Frage
nach dem Umgang mit den vorhandenen Ressourcen seit Beginn der Kolonisierung gestellt –
freilich in einer anderen Terminologie und Perspektive als heute. Die Eroberung Amerikas
können wir als einen gigantischen Raubzug betrachten, bei dem nicht allein Gold und Silber,
sondern auch Menschen (als Sklaven oder im Encomienda-System) dem Nutzen der Eroberer
anheimfielen. Interessanterweise wurde dieser Aneignungsprozess aber von Beginn an immer
auch kritisch hinterfragt und zwar nicht nur von indigener, sondern auch von spanischkatholischer
Seite.
From the very beginning, the Spanish conquest of the Americas was closely linked to the
pursuit of quick economic profit. The focus laid on securing precious metals such as gold and
silver, which were often captured by force. In the following, this article will explore the
question of how the theft of resources and the accompanying destruction of nature, indigenous
habitats, and ultimately a genocide driven by specific colonial exploitation were negotiated in
the colonial America chronicles. On the basis of the colonial texts, it will be shown that the
debate on sustainability can also be developed historically, since the question of how to deal
with available resources has been raised from the beginning of colonization on - admittedly in
a different terminology and perspective than today. The conquest of the Americas can be seen
as a gigantic raid in which not only gold and silver, but also people (as slaves or in the
encomienda system) fell to the use of the conquerors. Interestingly, however, this appropriation
process was always critically questioned, not only by indigenous but also by Spanish
missionaries.
1 Eine ausführliche Version dieser Überlegungen findet sich in dem auf Spanisch erschienen
Aufsatz: „¿Es este el oro que comes? Una relectura ecocrítica de las crónicas coloniales”
(Wehrheim 2022).
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1. Kolonialzeitliche Chroniken als Thema des Ecocriticism
In der Einleitung des mittlerweile klassischen Ecocriticism Reader (1996) definiert
Cheryll Glotfelty Ökokritik als „the study of the relationship between literature
and the physical environment“ (xviii) und unterscheidet drei Forschungsbereiche
der in den 1990er Jahren noch jungen Forschungsrichtung: die Frage
nach den Naturbildern in der Literatur, die Frage nach dem Kanon (gesucht
werden Werke, die sich dem ökologischen Thema verpflichtet fühlen, oder aus
dem Kanon ausgeschlossene Werke, die das Thema Natur behandeln) und als
dritte eine eher theoriegeleitete Fragestellung: Wie wird Natur im literarischen
Diskurs konstruiert? Welche Konzepte tauchen auf? Wie wird das binäre
System zwischen Mensch und Natur im wissenschaftlichen Diskurs selbst
konstruiert? (1996: xxii-xxiv).
Wie Jennifer French in ihrem grundlegenden Aufsatz „Nature and subjectivity
in colonial Latin America: Identities, epistemologies, corporealities“ (2014)
zeigt, wurden kolonialzeitliche Chroniken lange Zeit nicht unter einer ökokritischen
Perspektive behandelt, da sie streng genommen nicht dem implizit
geforderten Grundsatz nach einem ökologischen Commitment entsprachen
(French 2014: 38). Für die Chronikforschung macht French deshalb geltend,
dass eine neue Perspektive auf die Chroniken zu entwickeln sei – unter Berücksichtigung
von Fragen zu den Bildern und Konzepten von Natur, die die Ausbeutung
der natürlichen Ressourcen rechtfertigen und naturalisieren oder die
Kritik daran artikulieren. In diesem Kontext ist zu analysieren, wie die Inbesitznahme
der entdeckten Gebiete und all dessen, was sich in ihnen befindet,
diskursiv legitimiert wird, und zwar über die koloniale Diskursanalyse2 hinausgehend
mit einer besonderen Fokussierung auf der Darstellung, Legitimation
und der Kritik an extraktivistischen, nicht-nachhaltigen Praktiken. Damit
rücken ebenfalls epistemologisch Fragen in den Fokus, wie die Frage nach dem
Verständnis von Natur im Kontext der Eroberung und der Bedingtheit von
okzidentaler Ausbeutungslogik durch eine binäre Konstruktion von Menschund
Naturbeziehung.
2 Zur kolonialen Diskursanalyse siehe u.a. Peter Hulme (1986) und Edward Said (1978), bei
denen der Fokus auf der Konstruktion von Alterität als Mittel der Legitimation von kolonialer
Herrschaft lag.
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
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2. Kolumbus und der Verwertungsblick
1493 kursiert ein Brief in Europa, der die Nachricht von den auf dem Seeweg
nach Westen erreichten Indischen Gebieten verbreitet: In dieser Carta a
Santángel informiert Kolumbus den Schatzmeister der Katholischen Könige
über die Reichtümer in den neu entdeckten Gebieten. Der Brief ist in seiner Zeit
eine Art Bestseller, er erscheint innerhalb kurzer Zeit in Übersetzungen auf
Italienisch, Deutsch, Französisch, Katalanisch – allein die lateinische Fassung
erreicht neun Ausgaben in einem Jahr.3 Wie wir wissen, glaubte Kolumbus den
Seeweg nach Asien entdeckt zu haben, wobei es erklärtermaßen um die Sicherung
von Handelsgütern, insbesondere Gewürzen, ging. Wir wissen auch, dass
Kolumbus nicht das fand, was er zu finden hoffte (und zu diesem Augenblick
noch zu finden glaubte). Da er auf weitere finanzielle Unterstützung für seine
Unternehmungen angewiesen war, war ihm daran gelegen, das ‘Entdeckte‘ als
lohnendes Objekt weiterer Investitionen zu beschreiben. Ganz in diesem Sinne
werden die Inseln als fruchtbar mit einer wunderbaren Natur versehen dargestellt:
[…] todas [las islas] andables y llenas de árboles de mil maneras y
altas, y parecen que llegan al cielo; y tengo por dicho que jamás
pierden la hoja, según lo pude comprender, que los vi tan verdes y
tan hermosos como son por mayo en España. Y dellos estaban
floridos, dellos con frutos […]; y cantaban el ruiseñor y otros pajaricos
de mil maneras […]. Hay palmas de seis o de ocho maneras […]; en
ella hay pinares a maravilla, y hay campiñas grandísimas, y hay miel,
y de muchas maneras de aves y frutas muy diversas. En las tierras hay
muchas minas de metales y hay gente instimabile [sic] número4
(Colón [1493] 1985: 223).
Auf den ersten Blick – und so wurde der Text lange Zeit rezipiert – liest sich die
Passage wie die Beschreibung eines Paradieses auf Erden. Vielfach wurde
3 Zu den Editionen siehe Arranz (1985: 221) und Estebe Barba (1992: 24).
4 ‘[...] alle [Inseln] sind voll von Bäumen, es gibt tausend verschiedene Arten und Höhen,
und sie scheinen bis zum Himmel zu reichen; und ich glaube, dass sie nie ihre Blätter verlieren,
denn ich habe sie so grün und schön gesehen wie im Mai in Spanien. Und sie blühten und
trugen Früchte [...]; und die Nachtigall und andere Vögel sangen auf tausend verschiedene
Arten [...]. Es gibt sechs oder acht Arten von Palmen [...]; es gibt dort wunderbare
Kiefernwälder, und es gibt sehr große Felder, und es gibt Honig, und viele Arten von Vögeln
und sehr viele verschiedene Früchte. In den Ländern gibt es viele Metallminen, und es gibt
eine unschätzbar große Anzahl von Menschen.‘ [Soweit nicht anders vermerkt, handelt es sich
bei den Übersetzungen um Übersetzungen der Autorin.]
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Kolumbus demensprechend als jemand angesehen, der die Natur liebt und
schätzt (vgl. Todorov 1982; Greenblatt 1991). Doch bei genauerer Überlegung
erscheint die Passage nicht mehr ganz so unschuldig und bewundernd – insbesondere,
wenn wir den Text von seinem Ende ausgehend betrachten, wo
plötzlich knapp und unvermittelt auf die Metall- und Erzvorkommen und auf
die Menge an Menschen verwiesen wird. Nach dem schwärmerisch anmutenden
Blick auf die Naturidylle wirkt dieser Abschluss kalt und berechnend.
Hier geht es offensichtlich um schnellen Reichtum – um Goldvorkommen und
um Sklaverei. Aber auch der vermeintlich schwärmerische Blick auf die Natur
kaschiert möglicherweise nur die Frage nach deren Verwertbarkeit, wie dies
bereits Moebus (1982) feststellte. Für die expansiven Intentionen braucht man
Bäume für den Schiffsbau (bzw. für die Reparatur von Schiffen), Honig, Früchte
und Geflügel zur Versorgung mit Lebensmitteln.
Mehr noch, im Sinne des europäischen Verständnisses war die Natur dazu
bestimmt, genutzt zu werden. Montrose (1991) zeigt, welche Wirkmacht der
Topos des jungfräulichen Landes (unbearbeitet und scheinbar unbewohnt) in
der kolonialen Diskursivität in der englischen Besiedlung Amerikas entwickelte.
Auch im Text des Kolumbus schwingt dieser Subtext mit – die
Indigenen nutzen die Reichtümer der Natur nicht, wie es sich gebührt. Diesen
Gedanken finden wir selten so eindrucksvoll illustriert wie im Kupferstich
America von Jan von der Straet/Theodore de Galle (um 1600):
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
59
Abb: 1: Jan van der Straet: America/Stich von Theodoor Galle (um 1600)
Die hier gezeigte allegorische Figur der Amerika ruht inmitten einer abundanten
Natur in einer Hängematte und wird durch den Seefahrer Amerigo
Vespucci erweckt. Ohne auf die vielfältigen Hierarchisierungen, die das Bild
entwickelt, und ohne auf die Frage nach der Rolle von Genderkonstruktionen
im Erobererdiskurs einzugehen5, wird hier deutlich, dass der Reichtum der
Natur, die Früchte, die Bäume, die Tiere nicht durch den Menschen nutzbringend
verwertet werden. Das menschliche Wesen (hier signifikanterweise eine
Frau) dominiert sie nicht, sie ist Teil der Natur, ohne Macht auszuüben. Selbst
die europäischen Haustiere wie das Schwein und das Pferd spazieren frei durch
den Urwald, ohne den Menschen nützlich zu sein. In ontologischen Kategorien
wird hier ein holistisches Naturverständnis denunziert, das der europäischchristlichen
Vorstellung von der Überlegenheit des Menschen über die Natur
entgegenläuft und den alttestamentarischen Auftrag, sich die Erde untertan zu
machen (Dominium terrae), ignoriert.6 Zu welchen Verwerfungen die Nicht-
5 Siehe dazu Montrose (1991); Wehrheim-Peuker (2001).
6 Zum Verständnis des Dominium terrae in der Kolonisierung Amerikas siehe Schulz (2013).
Schulz weist auf unterschiedliche Konzepte hin: Den Auftrag, sich die Erde untertan zu
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Unterscheidung von Mensch und Natur führt, zeigt sich im Übrigen im oberen
Bildteil, wo ein Kannibalenfeuer prasselt, auf dem unschwer menschliche
Körperteile zu erkennen sind. Statt sich von Schweinen zu ernähren, essen die
Indigenen Menschenfleisch – Resultat des Fehlens des kategorialen Unterschieds
zwischen Mensch und Tier.
Auch das Land, das Kolumbus in seinem Brief beschreibt, ist, wie oben dargestellt,
offensichtlich reich, aber nicht hinreichend genutzt. Sehr deutlich resümiert
Kolumbus am Ende seines Briefes die Möglichkeiten des wirtschaftlichen
Profits, den die vorhandenen Ressourcen bieten:
Er spricht von „unermesslich viel Gold” (oro sin cuento, 227) und er verspricht
den Königen: „[…] yo les daré oro […]: especería y algodón cuanto sus altezas
mandaren cargar, y almastiga […], y lignáloe cuanto mandarán cargar, y
esclavos cuantos mandarán cargar […].”7 (228). Damit hat er werbetechnisch
einen Köder ausgeworfen – und die Erwartungen in die neuen Gebiete sehr
hochgeschraubt.
Das oro (‚Gold‘) wird ab nun zum bestimmenden Faktor der Wahrnehmung
Amerikas werden. Obwohl die Goldmengen, die Kolumbus nach Spanien
bringt, noch vergleichsweise gering sind und es sich in der Hauptsache um
Flussgold handelt (vgl. Fisher/Pietschmann 1994: 404), sind die Erwartungen
auf schnellen Reichtum von Anfang an extrem. So schreiben Fisher und Pietschmann
über Hernán Cortés, der 1519 an der Küste Mexikos landete, dass er sich
abfällig über ihm angebotenes Ackerland auf Hispañola geäußert habe und
darauf verwies, er sei gekommen, um Gold zu holen (404). Das sollte er mit der
Eroberung Mexikos 1521 in die Tat umsetzen.
3. Cortés und das Gold Mexikos
Der Brief an Kaiser Karl V (König Carlos I), mit dem Cortés 1522 seine eigenmächtige
Eroberung Mexikos rechtfertigt,8 ist durchzogen von der Erwartung
machen, im Sinne einer Pflege, die der Arbeit eines Schäfers gleiche, und der Unterwerfung,
im Sinne eines ungebremsten Nutzens (18-19).
7 ‘[...] ich werde Ihnen Gold geben [...]: Gewürze und Baumwolle, soviel Ihre Hoheiten
mitzunehmen befehlen, und Mastix [...], und Linaloe [ein Aloegewächs], soviel Sie
mitzunehmen befehlen, und Sklaven, soviel Sie zu mitzunehmen befehlen [...].‘
8 Cortés hatte sich über den Befehl seines direkten Vorgesetzten Velasquez hinweggesetzt,
der ihn ausgeschickt hatte, um die Küste Mexikos zu erkunden, ohne Gebiete zu erobern.
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
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auf Gold – und zwar von Beginn seines Landgangs an. Cortés ist ein guter
Beobachter und taxiert das Neue mit dem Blick dessen, der Reichtümer sucht
(vgl. Todorov 1981). In Mexiko-Tenochtitlán, der Hauptstadt des Aztekenreiches,
scheint er am Ziel seiner Wünsche angekommen zu sein.
In der ersten Begegnung mit dem aztekischen Herrscher Moctezuma überreicht
er diesem eine Halskette aus Perlen und Glasdiamanten. Im Gegenzug wird er
reich beschenkt:
Vino un servidor suyo con dos collares de camarones envueltos en
paño, que eran hechos de huesos de caracoles colorados, que ellos
tienen en mucho y da cada collar colgaban ocho camarones de oro de
mucha perfección, tan largos casi como un geme y como se los trajeron
se volvió a mí y me los echó al cuello. Y tornó a seguir por la calle […]
hasta llegar a una muy grande y muy hermosa casa que él tenía para
aposentarnos […].
Y dende [desde] a poco rato, ya que toda la gente de mi compañía
estaba aposentada, volvió con muchas y diversas joyas de oro, plata,
plumajes a hasta cinco o seis mil piezas de algodón, muy ricas y de
diversas maneras tejidas y labradas […]9 (Cortés 1985: 116).
Cortés lobt die Handwerkskunst der Azteken, die Edelmetalle, den Federschmuck.
Er taxiert das Reich mit dem Blick eines Extraktivisten – auf der Suche
nach Ressourcen aller Art. In diesem Sinne kann auch seine Beschreibung des
Marktes von Tlatelolco gewertet werden, der für seinen Reichtum an Waren
verschiedenster Art berühmt war:
Tiene esta ciudad muchas plazas, donde hay continuo mercado y trato
de comprar y vender. Tiene otra plaza tan grande como dos veces la
ciudad de Salamanca, toda cercada de portales alrededor, donde hay
cotidianamente arriba de sesenta mil ánimas comprando y vendiendo;
donde hay todos los géneros de mercadurías que en todas las
tierras se hallan, así de mantenimientos como de vituallas, joyas de
9 ‘Es näherte sich einer seiner Diener mit zwei in Stoff gewickelten Hummerhalsbändchen
aus rotem von ihnen sehr geschätzten Muschelschalen. An jedem Halsband hingen etwa acht
vollendet schöne Garnelen aus Gold, groß wie Edelsteine, und als der Diener sie brachte,
wandte sich der Fürst zu mir und legte sie mir um den Hals. Und er drehte sich um und folgte
der Straße [...] bis er zu einem sehr großen und sehr schönen Haus kam, das er für uns hatte
herrichten lassen [...].
Kurz darauf, nachdem meine Leute untergebracht waren, kam er mit vielen verschiedenen
Schmuckstücken aus Gold und Silber und Federschmuck zurück, und brachte fünf- bis
sechstausend Stücke kostbaren Baumwollstoff und reich verzierte Gewebe und Stickereien
[...].‘
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oro y plata, de plomo, de latón, de cobre, de estaño, de piedras, de
huesos, de conchas, de caracoles y de plumas. Véndese cal, piedra
labrada y por labrar, adobes, ladrillos, madera labrada y por labrar de
diversas maneras. Hay calle de caza donde venden todos los linajes
de aves que hay en la tierra, así como gallinas, perdices, codornices,
lavancos, dorales, zarcetas, tórtolas, palomas, pajaritos en cañuela,
papagayos, búharos, águilas, halcones, gavilanes y cernícalos; y de
algunas de estas aves de rapiña, venden los cueros con su pluma y
cabezas y pico y uñas10 (ibid.: 132).
Die Beschreibung des Marktes bildet das extraktivistische Konzept in emblematischer
Form ab. Der Markt zeigt das Potential der zukünftigen Kolonie. Er ist
eine Art Mikrokosmos der Reichtümer der Region: Gold, Silber, Metalle wie
Zinn und Kupfer werden neben Baumaterialien und essbaren Federtieren wie
Hühnern, Wachteln und Tauben und dekorativem Getier wie Papageien erwähnt.
Auch der für die Azteken so bedeutsame und wertvolle Federschmuck
findet Eingang in die Beschreibungen, freilich wohl eher als exotisches Dekor.
In Art einer Metonymie referiert der Markt auf den zu erschließenden Markt
des gesamten Territoriums und verweist auf die Ressourcen des Landes, derer
man sich als Kolonialmacht bemächtigen kann.
Im Zentrum des Cortés‘schen Interesses steht bei aller Wertschätzung der
bunten Vielfalt das Gold. Und so thematisiert er bereits in dieser frühen Phase
der Begegnung die Frage, woher die Mexica ihr Gold beziehen und fragt
Moctezuma nach Goldminen (ibid.: 123-124). Gleichzeitig überlegt er, dass man
zur Ausbeutung der Minen Siedlungen benötige, und sieht vor, zur Versorgung
der Menschen die landesüblichen Produkte Mais, Bohnen und Kakao („que es
10 „In dieser Stadt gibt es viele Plätze, auf denen ein ständiger Markt stattfindet, auf dem
gekauft und verkauft wird. Sie hat einen weiteren Platz, der doppelt so groß ist wie die Stadt
Salamanca, und ist rundherum von Portalen umgeben, wo täglich über sechzigtausend
Menschen kaufen und verkaufen; wo es alle Arten von Waren gibt, die man in allen Ländern
finden kann, sowie Lebensmittel, Gold- und Silberschmuck, Blei, Messing, Kupfer, Zinn,
Steine, Knochen, Muscheln, Schnecken und Federn. Sie verkaufen Kalk, bearbeitete und
unbearbeitete Steine, Lehmziegel, Ziegelsteine, bearbeitetes und unbearbeitetes Holz auf
unterschiedliche Weise. Es gibt eine Jagdstraße, in der alle Arten von Vögeln verkauft werden,
die es im Land gibt, sowie Hühner, Rebhühner, Wachteln, Haubentaucher, Fliegenschnäpper,
Krickenten, Turteltauben, Tauben, kleine Vögel, Papageien, Eulen, Adler, Falken, Sperber und
Turmfalken; und von einigen dieser Raubvögel werden die Häute mit ihren Federn und
Köpfen und Schnäbeln und Nägeln verkauft“.
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
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una fruta como almendras, que ellos venden molida y la tienen en tanto, que se
trata por moneda en toda la tierra“11, ibid.: 124) anzubauen.
Der kurzfristigen Erbeutung des bearbeiteten Goldes der Azteken soll also die
Erschließung und Ausbeutung der Goldminen folgen, die den langfristigen
Nachschub des Edelmetalls sichert.12
Da Cortés den Kaiser in Spanien für seine eigenwillige Expedition gewinnen
musste, schickte er bereits Anfang 1520 Goldschätze nach Spanien, zusammen
mit fünf Totonaken (drei Männern und zwei jungen Frauen).13 Der Schatz und
die Totonaken werden an verschiedenen Orten in Europa ausgestellt, so werden
sie bspw. in Valladolid von Bartolomé Las Casas besichtigt. Der Kaiser sieht die
Schätze in Tordesillas (siehe Thomas 2004: 348). Im August 1520 wird ein
aztekischer Schatz in Brüssel ausgestellt, wo ihn Albrecht Dürer besichtigt und
sich tief beeindruckt von den goldenen Sonnen und den silbernen Monden und
der Kunstfertigkeit der „Menschen in fremden Ländern“ gibt.
Albrecht Dürer schreibt dazu bewundernd in sein Tagebuch über die Reise in
die Niederlande:
Auch hab jch gesehen die dienge, die man dem könig auß dem neuen
gulden land hat gebracht: ein ganez guldene sonnen, einer ganczen
klaffter braith, deßgleichen ein ganecz silbern mond, auch also groß,
deßgleichen zwo kammern voll derselbigen rüstung, desgleichen von
allerley ihrer waffen, harnisch, geschuez, pettgewandt und allerley
wunderbahrlicher ding zu maniglichem brauch, das do viel schöner
an zu sehen ist dan wunderding. Diese ding sind alle köstlich
gewesen, das man sie beschäezt vmb huntert tausend gulden werth.
Und ich hab aber all mein lebtag nichts gesehen, das mein herez also
erfreuet hat als diese ding. Dann ich hab darin gesehen wunderliche
künstliche ding und hab mich verwundert der subtilen jngenia der
menschen ji frembden landen (Rupprich 1956: 155).
11 „[…] das ist eine mandelähnliche Frucht, die sie gemahlen verkaufen und in so großer
Menge haben, dass sie im ganzen Land als Zahlungsmittel gehandelt wird.“
12 Wie Fisher und Pietschmann betonen, wird mehr als Gold die Silbergewinnung in Mexiko
an Bedeutung erlangen (1994: 407). Von der Bedeutung der Silbergewinnung zeugen noch
heute die Silberstädte Mexikos wie Taxco, Zacatecas, Guanajuato oder die alte Bergbaustadt
Real de Catorce.
13 Auffallend ist, dass Menschen und Gold in diesen Ausstellungen wie bei Kolumbus in eins
gesetzt werden.
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Der Anteil des Kaisers an den erbeuteten Reichtümern war auf ein Fünftel (el
Quinto) festgesetzt. Wie Fisher und Pietschmann (1994: 405) schreiben, benötigte
die Krone das Gold, um die Kolonisierung zu finanzieren, die bis 1510 ein
Verlustgeschäft war: Die Kosten für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl, Wein
zur Verpflegung der Siedler, ebenso Werkzeuge, Waffen, Tiere, Saatgut, Baumaterial
lagen über dem Wert der importierten tropischen Güter und des
Goldes.
So wurden, bei aller Bewunderung für die Kunstwerke, die goldenen Sonnen
und silbernen Monde zu Gold- und Silberbarren eingeschmolzen, oftmals
bereits vor Ort (vgl. Thomas 2004: 330).
Fisher und Pietschmann sehen in der Eroberung Mexikos (1519-1521) die
Grundlage einer allgemeinen Handelsexpansion, die von 1524 bis circa 1550 zu
beobachten sei (406). 1540 segelten 79 Schiffe von Sevilla aus nach Amerika, 47
kehrten zurück. Jährlich schifften sich um 1000 Personen in Sevilla nach
Veracruz ein. Die Schiffe aus Amerika führten Goldbarren, Rinderhäute,
Koschenille mit, ebenso wie Zucker aus Santo Domingo. Dorthin brachte man
zunehmend schwarze Sklaven, da die indigene Bevölkerung der Karibik nahezu
vollständig ausgestorben war (406).
4. Las Casas Kritik der Zerstörung von Natur und der Vernichtung
der Menschenleben
Interessanter Weise blieben die kolonialen Praktiken von spanischer Seite von
Kritik nicht ausgespart. Bereits 1511 sorgte die Adventspredigt des Padre
Antonio Montesinos, die dieser auf der Insel Hispañola, auf der sich heute die
beiden Staaten Dominikanische Republik und Haiti befinden, hielt, für einen
Eklat unter den Kolonisatoren. Montesinos greift die spanischen Siedler wegen
der unmenschlichen Behandlung der Indigenen an (vgl. Pagden 1982: 30). Diese
Predigt sollte der Beginn des christlichen Protestes gegen die koloniale Praxis
sein. Bekannt ist die vernichtende Kritik des Dominikanermönchs Bartolomé de
Las Casas, der – zunächst selbst Besitzer einer Encomienda14 – sich vom Saulus
14 Im System der Encomienda gewährte die spanische Krone den Conquistadoren als Lohn
für ihre Dienste eine bestimmte Anzahl von Indigenen. Der Besitzer einer Encomienda konnte
über die Arbeitskraft der ihm zugewiesenen Indigenen frei verfügen, sollte aber im Gegenzug
für deren Unterweisung im christlichen Glauben sorgen, siehe: Caminos – eine Reise durch die
Geschichte Lateinamerikas.
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
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zum Paulus wandelte. Der prominente Verteidiger der Indigenen schildert in
seiner 1552 publizierten Schrift Brevísima relación de la destrucción de las Indias15
die an den Indigenen verübten Gräueltaten und den folgenden Genozid auf
drastische Weise.
Bei ihrer Entdeckung seien die Inseln fruchtbar und voller Menschen gewesen,
doch nun seien die Inseln und Teile des Festlandes verödet und menschenleer,
er spricht von Einöden, die Länder seien verwüstet und verheert worden (deutsche
Ausgabe 1982: 12). Die Zerstörung der Natur und von menschlichem
Leben werden hier als Folgen der Habgier der Eroberer gebrandmarkt. Schuld
am Übel seien nämlich die Spanier, „que se llaman cristianos“ (Las Casas [1552]
1989: 76), also sogenannte Christen, die mit einer unfassbaren Brutalität die
Indigenen niedermetzelten. Berühmt ist der Vergleich der Spanier mit Wölfen:
„En estas ovejas mansas […] entraron los españoles desde luego que las
conocieron como lobos y tigres y leones crudelísimos de muchos días
hambrientos”16 (ibid.: 77).
Im Text von Las Casas werden biblischen Bilder aufgerufen und gleichsam resemantisiert:
Die Christenmenschen nehmen die Rolle von wilden Tieren ein,
die in eine Herde Schafe – das Lamm immerhin Sinnbild Jesus Christi – fahren.
Was treibt die Christenmenschen an? Es ist die Gier nach Gold, nach schnellem
Reichtum, in modernem Sinne nach schneller Ausbeutung von Rohstoffen:
La causa porque han muerto y destruido tantas y tales y tan infinito
número de ánimas los cristianos, ha sido solamente por tener por su
fin último el oro y henchirse de riquezas en muy breves días […]17
(ibid.: 78).
Las Casas klagt die Raubzüge ebenso an wie die Arbeitsbedingungen, unter
denen die Indigenen leiden und dahinsterben, wenn sie in Bergwerken oder
zum Tauchen nach Perlen eingesetzt werden. Die Indigenen werden als
Menschen mit schwacher Statur beschrieben, die für derartige harte Arbeiten
15 Die Übersetzungen der folgenden Zitate orientieren sind der deutschen Ausgabe Bericht
von der Verwüstung der Westindischen Länder hrsg. von Hans-Magnus Enzensberger (1982).
16 ‘Unter diese sanften Schafe … fuhren die Spanier, sobald sie von ihrem Dasein erfuhren,
wie Wölfe, Tiger und Löwen, die mehrere Tage der Hunger quälte‘ (11).
17 ‘Der einzige Grund, warum die Christen eine so ungeheure Menge unschuldiger Menschen
ermordeten und zugrunde richteten, war allein, sich ihres Goldes zu bemächtigen und sich in
wenigen Tagen mit ihren Schätzen zu bereichern‘ (Übersetzung der Autorin, siehe auch S. 13
der deutschen Ausgabe).
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gänzlich ungeeignet seien – weswegen Las Casas den Import von Sklaven aus
Afrika empfiehlt. Der Kehrseite des schließlich erwirkten Versklavungsverbots
für Indianer ist also perfiderweise der Sklavenhandel mit Afrika, in dessen Zuge
in der Zeit von 1492-1870 um 1,5 Millionen Afrikaner nach Amerika verschleppt
worden sind (Waldmann 2000: 9).
Die Maßlosigkeit der extraktivistischen Praxis, die Suche nach schnellem, exzessivem
Genuss, also in unserer Terminologie ein nicht-nachhaltiges Verhalten
gegenüber Mensch und Natur, charakterisiert die Eroberer auch in weiteren
Passagen der Schrift von Las Casas: In antagonistischer Manier setzt er in der
Brevísima relación dem exzessiven Verbrauch von Produkten aller Art das
genügsame Leben der Indigenen von Hispañola gegenüber, die Güter nicht
akkumulieren, sondern immer nur so viel besitzen, wie sie zum Überleben
benötigen:
En la isla Española, que fue la primera […], donde entraron cristianos
y comenzaron los estragos y perdiciones destas gentes y que primero
destruyeron y despoblaron, comenzando los cristianos a tomar las
mujeres e hijos a los indios para servirse y para usar mal dellos, y
comerles sus comidas que de sus sudores y trabajos salían, no contentándose
con lo que los indios les daban de su grado, conforme a la
facultad que cada uno tenía, que siempre es poco, porque no suelen
tener más de lo que ordinariamente han menester y hacen con poco
trabajo, y lo que basta para tres casas de a diez personas cada una para
un mes, come un cristiano y destruye en un día […]18 (Las Casas [1552]
1989: 80).
Man bemerke die Hyperbel, die am Ende des Zitats die Maßlosigkeit der
Christenmenschen indiziert. In christliche Parameter übersetzt, begehen die
Christen drei Todsünden: Habgier (Gold, Reichtümer), Wollust (Missbrauch
von indigenen Frauen und Kindern) und Völlerei. Sie zerstören die Menschen
und die Natur und damit letztlich auch die Grundlage des Handels – da es keine
18 ‘Auf der Insel Hispaniola war es, wo die Christen […] zuerst landeten und das Gemetzel
und Unheil an diesen Menschen anrichteten. Sie war die erste, die verheert und entvölkert
wurde, da die Christen die Frauen und Kinder nahmen, um sich ihrer zu bedienen und sie zu
missbrauchen. Sodann aßen sie alle ihre Lebensmittel auf, die sie mit viel Mühe und Arbeit
erzeugt hatten. Was die Indianer ihnen freiwillig gaben, war ihnen keineswegs genug. Jeder
gab, was er hatte, aber das war wenig, denn sie pflegen nie mehr anzuschaffen, als was sie
unumgänglich nötig haben und was ohne viel Arbeit zu erlangen ist. Das, was für drei
Familien von 10 Personen für einen Monat reicht, isst und zerstört ein Christ an einem einzigen
Tag […]‘ [Eigene Übersetzung, Bearbeitung von S. 14].
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
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einheimischen Arbeitskräfte mehr gibt, werden Sklaven aus Afrika importiert.
Las Casas ist übrigens kein grundsätzlicher Gegner der Kolonialisierung. Er
möchte das Christentum verbreiten, aber mit friedlichen Mitteln.
In der Tat war nach wenigen Jahrzehnten die indigene Bevölkerung der
karibischen Inseln durch die koloniale Praxis fast ausgestorben. Den Genozid
beschreibt Peter Waldmann wie folgt:
Auf vielen westindischen Inseln starben sie [die Ureinwohner]
gänzlich aus, auf Haiti lebten 1520 nur noch 16.000 von rund einer
Million indigenen Bewohnern im Jahr 1492. Für Zentralamerika
insgesamt lauten die Zahlen folgendermaßen: 1519: 15 Millionen,
1568: 2,6 Millionen, 1605: 1 Million (2000: 9).
Als Gründe für diesen Bevölkerungsschwund nennt Waldmann Hungersnöte,
die extrem harten Arbeitsbedingungen (im Encomienda-System oder durch den
Mita genannten Arbeitsdienst in den Bergwerken) sowie die von Europäern
eingeschleppten Krankheitserreger, gegen die die Indigenen keine Abwehrkräfte
besaßen (Pocken, Typhus, Grippe, Lungenentzündung) (9). Erst ab 1650
stabilisierte sich die Lage auf dem Festland wieder, zu diesem Zeitpunkt gab es
auf den Inseln keine Indigenen mehr.
5. Guamán Poma de Ayalas Denunziation der Gier nach Gold
Durch die Berichte des Kolumbus und die schließlich tatsächlich gefundenen
Goldschätze in Mexiko war Gold zu einer manischen Idee der Eroberer geworden.
Wir wenden uns nun einem indigenen Chronisten zu, der auf sehr eindrucksvolle
Weise die zunehmende Gier beschreibt. Es handelt sich um
Guamán Poma de Ayala aus dem Gebiet des heutigen Peru.
1532 war Francisco Pizarro in Tumbes, im Norden Perus gelandet. In Peru
herrschte nach dem Tode des 12. Inka Huayna Capac ein Bürgerkrieg zwischen
den beiden Brüdern Atahualpa (mit Sitz im Norden, in Quito) und Huáscar (mit
Sitz im südlichen Teil des Reiches, in Cuzco). Nach seiner Ankunft in Peru zog
Pizarro nach Cajamarca, wo sich Atahualpa mit seinem Heer aufhielt. Bei der
ersten Zusammenkunft mit Atahualpa überwältigten Pizarros Leute Atahualpa
und nahmen diesen gefangen. Für dessen Freilassung sollte ein immenses Lösegeld
gezahlt werden. Der sogenannte Cuarto del Rescate (‘Lösegeldzimmer‘) in
Cajamarca sollte, soweit wie Atahualpa mit der Hand nach oben reichen konnte,
mit Gold und Silber gefüllt werden. Aus dem gesamten Inkareich wurden Goldmetaphorik.
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und Silberschätze herbeigebracht, bis die Forderung tatsächlich erfüllt war.
Genutzt hat es dem Inka nichts, er wurde trotzdem hingerichtet.
Abb. 2: Hinrichtung des Inca Atahualpa, Guamán Poma de Ayala (circa 1615): 390 [392]
Auch in diesem Fall wurden die Gegenstände aus Gold und Silber eingeschmolzen,
unvorstellbare Kunstwerke gingen so verloren.
Guamán Poma de Ayala wurde um 1534 – also zu Beginn der spanischen Eroberung
- geboren, verstorben ist er um 1617. Er war Quechua und fungierte als
Übersetzer in der Missionierung der Indigenen. Er verfasste eine der außergewöhnlichsten
Chroniken der Kolonialzeit, die lange Zeit unbeachtet in der
Katholischen Bibliothek in Kopenhagen schlummerte, bis sie 1908 von dem
deutschen Historiker Richard Pietschmann entdeckt wurde. Die Nueva Corónica
y buen gobierno wurde um 1615 abgeschlossen, das Manuskript umfasst circa
1200 beschriebene Seiten sowie 400 Federzeichnungen.19 Seit den 1980er Jahren
19 Das Manuskript ist online abrufbar und unter:
http://www.kb.dk/permalink/2006/poma/info/en/frontpage.htm.
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
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ist die Chronik Gegenstand einer intensiven Forschung, maßgeblich vorangetrieben
durch die Literaturwissenschaftlerin Rolena Adorno.20
Die Nueva Corónica y buen gobierno ist ein ausgesprochen spanienkritischer Text,
der die Kolonialherrschaft anklagt – und zwar mit einer christlichen Argumentation.
Guamán Poma war getauft und nahm das Christentum sehr ernst. In
diesem Sinne fordert er, der spanische König Philipp III. möge die Spanier aus
Peru abziehen, da sie ihre Macht missbrauchten, man werde Philipp jedoch als
obersten Souverän anerkennen und sich dem Christentum unterwerfen (siehe
dazu Adorno 2000: 5).21
Guamán Poma verdanken wir sehr eindrückliche Darstellungen der Gold-Gier
der Spanier. Unter dem Titel Conquista beschreibt er, wie sich die Nachricht
von den Reichtümern in Spanien verbreitet:
Todo Castilla ubo grandes alborotos; era de día y noche entre sueños.
Todo decía: “Yndias, yndias, oro, plata, oro, plata del Pirú.” Hasta los
músicos cantauan el rromance “Yndias, oro, plata”. A se ajuntaron
estos dichos soldados y mensage del rrey nuestro señor católico de
España y del santo padre papa22 (Poma [circa 1615]: 372 [374]).
Die Nachricht von Gold und Silber verbreitet sich in Europa in Windeseile, alles
spricht nur noch von Oro y Plata, sogar die Sänger singen das Lied von „oro y
plata“. Kastilien scheint in einer Hysterie, „Yndias, oro, plata“ bilden einen
festen Dreiklang, die rhetorische Figur einer Akkumulation. Indem Poma
Indias23 in eine Reihe mit Oro und Plata setzt, verdeutlicht er, welche Perspektive
die Eroberer auf das Gebiet haben: Sie reduzieren das Land auf die Edelmetalle.
20 Federführend in der Poma-Forschung ist zweifelsohne die Literaturwissenschaftlerin
Rolena Adorno. Insgesamt sind an der Erforschung der Chronik Wissenschaftler unterschiedlicher
Disziplinen beteiligt, Historiker wie John Murra und Franklin G.Y. Pease, Linguisten
wie Jorge Urioste, Anthropologen wie Juan Ossio und Nathan Wachtel, um nur die Pioniere
zu nennen. Eine umfangreiche Bibliographie findet sich unter:
http://www5.kb.dk/permalink/2006/poma/info/en/biblio/index.htm#P.
21 Dieser Vorschlag findet sich bereits bei Las Casas, den Poma neben anderen Schriften
spanischer Missionare rezipiert hat. Zur intertextuellen Beziehung von Poma zu anderen
Chronisten siehe Adorno (2000).
22 ‘Ganz Kastilien war in großer Aufregung; tags und nachts selbst in den Träumen. Alles rief:
„Indias, Indias, Gold, Silber, Gold, Silber aus Peru“. Sogar die Musiker sangen das Lied
„Indias, Gold, Silber“. Und die Soldaten [...] des katholischen Königs von Spanien und des
Heiligen Vaters Papst machten mit.‘
23 Indias (‘Indien“‘) bezeichnet in der Kolonialzeit (hier dem von Kolumbus eingeführten
Sprachgebrauch folgend) Amerika (vgl. Morínigo 1996: 328).
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Modern gesprochen könnte man diese Verkürzung auch als gelungenen Slogan
einer Vermarktungsstrategie begreifen, die Abenteurer für die Kolonisierung
anwerben möchte.
Gleichzeitig überrascht das Gespür für die Wirksamkeit bestimmter Bilder in
Europa: Für Spanien ist die Neue Welt (laut Poma) zum Synonym für Edelmetalle
geworden.
Ganz wunderbar beschreibt folgende Passage die Jagd nach oro y plata. Der Text
setzt ein mit dem Aufbruch von Pizarro, Almagro und den spanischen Soldaten
nach Peru:
Y no quicieron descansar ningún día en los puertos. Cada día no se
hazía nada, cino todo era pensar en oro y plata y rriquiezas de las
Yndias del Pirú. Estauan como un hombre desesperado, tonto, loco,
perdidos el juicio con la codicia del oro y plata. A ueses no comía con
el pensamiento de oro y plata. A ueces tenía gran fiesta, pareciendo
que todo oro y plata tenía dentro de las manos. A cido como un gato
casero quando tiene al rratón dentro de las uñas, entonces se huelga.
Y ci no, siempre azecha y trauaja y todo su cuidado y pensamiento se
le ua allí hasta coxello; no para y cienpre vuelve allí.
Ací fue los primeros hombres; no temió la muerte con el enterés de
oro y plata. Peor son los desta uida, los españoles corregidores,
padres, comenderos. Con la codicia del oro y plata se uan al ynfierno24
(374 [376]).
Der Hendiadyoin oro y plata durchzieht wie ein Mantra den Text, wobei der Text
das Denken der Spanier reflektiert, deren Geist von der Fixierung auf oro y plata
vernebelt ist: Sie tun nichts, außer an Gold und Silber zu denken, manchmal
essen sie nicht, vor lauter Denken an Gold und Silber, sie gebärden sich wie
24 ‘Und sie wollten nicht einen Tag in den Häfen ausruhen. Sie taten nichts, dachten nur an
Gold und Silber und die Reichtümer von Peru. Sie waren wie ein verzweifelter Mann, töricht,
verrückt, die in ihrer Gier nach Gold und Silber den Verstand verloren haben. Manchmal aßen
sie nichts vor lauter Denken an Gold und Silber. Manchmal feierten sie ein großes Fest und
schienen alles Gold und Silber in ihren Händen zu halten. Sie waren wie eine Hauskatze, wenn
sie eine Maus in ihren Krallen hat, entspannt sie sich. Und wenn sie sie nicht hat, lauert sie
immer und arbeitet, und alle ihre Sorgen und Gedanken sind dort, bis sie sie gefangen hat; sie
hört nicht auf und kehrt immer wieder dorthin zurück.
So waren die ersten Männer, die mit dem Begehren nach Gold und Silber keine Angst vor dem
Tod hatten. Schlimmer sind die der heutigen Zeit, die spanischen Amtsmänner, Priester,
Priore. Mit ihrer Gier nach Gold und Silber fahren sie zur Hölle.‘
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
71
Verrückte, sie stürzen in Verzweiflung, dann sind sie wieder himmelhochjauchzend,
als hätten sie das ganze Gold und Silber schon in den Händen. Die
Metapher der Hauskatze zeigt erneut die Fähigkeit Pomas die Hast und Unruhe
der Spanier in ein passendes Bild zu bringen: Die Hauskatze wird erst ruhig,
wenn sie die Maus in ihren Krallen hat.
Es scheint fast so, als brauchten die Spanier Gold, um zu überleben – und genau
diesen Gedanken illustriert das folgende Bild, dessen Text zur Betitelung dieses
Beitrags diente:
Abb. 3: Guamán Poma de Ayala (circa 1615: 369 [371])
Das Bild zeigt den Spanier Candía und den Inca Huayna Capac (Poma [circa
1615]: 369 [371]) bei einer fingierten Begegnung in Cuzco: Wie Sprechblasen im
Comic ist zwischen beiden folgender Dialog abgebildet:
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Conquista/ Gvaina Capac Inca / Candía, español / Cay coritacho
micunqui? [¿Es éste el oro que comes?] / Este oro comemos. / en el
Cuzco /25
Das Bild illustriert eine Begegnung, die es nie gegeben hat. Zwar landete Candía
tatsächlich 1527 in Tumbes, drang aber nicht ins Land ein. Huayna Capac verstarb
1527. Das Bild greift also historische Fakten auf (Landung von Candía, das
Wissen um Gold im Inkareich, die Figur des Inka Huayna Capac) und bettet
darin eine Begebenheit ein, die so nie stattgefunden haben kann. Im fingierten
Dialog spricht der Inka Quechua, der Spanier Spanisch – insofern haben wir
auch hier wieder ein realistisches Setting. Auch der Inhalt entspricht einer
durchaus vorstellbaren Unterhaltung: Möglicherweise glaubten die Indigenen,
die Spanier ernährten sich von Gold, weil nur so das suchthafte Verhalten
erklärbar schien.
Mehr als eine Abbildung einer realen Begebenheit möchte ich die Zeichnung
von Poma aber als Allegorie begreifen, die die koloniale Praxis der Aneignung
des Goldes zeigt: Die Spanier verhalten sich so, als bräuchten sie das Gold zum
Überleben und die Inka verweigern ihnen die Nahrung nicht.
Gleichzeitig entlarvt die Illustration (in Wort und Bild) die ungeheure Goldgier
als eigentlichen Movens für die Conquista: Nicht, wie die spanischen Autoren
anführen, ist die Christianisierung der Indigenen der Grund für die Eroberung,
sondern reine Habsucht – eine der sieben Todsünden des Christentums.
Die Kritik von Poma zielt also ins Mark des Kolonialsystems. Er bestreitet, dass
die Spanier nach Amerika gekommen seien, um das Christentum zu verbreiten.
Sie sind getrieben von ihrer Gier und werden deshalb (so der 2. Teil des Zitats)
in der Hölle landen: „los españoles corregidores, padres, comenderos. Con la
codicia del oro y plata se uan al infierno”. Mit dieser Anklage wird jedwede
theologische Rechtfertigung der weiteren Beherrschung Perus obsolet.
6. Pomas Bild eines Wirtschaftens zum Wohle aller
Poma kritisiert die koloniale Praxis als menschenverachtend, als unchristlich
und klagt die exzessive Habgier der Kolonialherren an. Unter spanischer Herrschaft
regieren Gewalt, Ausbeutung, Ungerechtigkeit. Modern gesprochen geht
25 ‘Eroberung / Huayna Capac Inca / Candía, Spanier / Cay coritacho micunqui? [Ernährt ihr
euch von diesem Gold?] / Dieses Gold ist unsere Nahrung. / In Cuzco/.‘
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
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es den Conquistadoren um schnellen Profit. Das war bei den Inka anders. Dabei
steht Poma den Inka durchaus kritisch gegenüber, da er (als Christ) ihr Götzentum
anprangert. Aber er erkennt das Staats- und Wirtschaftssystem des Inkastaates
als gerecht an und zeigt, dass hier ‚nachhaltig‘ produziert wurde –
zumindest litten die Menschen keinen Hunger. Im letzten Teil seiner Chronik
stellt Poma der Sucht nach schnellem Reichtum und Ausbeutung der Ressourcen
den Aufbau des Agrar-Jahres im Inka-Reich gegenüber und beschreibt,
welche Arbeiten die Indigenen wann verrichten. Hier zeigt sich ein nachhaltiges
Wirtschaften, in einer Agrarwirtschaft, die sich an die harten Anbau-Bedingungen
des Andengebirges und die ressourcensparenden Notwendigkeiten anpasst.
In vorspanischer Zeit hätten die Inka Sorge getragen, dass die Früchte des
Feldes nicht unreif oder zu hastig geerntet werden, damit die Vorräte das ganze
Jahr reichten (1137 [1147]). Im März werde begonnen, Vorräte anzulegen, damit
es den Menschen im ganzen Jahr an nichts fehle.
Oftmals beklagt er, dass die Indigenen nun nichts mehr zu essen hätten, dabei
sei das Land reich. Er bittet den König, die Menschen den Boden bearbeiten zu
lassen und den Menschen (und dem König) würde es an nichts mehr fehlen.
Deutlich richtet sich seine Kritik gegen die Verpflichtung, in Minen zu arbeiten,
dadurch würden die Felder nicht mehr bestellt und die Menschen würden
Hunger leiden.26
Die Zeichnungen, die diesen Abschnitt begleiten, zeigen die verschiedenen
Phasen der Feldarbeit, sind harmonisch und friedlich ausgestaltet, sie zeigen
Menschen bei der gemeinsamen Arbeit, die verknüpft ist mit rituellen
Praktiken: Das Bild zu den Arbeiten im Monat August zeigt die Feldarbeit im
Kontext kultureller Aktivitäten. Der Text erläutert: „Travaxa / Huilli chacra
iapvicvi pacha [cantos triunfales, tiempo de abrir la tierra] agosto/ Yapuy
Quilla [mes de abrir las tierras]”27 (1153 [1163]). Im Bild selbst ist der Text eines
Liedes zu lesen:
Trabajo / Hailli chacraia puicupacha, August yaquayquilla [época de
regocijarse, en este mes de sembras la mies] / ayau haylli, ayau
haylliyau [mes de arar la tierra] / ayauhaylli, yau / ayau hayllyau
26 Insbesondere im Kapitel „Camina el autor“ 1095 [1105] – 1103 [1113] beschreibt Poma, auf
seinem Weg durch das Andengebiet nach Lima, die Verarmung des Landes.
27 ‘Arbeit / Huilli chacra iapvicvi pacha [Triumpfgesänge / Zeit, um die Erde umzugraben]
August / Yapuy Quilla [Monat, um die Erde umzugraben].‘
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[canto de regocijo en la siembra o cosecha]; chaymi lo ya chaymi palla
[allí, allí, Palla] ayalli, ahaylli [qué bonito, qué bonito] / agosto, hacra
yapuy 28 (Poma, in der Transkripion und Übersetzung von Franklin
Pease 1980).
Abb. 4: Cantos triumfales, tiempo de abrir la tierra, agosto, Guamán Poma de Ayala (circa 1615):
1153 [1163]
Wenn man so will, haben wir hier ein Gegenprogramm zur exzessiven Ausbeutung
der Ressourcen, die (so Poma) wenigen dient und den Großteil der Bevölkerung
verarmen und verhungern lässt. Hier zeigt sich ein gemeinsames
Arbeiten, von dem alle etwas haben und das sich den Zyklen und Möglichkeiten
der Natur anpasst.
28 ‘Arbeit / Hailli chacraia puicupacha, August yaquayquilla [Zeit, um sich zu freuen, in
diesem Monat, das Korn zu säen] / ayau haylli, ayau haylliyau [der Monat, in dem die Erde
gepflügt wird] / ayauhaylli, yau / ayau hayllyau [Gesang der Freude beim Säen oder bei der
Ernte]; chaymi lo ya chaymi palla [dorthin, dorthin, Palla] ayalli, ahaylli [wie schön, wie schön]
/ August, hacra yapuy‘ [Übersetzung von Elmar Schmidt].
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
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7. Neue Perspektiven auf Chroniken unter Nachhaltigkeitsaspekten
Die koloniale Praxis setzte auf schnelle Ausbeutung. Nachhaltigkeitsdenken
liegt hier fern. Wären die Kolonisatoren endlos so weiter verfahren, hätten sie
den Kolonien die wirtschaftliche Basis entzogen: In der Karibik starben in Kürze
so viele Menschen, dass billige Arbeitskräfte (Sklaven) aus Afrika geholt
werden mussten, um das Wirtschaftssystem aufrecht zu erhalten. Auf dem
Festland agierte man anders. Hier entwickelten sich unterschiedliche Produktionsformen:
Den Spaniern wurden auf den Encomiendas Indianer zugewiesen,
die für sie arbeiten mussten. Dafür sollten sie ernährt und christianisiert
werden. Im Unterschied zu den Afrikanern durften die Indigenen nicht versklavt
werden. Indigene litten jedoch weiterhin unter den Arbeitsbedingungen
auf den Encomiendas und in den Bergwerken, wo sie im Prinzip der Mita zur
Arbeit zwangsverpflichtet wurden. Andererseits überdauerten aber auch indigene
Strukturen in den Repúblicas de Indios, die nach wie vor Gemeinschaftsbesitz
hatten, allerdings vielfältig mit dem kolonialen Markt verwoben waren.29
Modern gesprochen stellte die koloniale Expansion ein riesiges Extraktionsprogramm
dar, insofern einem Kontinent massenhaft Edelmetall, Rohstoffe und
menschliche Arbeitskraft entzogen wurden. Genau in diesem Punkt werden in
Lateinamerika häufig Analogien zur gegenwärtigen Situation gesehen. Hier ist
es ein verbreiteter Topos eine Kontinuität der kolonialen Ausbeutung hin zum
neokolonialen bzw. neoliberalen Extraktivismus der Gegenwart zu postulieren.
Repräsentativ für diese Argumentationslinie sind die Schriften des uruguayischen
Schriftstellers und Journalisten Eduardo Galeano, allen voran Las venas
abiertas de América Latina, erstmals 1971 publiziert, der die Ausbeutung des
lateinamerikanischen Kontinents durch externe Mächte seit Beginn der ‚Entdeckung‘
anprangert30:
Desde el descubrimiento hasta nuestros días, todo se ha trasmutado
siempre en capital europeo o, más tarde, norteamericano, y como tal
se ha acumulado y se acumula en los lejanos centros de poder. Todo:
la tierra, sus frutos y sus profundidades ricas en minerales, los
29 Zu den zwei Republiken („dos repúblicas“) im kolonialen Mexiko siehe Gruzinski (2004:
233-254).
30 Auf Deutsch ist das Werk unter dem Titel Die offenen Adern Lateinamerikas erschienen (1972).
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hombres y su capacidad de trabajo y de consumo, los recursos
naturales y los recursos humanos31 (Galeano 2004: 16).
Auch die Populärkultur referiert auf diese Kontinuität.32 So greift etwa der
Dokumentarfilm Operación Diablo von Stephanie Boyd (2010) genau diesen
Topos auf. In dem Film der kanadischen Regisseurin geht es um den Ausbau
des gigantischen Goldbergwerks in Yanacocha bei Cajamarca. Die lokale Bevölkerung
fürchtet um die Zerstörung ihrer Lebensräume durch die Kontamination
der Flüsse und Seen und die Vergiftung weiter Naturräume.33 Der Film
zeigt die Proteste gegen den Ausbau der Mine, die gewaltsam niedergeschlagen
werden.34 Eine Animation des Films greift dabei die Bildersprache des Guamán
Poma auf und bezieht sie auf den aktuellen Kontext:
Abb. 5: Kolonialzeitlicher Extraktivismus – Referenz auf Guamán Pomas Darstellung der
Conquista, Screenshot aus dem Film Operación Diablo (2010)
31 ‘Seit der Entdeckung bis heute hat sich alles immer in europäisches oder später
nordamerikanisches Kapital verwandelt, und als solches hat es sich in den fernen
Machtzentren angesammelt und akkumuliert. Alles: das Land, seine Früchte und seine an
Mineralen reichen Tiefen, die Menschen und ihre Arbeits- und Konsumfähigkeit, die
natürlichen Ressourcen und die menschlichen Ressourcen.‘
32 Siehe dazu auch den Beitrag von Elmar Schmidt in diesem Band.
33 2000 verlor ein LKW eine Quecksilberladung in der Gegend von Choropampa, ohne dass
sich die verantwortlichen Unternehmen um die Bergung des Quecksilbers kümmerten. Die
Bewohner, die das Quecksilber aufsammelten, leiden seitdem unter den Folgeschäden.
Siehe dazu die Dokumentation: Choropampa: El precio del oro von Guarango (2014),
https://www.youtube.com/watch?v=cr-txUv0Zpo.
34 Zu diesem Film siehe Wehrheim (2013).
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
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Abb. 6: Kolonialzeitlicher Extraktivismus – Referenz auf Guamán Pomas Darstellung der
Conquista, Screenshot aus dem Film Operación Diablo (2010)
Abb. 7: Extraktivismus heute – Ikonographische Aktualisierung der Bilder von Guamán
Poma im Kontext der Proteste gegen die Goldmine von Yanacocha, Screenshot aus dem Film
Operación Diablo (2010)
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Abb. 8: Extraktivismus heute – Ikonographische Aktualisierung der Bilder von Guamán
Poma im Kontext der Proteste gegen die Goldmine von Yanacocha, Screenshot aus dem Film
Operación Diablo (2010)
Die Referenz auf die kolonialzeitlichen Praktiken macht der Text im Off explizit:
Hace 500 años la conquista de América del Sur empezó en esta misma
plaza [en Cajamarca]. En Inca Atahualpa se reúne con una banda de
españoles que prometen venir en paz. Es una trampa. Lo secuestran.
Para rescatarlo los seguidores del Inca llenan un cuarto con oro y dos
con plata. Pero los españoles matan al Inca y reclaman su imperio para
la corona.
Hoy Cajamarca es una vez más el escenario de una batalla por el oro35
(Boyd 2010).
Kolonialzeitliche Texte beschreiben und reflektieren also bereits im 16./17. Jahrhundert
den enthemmten Zugriff des Menschen auf Ressourcen. Bereits zu
Beginn der Kolonialzeit wird dieses Verhalten aber auch kritisch reflektiert und
die Folgen, wie die Zerstörung der Lebensräume, thematisiert. Heute bilden die
Texte oftmals die Referenz für eine Kritik am immer gleichen Verhalten und an
der strukturellen Ausbeutung durch ein auf Profit ausgelegtes kapitalistisches
System – wobei das Postulat der Kontinuität kolonialer Strukturen gelegentlich
verschleiert, dass heimische Eliten und nicht allein externe Interessengruppen
vom Fortbestand neokolonialer Strukturen profitieren.
35 ‘Vor 500 Jahren begann die Eroberung Südamerika genau auf diesem Platz [in Cajamarca].
Der Inca Atahualpa trifft sich mit einer Truppe von Spaniern, die versprechen in Frieden zu
kommen. Es ist eine Falle. Sie entführen ihn. Um ihn zu befreien, füllen die Getreuen des Inca
einen Raum mit Gold und zwei Räume mit Silber. Aber die Spanier töten den Inca und
beanspruchen sein Reich für die Krone. Heute ist Cajamarca erneut Schauplatz eines Kampfes
um das Gold.‘
Wehrheim: Ernährt ihr euch von diesem Gold?
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8. Quellenverzeichnis
8.1 Primärliteratur
Colón, Cristóbal ([1493] 1985): „Carta a Sántangel”, en: Colón, Cristóbal: Diario
de a bordo, Ed. Luis Arranz, Madrid: historia 16, 221-229.
Cortés, Hernán (1985): Cartas de relación, Ed. Mario Hernández, Madrid: historia
16.
Las Casas, Bartolomé de ([1552] 1989): Brevísima relación de la destrucción de las
Indias, Ed. André Saint-Lu, Madrid: Cátedra.
Las Casas, Bartolomé de (1982): Bericht von der Verwüstung der Westindischen
Länder, Hrsg. Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt: Insel Verlag.
Poma de Ayala, Guamán ([circa 1615] 1980): Nueva corónica y buen gobierno, Ed.
de Franklin Pease, Caracas: Biblioteca Ayacucho.
Poma de Ayala, Guamán ([circa 1615] 1987): Nueva corónica y buen gobierno, Ed.
de John Murra/Rolena Adorno/Jorge L. Urioste, Madrid: Historia 16,
Edición en línea: http://www.kb.dk/permalink/2006/poma/info/
en/frontpage.htm.
8.2 Sekundärliteratur
Adorno, Rolena (2000): Guamán Poma. Writing and Resistance in Colonial Peru,
Austin: University of Texas Press.
Arranz, Luis (1985): „Introducción”, in: Colón, Cristóbal: Diario de a bordo, Ed.
Luis Arranz, Madrid: historia 16, 7-67.
Dürer, Albrecht ([1520] 1956): „Tagebuch der Reise in die Niederlande“, in:
Rupprich, Hans (ed.): Schriftlicher Nachlass, vol. 1, Berlin, 148-202.
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/rupprich1956bd1/0161.
Estebe Barba, Francisco (1992): Historiografía indiana, Madrid: Gredos.
Ewald, Ursula (1994): „Der Mensch und seine Umwelt. Ein historisch-geographischer
Überblick“, in: Bernecker, Walther L. et al. (eds.): Handbuch der
Geschichte Lateinamerikas, T.1, Stuttgart: Klett-Cotta, 23-100.
Fisher, John R./Pietschmann, Horst (1994): „Wirtschaft, Handel, Geldwesen,
Fiskus und Verkehr“, in: Bernecker, Walther L. et al. (eds.): Handbuch der
Geschichte Lateinamerikas, T.1, Stuttgart: Klett-Cotta, 400-453.
French, Jennifer (2014): „Naturaleza y subjetividad en la América Latina
colonial: Identidades, epistemologías, corporalidades”, in: Revista de crítica
literaria latinoamericana, XL, No. 79: Ecocrítica en América Latina, 35-56.
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8.4 Internetquellen
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https://www.lai.fu-berlin.de/elearning/
projekte/caminos/lexikon/encomienda.html (04.09.2022).

Umweltrisiken und Nachhaltigkeitsnarrative im peruanischen Comic

Elmar Schmidt

Universität Münster (elmar.schmidt@uni-muenster.de)

Abstract

Auch in Peru thematisieren Comics und Karikaturen ökologische Krisen und Aspekte von Nachhaltigkeit und diskutieren, mehr als im Globalen Norden, Fragen der Umweltgerechtigkeit und der damit verbundenen gesellschaftlichen Teilhabe. Zugleich hinterfragen sie, auch unter kritischer Bezugnahme auf nationale Symbolik und historisch fundierte Wahrnehmungen des natürlichen Habitats, dominante neoliberale Modelle ökonomischer Entwicklung, die vor allem auf die extraktivistische Ausbeutung natürlicher Ressourcen setzen, und visualisieren nachhaltigere Alternativen.


In Peru, comics and cartoons address also ecological crises and aspects of sustainability and, more than in the Global North, discuss issues of environmental justice and related social participation. At the same time, and with critical references to national symbolism and historically grounded perceptions of the natural habitat, they question dominant neoliberal models of economic development, which rely primarily on the extractivist exploitation of natural resources, and visualize more sustainable alternatives.

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Seite 83

83
Umweltrisiken und Nachhaltigkeitsnarrative im
peruanischen Comic
Elmar Schmidt, Universität Münster (elmar.schmidt@uni-muenster.de)
Abstract
Auch in Peru thematisieren Comics und Karikaturen ökologische Krisen und Aspekte von
Nachhaltigkeit und diskutieren, mehr als im Globalen Norden, Fragen der Umweltgerechtigkeit
und der damit verbundenen gesellschaftlichen Teilhabe. Zugleich hinterfragen
sie, auch unter kritischer Bezugnahme auf nationale Symbolik und historisch fundierte
Wahrnehmungen des natürlichen Habitats, dominante neoliberale Modelle ökonomischer
Entwicklung, die vor allem auf die extraktivistische Ausbeutung natürlicher Ressourcen
setzen, und visualisieren nachhaltigere Alternativen.
In Peru, comics and cartoons address also ecological crises and aspects of sustainability and,
more than in the Global North, discuss issues of environmental justice and related social
participation. At the same time, and with critical references to national symbolism and
historically grounded perceptions of the natural habitat, they question dominant neoliberal
models of economic development, which rely primarily on the extractivist exploitation of
natural resources, and visualize more sustainable alternatives.
1. Einleitung
Globale wie lokale Umweltrisiken und ihre konkreten Auswirkungen werden
in den Debatten der peruanischen Öffentlichkeit durchaus breit rezipiert und
debattiert. So führt der globale Klimawandel auch in Peru zu unvorhersehbaren
Wetterereignissen und Temperaturschwankungen, unregelmäßigen Niederschlägen
und – ein wiederkehrendes Thema – zum beschleunigten Abschmelzen
der peruanischen Andengletscher und gefährdet so nicht nur die
Ökosysteme des Hochlandes, sondern auch die langfristige Wasserversorgung
der trockenen Küstenregionen. Um nur einige weitere Problemfelder auf
lokaler Ebene zu nennen: Das Wachstum der Metropolregion Lima und Callao,
mit über zehn Millionen Einwohnern, produziert eigene ökologische Probleme
im urbanen Bereich, während im Amazonasgebiet steigende Goldpreise und
die wachsende Nachfrage nach Palmöl und Biokraftstoffen die teilweise auch
illegal durchgeführte Abholzung und Zerstörung von Regenwäldern beschleunigen.
Im Andengebiet sind es immer wieder Minen- und Bergbauprojekte
und ihre Auswirkungen auf die natürliche Umwelt und die
Lebensgrundlagen der Bevölkerung, die im Fokus der Öffentlichkeit stehen.
Schmidt: Umweltrisiken und Nachhaltigkeitsnarrative
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Hierbei sind es, mehr als im Globalen Norden, ökologische Probleme in ihrer
Verschränkung mit sozialen Fragestellungen, die, wie auch in anderen
Regionen des Globalen Südens (cf. Slovic/Rangarajan/Sarveswaran 2015),
diskutiert werden, wenn Umweltprobleme vor allem benachteiligte und
marginalisierte Bevölkerungsteile treffen. Zudem lässt sich die ökologische
Realität Perus, auch im gesamtlateinamerikanischen Kontext, im Sinne des
postcolonial ecocriticism vor dem Hintergrund der „intextricability of environmental
history and empire building“ (DeLoughrey/Handley 2011: 10) erfassen,
in der gesellschaftliche Hierarchien als umso mehr „environmentally
embedded“ (Carrigan 2016: 82) erscheinen. Umweltprobleme manifestieren
sich häufig in „toxischen Topographien in neokolonialen Settings“ (Mackenthun
2015: 90), die geprägt sind von zeitlich und räumlich verzögert akkumulierter
ökologischer slow violence (cf. Nixon 2011) und eigene Formen eines
environmentalism of the poor (cf. Martínez Alier 2010) produzieren. Kritische
Stimmen verweisen hierbei auf die Zusammenhänge zwischen Umweltzerstörung,
der Ausbeutung natürlicher Ressourcen im Verlauf der kolonialen
Geschichte Lateinamerikas und der Dominanz extraktivistischer Entwicklungsmodelle
seit den Unabhängigkeiten (cf. Anderson 2016). Darüber hinaus
sank das Engagement staatlicher Akteure in den wirtschaftspolitischen Ansätzen
der meisten Länder des Kontinents – und so auch in Peru – spätestens in
den 1980er Jahren. Es wurde abgelöst von einer neoliberalen Neuausrichtung,
die sich im Zusammenspiel von lokalen ökonomischen Eliten und internationalen
Investoren etablierte – wobei auch progressiver ausgerichtete Regierungen
in den meisten Fällen auf eine Entwicklungspolitik setzen, die sich
durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen finanziert (Svampa 2020: 25-28).
2. Schlaglicht: Nachhaltigkeitsdiskurse im peruanischen
Wahlkampf
Gleichzeitig werden Nachhaltigkeitsdiskurse, motiviert auch noch einmal
durch die 17 Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, in Peru
durchaus aufgegriffen, breit rezipiert und in die nationale Realität übertragen.
Wie unterschiedlich hierbei jedoch Gewichtungen und Schwerpunktsetzungen
des dehnbaren Nachhaltigkeitsbegriffs ausfallen können, zeigt z.B. ein
repräsentativer Blick auf die Programme und Regierungspläne unterschiedmetaphorik.
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licher politischer Akteure und Parteien, so wie sie etwa im Vorfeld der
Kongress- und Präsidentschaftswahlen im April 2021 vorgestellt wurden.
So stellt das links und grün zu verortende Parteienbündnis Juntos por el Perú mit
der Spitzenkandidatin Verónika Mendoza sostenibilidad, Nachhaltigkeit, vor
den ausschließlichen Fokus auf wirtschaftliche Entwicklung, um zugleich die
Umwelt zu schützen wie auch gesellschaftliche Ungleichheit und Armut
abzubauen. Der Schutz der Biodiversität und der Umgang mit den Auswirkungen
des Klimawandels stehen hier ebenso im Vordergrund wie etwa die
Forderung nach der Ratifizierung des Abkommens von Ecuazú, mit dem in
Lateinamerika u.a. die Sicherheit von Umweltaktivistinnen und -aktivisten
verbessert werden soll, und das in Peru unter Verweis auf nationale
Wirtschaftsinteressen bislang noch blockiert wird (cf. Juntos por el Perú 2020).
Die rechtspopulistische und wirtschaftsliberale Fuerza Popular von Keiko
Fujimori, der Tochter des in den 1990er Jahren teilweise diktatorisch regierenden
Ex-Präsidenten Alberto Fujimori, nutzt das Schlagwort der Nachhaltigkeit
so inflatorisch in allen Bereichen, dass klassische Wirtschaftsinvestitionen
letztlich genauso nachhaltig wie Umweltschutzmaßnahmen erscheinen (cf.
Fuerza Popular 2020).
Im Programm der linksnationalistischen Partei Perú libre, die auch den Wahlgewinner
und neuen Präsidenten Pedro Castillo stellt, ist der Begriff im direkten
Vergleich seltsam abwesend. Es wird jedoch betont, dass als einzig praktikabler
Weg aus der Unterentwicklung ein „extractivismo sostenible y responsable
como alternativa ante el extractivismo neoliberal irresponsable e insostenible“
(Perú libre 2020: 34), d.h. eine nachhaltige extraktivistische Wirtschaftspolitik
statt unverantwortlicher neoliberaler Ressourcenausbeutung, erscheint. Hierbei
sei allerdings „el ecologismo oenegero o el medioambientalismo fundamentalista“
(34), also die Einmischung von Seiten eines ‚fundamentalistischen
NGO-Ökoaktivismus‘, scharf zurückzuweisen.
3. Comic und Karikatur in Peru
Karikaturen und Comics dienen vor dem Hintergrund dieses Panoramas auch
dem Ausdruck und der Illustration kritischer Positionen mit Bezug zu
ökologischen Themen, Umweltrisiken und Nachhaltigkeitsnarrativen. „[E]n los
denominado márgenes de la industria del cómic“ (Pérez Cano/Tullis/Merino
Schmidt: Umweltrisiken und Nachhaltigkeitsnarrative
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2019: 15), an der Peripherie des Comicmarkts, erreichte die sequenzielle Kunst
in Peru nie eine in Lateinamerika etwa mit Argentinien, Mexiko oder Chile, den
traditionellen Comicnationen des Kontinents (cf. Merino 2003), vergleichbare
massentaugliche Popularität. Gegenwärtig erfreuen sich allerdings junge
Künstlerinnen und Künstler, die Jugendthemen im Stil von Mangas und
Superheldencomics adaptieren, durchaus wachsender Beliebtheit, wie zugleich
auch der Trend zur literarischen Graphic Novel aufgegriffen wird, um soziale
und politische Themen wie den bewaffneten Binnenkonflikt der 1980er und
1990er Jahre auch in diesem Medium zu thematisieren (cf. Catalá Carrasco/
Drinot/Scorer 2017). Zugleich ist das Verständnis von graphischen Formaten
als Plattform für explizite gesellschaftskritische Stellungnahmen in der
Tradition der Zeitschriftenkarikatur, der Fanzines und des Untergrundcomics
verhaftet. Comic ist in Peru ein eher marginales Medium, versteht sich aber
durchaus und grundsätzlich politisch und engagiert (cf. Sagástegui Heredia
2020).
4. Carlín: Urbanität und Extraktivismus
So veröffentlicht der Zeichner Carlos Tovar, genannt Carlín und mittlerweile
einer der Veteranen der Szene, zumeist einseitige Bilder im satirischen Stil in
unterschiedlichen Zeitschriften, die 2012 unter dem Titel Errar es urbano (‚Irren
ist städtisch‘) in einer gesammelten Auswahl neu herausgegeben wurden. Eine
frühe, leider nicht genau datierte Graphik entwirft ein Zukunftsbild von Lima
im Jahr 2000 (Carlín 2012: 65). Das Stadtbild ist geprägt von Luftverschmutzung
und Menschen mit Gasmasken – wobei die Reicheren sich eine Art komfortablere
Glashaube leisten können und den Ärmsten lediglich ein vor das
Gesicht gebundener Lappen zur Verfügung steht. Zentral im Bild platziert ist
die tatsächlich existierende Statue von José de San Martin, der 1821 die
peruanische Unabhängigkeit ausrief – und auch diese trägt Gasmaske. So
kommentiert die Graphik die ökologischen Folgen des Wachstums der
peruanischen Hauptstadt und den Umstand, dass sozial schwächere Schichten
diesen ungeschützter ausgesetzt sind – und verbindet dies zugleich mit dem
Verweis auf die peruanische Geschichte der letzten 200 Jahre. Die in Lima, año
2000 dargestellte Dystopie erscheint als Produkt der Gegenwart, die es nicht
geschafft hat, die mit der Unabhängigkeit verbundene Vision einer besseren
Zukunft umzusetzen, und zugleich als direkte Folge des Projekts der immer
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gleichen Eliten, die sich auf Kosten der Armen bereichern und ihr Leben in
abgekapselten gated communities und country clubs verbringen.
Eine weitere, spätere Zeichnung Carlíns mit dem Titel Minería salvaje (‚Barbarischer
Bergbau‘) nimmt ebenfalls Bezug auf nationale Symbolik und adaptiert
das aus der Vogelperspektive gezeigte, auf kahlem, ausgetrocknetem und
rissigem Boden platzierte dreiteilige Landeswappen Perus. Das Vikunja als
Symbol der Fauna des Landes ist nun im linken, oberen Teil des Wappenumriss
eingepfercht und seiner Lebensgrundlage beraubt. Der in Peru mittlerweile fast
ausgestorbene Chinarindenbaum, der eigentlich die Pflanzenwelt repräsentiert,
ist im rechten, oberen Teil der Zeichnung verdorrt und trägt keine Blätter mehr.
Der größte, untere Teil des Wappens, das goldene Füllhorn als Symbol des
Reichtums an Bodenschätzen, ist bei Carlín ersetzt durch ein rauchendes, in
Stufen ins Erdinnerne vordringendes Loch, welches in stilisierter Form das
typische Erscheinungsbild des industrialisierten andinen Tagebaus wiedergibt,
aus dem sich eine einzelne menschliche Figur gerade noch retten kann. Der
Bergbau erscheint als selbst geschaufeltes Grab und die Symbole des natürlichen
Reichtums Perus sind durch eigene Schuld bedroht, tot oder dem Untergang
geweiht.
Interessant erscheint, dass sich das zeichnerisch adaptierte Bild des Tagebaus,
der sich mit riesigen Löchern in die Anden gräbt, in unterschiedlicher Form
durch die graphische Auseinandersetzung mit den Folgeschäden der extraktivistischen
Ressourcenausbeutung zieht.
5. Markus: Ressourcenausbeutung und Kommerzialisierung
Der Band Mitos y realidades de la minería en el Perú. Guía para desmontar el
imaginario extractivista (‚Mythen und Realitäten des Bergbaus in Peru. Führer
zur Demontage des extraktivistischen Imaginären‘) wurde 2013 vom aus der
Universidad Nacional Mayor de San Marcos erwachsenen Kollektiv Programa
Democracia y Transformación Global herausgegeben. Als offenes Netzwerk
widmet sich das Kollektiv unterschiedlichen Teilbereichen, von feministischen
Themen über Projekte der öffentlichen Bildung oder die Organisation von
sozialpolitisch forschenden Arbeitsgruppen bis hin zur Schaffung von Plattformen
für den Austausch unter sozialen Bewegungen. Zudem zeichnet es sich
durch eine rege Publikationstätigkeit zu gesellschaftlich relevanten Themen
aus, oft in Kooperation mit Universitäten, Organisationen wie dem überSchmidt:
Umweltrisiken und Nachhaltigkeitsnarrative
88
regionalen sozialwissenschaftlichen Consejo Latinoamericano de Ciencias
Sociales (CLACSO) oder Institutionen wie der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die Publikation zu Mitos y realidades de la minería en el Perú wiederum vereint
Texte zu den im Titel erwähnten selbstlegitimierenden Mythen des peruanischen
Bergbaus. Die gesammelten Beiträge kritisieren, dass Proteste gegen den
Bergbau und seine Folgeschäden in der öffentlichen Darstellung als fortschrittsfeindlich
stigmatisiert werden, und hinterfragen dessen gängige Selbstdarstellung
als alternativloser und zugleich sauberer Motor der Entwicklung
zum Wohle aller. Tatsächlich entwickelte sich diese neue selbstlegitimierende
Rhetorik der minería, die ihr eigenes Konzept von ‚nachhaltiger Entwicklung‘
jenseits staatlicher Interventionen an deregulierte globale Märkte koppelt, im
Zuge der seit den 1980er Jahren etablierten neoliberalen Wirtschaftspolitik der
massiven Privatisierung des Bergbausektors (Damonte 2006: 82-85). Der Band
Mitos y realidades de la minería en el Perú kritisiert dieses dominante Narrativ
hingegen als Ausdruck eines „modelo de desarrollo insustentable“ (Svampa
2013: 9), eines nicht nachhaltigen Entwicklungsmodells, und beinhaltet neben
Texten auch Fotografien, Karikaturen, Zeichnungen, kurze Comicstrips und
Collagen unterschiedlicher Künstlerinnen und Künstler, die sich in graphischer
Form mit den Diskursen des „imaginario hegemónico prominero“ (9)
auseinandersetzen.
Abb. 1: Markus (2013), Titelbild des Bandes Mitos y realidades de la minería en el Perú
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Das Titelbild des Künstlers Markus greift wieder die typische Form des andinen
Tagesbaus auf und kombiniert es mit der graphischen Referenz auf das
bekannte Logo Marca Perú. Dieses wurde zu Beginn der 2010er Jahre im Auftrag
des peruanischen Ministeriums für Außenhandel und Tourismus entworfen
und spielt optisch auf die Nazca-Linien an, um im Sinne des nation branding zur
Visualisierung einer positiv besetzten nationalen corporate identity beizutragen.
Es wird nicht nur auf T-Shirts, Kappen und Kühlschrankmagneten vertrieben,
sondern auch in- wie ausländischen Firmen zur Verfügung gestellt, wenn sie
Produkte und Werbekampagnen mit peruanischen Kontexten verknüpfen
wollen, und in dieser Form etwa von Fastfood-Ketten, Fluggesellschaften,
Getränkefirmen, Hotels oder Banken genutzt. Zugleich erscheint es als
Ausdruck der konsequenten Überführung neoliberaler Wirtschaftskonzepte in
den Bereich der Kultur, in deren Rahmen nationale Symbolik und Identität
monetarisiert (cf. Cánepa Koch/Lossio Chavez 2019) und gleichzeitig extreme
soziale Hierarchien und Ungleichheiten ausgeblendet werden (cf. Cuevas 2016).
Das Bild der Tagebaustätte in Form des Außenhandels- und Tourismus-Logos
hinterfragt in diesem Zusammenhang kritisch die Verbindung zwischen
Bergbaubetrieb und Kommerzialisierung der peruanischen Ressourcen, die
letztlich zu Lasten der natürlichen Umwelt geht und nur wenigen zugutekommt.
Es verweist in ironischer Weise auf die Omnipräsenz grundlegend
neoliberaler Denkmuster und Diskurse in der peruanischen Realität und
darauf, dass das Wirtschaftswachstum, das neben Faktoren wie touristischer
Attraktivität und gastronomischer Vielfalt Kernbestandteil der Außendarstellung
der Marca Perú ist, vor allem auf der mit ökologischen Folgeschäden
verbundenen extraktivistischen Ressourcenausbeutung beruht.
6. Jorge Miyagui: Umweltgerechtigkeit und alternative Entwicklung
Das Bild von Jorge Miyagui, ebenfalls aus Mitos y realidades de la minería en el
Perú, mit dem Titel Nuestra alternativa es la vida (‚Unsere Alternative ist das
Leben‘), stellt in diesem Zusammenhang noch einmal polemisch und aus der
Sicht der Bergbaukritiker die Argumente der in die Konflikte involvierten
Seiten vor.
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Abb. 2: Jorge Miyagui (2013): „Nuestra alternativa es la vida“, in: Mitos y realidades de la
minería en el Perú, 87
Der stilisierte Krake mit dem Totenschädel und dem Bergmannshelm bringt
nicht nur Dollars, Fernsehgeräte und eine als museales Ausstellungsstück
vorgezeigte Inkafigur mit, sondern reproduziert auf Schildern auch die
wiederholten Vorwürfe gegen regionalen Widerstand, die die andine Bevölkerung
als phlegmatische und rückwärtsgewandte Fortschrittsverweigerer
brandmarken. Die Graphik greift so in kritischer Form zentrale Aspekte des an
den dominanten Zentren der Küste, vor allem in der Hauptstadt Lima,
entworfenen peruanischen Andendiskurses auf. Dieser schreibt der sierra und
ihren Bewohnern bestimmte Attribute, Wertungen und Stereotype zu, die Vich
(2010) in fünf Kategorien aufteilt – wobei er betont, dass es sich nicht um
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chronologisch aufeinander folgende, sondern vielmehr um parallel existierende,
sich kontext- und situationsbedingt überlappende Diskursformationen
handelt (165). Die dominante öffentliche Wahrnehmung entwirft die
peruanischen Anden demzufolge als statischen, außerzeitlichen Ort, der sich
jeglicher Modernisierung verweigert (158), und dessen Bewohner kulturell
unterlegen, erziehungsbedürftig und zu politischer Partizipation unfähig sind
(159) – im Bild von Miyagui gespiegelt auf den Schildern des Bergbaukraken
mit seinen typischen Vorwürfen. Darüber hinaus erscheint das Hochland als in
seiner territorialen Ausdehnung überdimensionales, unbekanntes und unregierbares
Gebiet, das in seiner Unerschlossenheit auf die legitime ökonomische
Nutzbarmachung wartet (161). Zugleich wird die vorspanische inkaische
Vergangenheit der Anden als Identifikationsmoment kollektiver nationaler
Identität rekonstruiert – hierauf verweist im Bild die Inkastatuette –, wobei
jedoch die Gegenwart ihrer indigenen Bewohner und deren Anspruch auf
gesellschaftliche und politische Teilhabe ausgeblendet wird (162). Diese
Abwesenheit der Andenbevölkerung in der dominanten Wahrnehmung geht
einher mit einem Prozess der diskursiven Neuerfindung der sierra unter
neoliberalen, an die Bedürfnisse globaler Märkte gekoppelten Vorzeichen und
als in Wirtschaftszahlen und ökonomischen Statistiken erfassbare Ressource
(164).
Die Graphik von Jorge Miyagui wendet sich gegen die Ausblendung der
Bevölkerung als legitimer soziopolitischer Akteur mit eigener Meinung und
Wahrnehmung, indem sie den visuellen Fokus auf die im Vordergrund
platzierten Kritikerinnen und Kritiker des Bergbaus legt. Diese sind erkennbar
unterschiedlicher ethnischer Herkunft, tragen teils indigene Kleidung und
skandieren Forderungen nach Umweltschutz, Gerechtigkeit, Respekt auch vor
kultureller Diversität und einem alternativen Entwicklungsmodell, wobei sie
auch das Konzept des buen vivir als nachhaltige lateinamerikanische Postwachstums-
Alternative herausstellen. Das Bild nimmt so in kritischer Weise
Bezug auf die Konstanten des dominanten peruanischen Andendiskurses wie
sie etwa von Vich beschrieben werden.
Auch hier wird wieder deutlich, dass Debatten um Umweltschutz und Nachhaltigkeit
in Peru im Kern häufig um unterschiedliche Konzepte und Modelle
wirtschaftlicher Entwicklung geführt werden und sich zugleich mit in der
peruanischen Gesellschaft verankerten Denkfiguren auseinandersetzen – wie
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etwa diejenige von der rückschrittlichen Andenbevölkerung, die vom westlich
geprägten Lima in die globale Moderne geführt werden müsse.
7. Miguel Det: historisches Format, Nachhaltigkeit und Megadiversität
Ein weiterer Comickünstler, der Umweltprobleme der peruanischen Gegenwart
thematisiert, ist Miguel Det – einer der aktuell produktivsten Zeichner und
Autoren vor allem im Bereich des graphischen Romans, etwa mit Adaptionen
von Kurzgeschichten und Essays peruanischer Schriftsteller oder Autorenbiographien.
In seiner 2011 publizierten Novísima corónica i malgobierno erzählt
er keine fortlaufende Handlung, sondern erarbeitet ein aus 195 einseitigen, in
sich jeweils abgeschlossenen Zeichnungen bestehendes Panorama der
peruanischen Vergangenheit und Gegenwart. Er widmet sich der vorspanischen
Kultur und der aus dem kolonialen Kulturkontakt erwachsenen
Heterogenität Perus ebenso wie alltagskulturellen Aspekten der peruanischen
Realität, wie etwa Essen, Sport, Musik oder Medien. Vor allem aber thematisiert
er in äußerst kritischer Weise prägende historische Ereignisse und die politische
und gesellschaftliche Aktualität des Landes, das Nebeneinander von Reichtum
und extremer Armut, Rassismus und Gewalterfahrung oder Korruption und
Staatsverschuldung.
Hierbei übernimmt er das graphische Format, den Zeichenstil, die Schriftart
und teilweise auch konkrete Bildelemente der Primer Nueva Corónica y Buen
Gobierno aus dem 17. Jahrhundert von Felipe Guamán Poma de Ayala, deren
Titel er zudem wiedererkennbar variiert. Aus der ‚Ersten neuen Chronik und
guten Regierung‘ wird nun, frei übertragen, die ‚Neueste Chronik des
schlechten Regierens‘. Die erkennbare Anlehnung an das historische Vorbild
zeitigt hierbei mehrere Effekte. Nicht nur ist das Werk in Peru überaus bekannt
und formale Elemente der Chronik, allen voran das Schriftbild, auch im Alltag
– und ähnlich wie die Nazca-Linien im Logo Marca Perú als Teil des nation
branding – etwa auf Buchcovern, Getränkeetiketten oder den Schildern von
Geschäften, Restaurants und Hotels präsent (cf. Ugarelli 2021), so dass der
intertextuelle Bezug für die meisten Leserinnen und Leser auf den ersten Blick
erkennbar ist. Auch ist Guamán Poma mit seiner Chronik als indigen geprägtes
Sinnbild des kolonialen Kulturkontakts und der kulturell heterogenen
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Vergangenheit längst zum Bestandteil peruanischer Identitätsdiskurse geworden.
Wie z.B. auch der bergbaukritische Dokumentarfilm Operación Diablo (2010), der
Elemente der Primer Nueva Corónica in animierter Form integriert, stellt sich
Miguel Det mit seinem eigenen Werk und seiner kritischen Zusammenschau
der peruanischen Gegenwart selbst in die Tradition Guamán Pomas. Indem er
diesen über das visuelle Format als Vorläufer, Inspiration und Quelle bestimmt,
legitimiert er sein Projekt zusätzlich, verleiht ihm historische Bezüge und betont
inhaltliche Kontinuitäten. 400 Jahre nachdem Guamán Poma die von Ausbeutung
und Gewalt geprägte koloniale Realität mit dem barocken Topos des
mundo al revés als ‚verkehrte Welt‘ beschreibt, erscheint Peru immer noch in
einer nicht endenden Krise gefangen. Ein Bestandteil dieser Krise sind nun auch
explizit angesprochene Umweltprobleme und fehlendes nachhaltiges Wirtschaften
– die avant la lettre auch schon in den frühen Chroniken thematisiert
werden (cf. Wehrheim im vorliegenden Band).
So stellt die Zeichnung el consumismo de aires, ríos y mares es contaminación (Det
2011: 136), frei zu übersetzen mit ‚Konsumverhalten verschmutzt Luft, Flüsse
und Meere‘, verschiedene ökologische Problemfelder in komprimierter Form
dar. Kritisch kommentiert als „como si tuvieramos otro planeta“‚ ‚als ob wir
noch einen Ersatzplaneten hätten‘, werden Luftverschmutzung, durch
Industrie und extensive Landwirtschaft verseuchte Böden und Gewässer,
Deforestation, Ozonloch, Treibhauseffekt und durch den Klimawandel
schmelzende Andengletscher angesprochen und visualisiert. Am prominentesten
jedoch ist der als Karikatur abgebildete und als „criminal ambiental“, als
‚Umweltverbrecher‘, bezeichnete Präsident des US-amerikanischen Bergbaukonzerns
Doe Run, Ira Rennert, im Vordergrund der Zeichnung platziert.
Die ihm in den Mund gelegte Frage, wie er denn den Ausstieg aus der extraktivistischen
Ressourcenausbeutung finanzieren solle, wenn nicht durch weitere
Umweltzerstörung, spielt ironisch auf die wirtschaftlichen Aktivitäten des
Konzerns in Peru an, die die Gebiete, in denen dessen Minen und Schmelzöfen
liegen, zu den am stärksten kontaminierten Orten der Welt werden ließen.
Dem gegenüber stellt Det positiv besetzte Beispiele des nachhaltigen Wirtschaftens.
Hierbei greift er auch zentrale Motive und Elemente der historischen
Vorlage Guamán Pomas auf und verwendet diese in eigenen Bildvariationen
mit neuen Textbausteinen. In der Zeichnung zur tecnología agropecuaria andina
Schmidt: Umweltrisiken und Nachhaltigkeitsnarrative
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(62), zu ‚andinen Agrartechniken‘, übernimmt er die grundlegende Bildkomposition
mit arbeitenden Menschen, die mit traditionellen Werkzeugen ein
Feld bestellen, ergänzt jedoch landschaftliche Details im Hintergrund ebenso
wie Nutztiere, Pflanzen oder stilisierte Wetterelemente im Himmel.
Abb. 3 und 4: Felipe Guamán Poma de Ayala (ca. 1615): „Agosto: cantos triunfales, tiempo
de abrir las tierras“, in: Primer Nueva Corónica y Buen Gobierno, 1153 [1163] (links); Miguel Det
(2011): „tecnología agropecuaria andina“, in: Novísima corónica i malgobierno, 62 (rechts)
Bei Guamán Poma ist die Text-Bild-Beziehung (Abel/Klein 2016: 99-102) in der
Graphik selbst eher bildlastig und gibt während der Feldarbeit gesungene
Liedtexte wieder. Allerdings fungiert das Bild im Gesamtkontext als Illustration
der auf der vorherigen Seite schriftlich wiedergegebenen Erläuterungen zum
August als Monat der Aussaat. Det wiederum verzichtet in seinem Werk auf
zusätzliche Ausführungen außerhalb der Graphiken, so dass den integrierten
Texten eine zentrale, die Bilder ergänzende Funktion zukommt. Die Beschreibung
der Szenerie als „alternativa al modelo de desarrollo agrícola
europeo de monocultivos“, als ‚Alternative zum europäischen Landwirtschaftsentwicklungsmodell
der Monokulturen‘, erinnert auch an die Forderung nach
einem ‚anderen Entwicklungsmodell‘ im Bild von Jorge Miyagui. Die
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Alternative wird pragmatisch legitimiert und spezifiziert als „modelo de
desarrollo que maneje la diversidad climática y biológica“, als den spezifischen
geographischen, klimatischen und biologischen Verhältnissen der Anden
besser angepasst. Zudem werden der nachhaltige Umgang mit Biodiversität
und die Kultivierung einheimischer Nutzpflanzen ebenso explizit betont, wie
der visuelle Rückgriff auf die Zeichnung Guamán Pomas die Bedeutung lokalen
Wissens um traditionelle Kulturtechniken der Landwirtschaft hervorhebt.
Auf Biodiversität, die in Peru als einem der wichtigsten weltweiten Hotspots
als Megadiversität ausgeprägt ist, wird auch in einer weiteren Graphik eingegangen,
die das Kapitel zu den Riquezas de estas tierras, den ‚peruanischen Reichtümern‘,
eröffnet. Die in der 1. Person Plural formulierte Bildüberschrift preservemos
la megadiversidad (29), ‚bewahren wir die Megadiversität‘, ist nicht nur ein
Aufruf zur kollektiven Anstrengung beim Schutz der biologischen Vielfalt,
sondern hebt auch die Bedeutung der Megadiversität als natürlicher Reichtum
aller Peruanerinnen und Peruaner hervor. In teilweise stilisierter Form, die die
Tierfiguren der Nasca-Linien ebenso aufgreift wie Elemente vorspanischer
Keramiken und Textilien oder indigener und populärer Naturornamentik, sind
Flora und Fauna der verschiedenen geographischen Zonen Perus abgebildet.
Der Begleittext hebt die Bedeutung von Biodiversität für die Stabilität von
Ökosystemen hervor und wendet sich gegen industrialisierte Monokulturen
und vor allem gegen die in Peru zeitweise kontrovers diskutierte Einführung
von genetisch verändertem Saatgut in der Landwirtschaft.
8. Peruanische imaginarios von Ressourcenreichtum und
Entwicklung
Wie schon die Bilder von Carlín, Markus und Jorge Miyagui kritisch nationale
Symbole wie das peruanische Wappen und das Logo Marca Perú einbeziehen
oder Bezug auf extraktivistische Fortschritts- und Entwicklungsdiskurse
nehmen, so thematisiert auch Miguel Det in seinen Zeichnungen zentrale
Elemente des peruanischen kulturellen Imaginären. Der Begriff der imaginarios
ist in den lateinamerikanischen Geisteswissenschaften omnipräsent, um kulturell
fundierte Wahrnehmungen gesellschaftlicher Beziehungen in ihren
Wechselwirkungen mit narrativen Strukturen zu beschreiben. Hierbei greift er
auf heterogene Quellen aus der Philosophie, der Anthropologie, der Soziologie
oder der Psychoanalyse zurück (García Canclini/Lindón 2007: 89). Zugleich
Schmidt: Umweltrisiken und Nachhaltigkeitsnarrative
96
wird die Bedeutung der Interaktion zwischen Raum und menschlichem Subjekt
(Lindón/Hiernaux/Aguilar 2006: 9) sowie die „interconnectedness between
material and immaterial dimensions“ (Huffschmid 2012: 124) für die
Konstitution von imaginarios hervorgehoben. Als zentrale Bestandteile von
kollektiver, entscheidend durch Machtverhältnisse geprägter gesellschaftlicher
Sinnstiftung und Realitätsproduktion etablieren sie eine Form der
‚symbolischen Territorialität‘ (123), die sich auch in kulturspezifischen Beziehungen
zu Natur und Umwelt widerspiegelt und diese zugleich mit produziert.
Für den peruanischen Kontext hebt Portocarrero (2014) hervor, dass ein
einheitlich konsolidiertes nationales imaginario in einer heterogenen, von
Eroberung, Kolonialisierung und historischen wie gegenwärtigen sozialen
Ungleichheiten geprägten Gesellschaft eigentlich nicht existiert. Dennoch
identifiziert er eine Reihe von Denkfiguren und Metaphern, die peruanische
Selbst- und Realitätserfahrung weniger beschreiben als vielmehr hervorbringen
sowie in ihrer Persistenz auch deformieren und in ihrer Gebundenheit an
Machtstrukturen ganze Bevölkerungsteile symbolisch von gesellschaftlicher
Teilhabe ausschließen können (219). Mit dem Aphorismus „El Perú es un
mendigo sentado en un banco de oro“ (‚Peru ist ein Bettler, der auf einer
goldenen Bank sitzt‘) bestimmt Portocarrero hierbei die dominante Wahrnehmung
der Beziehung zum natürlichen Habitat (245). Der Ausspruch, der
dem italienisch-peruanischen Geographen und Forschungsreisenden des
19. Jahrhunderts Antonio Raimondi zugeschrieben wird, beschreibt metaphorisch
die in der Kolonialzeit wurzelnde Vorstellung von Peru als Land
unerschöpflicher Bodenschätze und Ressourcen, und damit eines zunächst
herrenlosen Reichtums, der demjenigen zusteht, der sich seiner bemächtigt. Mit
der Unabhängigkeit eignen sich die europäischstämmigen Eliten diesen
Anspruch an – wobei der im 19. Jahrhundert aus dem Abbau etwa von Guano,
Salpeter und Kautschuk oder der beginnenden Ölförderung geschöpfte
Reichtum in Bürgerkriegen, Spekulationsgeschäften und Korruption verloren
geht, ohne allgemeingesellschaftlichen Wohlstand zu produzieren (220-222).
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wird die Metapher vom Bettler auf der Bank
aus Gold von unterschiedlichen politischen Akteuren verschieden interpretiert
– die grundlegende Vorstellung von der armen Nation auf einem eigentlich
reichen Territorium bleibt jedoch bestehen. In den gezeigten Beispielen aus
Comic und Karikatur werden die mit dieser Figur verknüpften Symbole, wie
metaphorik.de 33/2023
97
das Landeswappen, und die sich aus ihr legitimierenden extraktivistischen
Entwicklungsmodelle hinterfragt und z.B. die um ihrer selbst willen schützenswerte
biologische Megadiversität, genauso wie auch kulturelle Diversität, als
alternative Grundlage eines anders definierten peruanischen Ressourcenreichtums
aufgezeigt. Der Streit um Nachhaltigkeitsnarrative wird so auch zum
Bestandteil des Kampfs um die Interpretation von Identitäten und um die
Deutungshoheit der imaginarios der peruanischen Nation, ihrer Symbolik und
ihres Selbstverständnisses.
9. Fazit
Es zeigt sich, dass die Beschäftigung mit der diskursiven Besetzung von
natürlichem Habitat und Umweltrisiken in peruanischen Kontexten auch für
den schulischen Spanischunterricht in höchstem Maße produktiv und
spannend sein kann. Vor dem Hintergrund von Debatten um wirtschaftliche
und soziale Entwicklung, die in ähnlicher Form in ganz Lateinamerika – und
mithin auch in anderen Teilen des Globalen Südens – geführt werden, lassen
sich am Beispiel von Peru eigene, vielfältige Narrative der nachhaltigeren
Gestaltung von Fortschritt und Modernisierung aufzeigen. Sie setzen sich in
kritischer Weise mit den seit der Unabhängigkeit entstandenen traditionellen
Konzepten ökonomischer Entwicklung und ihren neoliberalen Fortschreibungen
in der Gegenwart auseinander. Im Angesicht der ökologischen Folgeschäden
der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Perus präsentieren sie sich
als Gegenentwürfe und betonen den Wert von intakter Umwelt, Biodiversität
und kulturell heterogenen Naturwahrnehmungen gegenüber den Profiten von
internationalen Konzernen und nationalen Eliten. Hierbei beziehen sie Stellung
gegen das diskursive Fundament der wirtschaftspolitischen Realität Perus, mit
ihren eigenen Narrativen, die, wie gezeigt, z.B. Widerstand gegen den Bergbau
als fortschrittfeindlich brandmarken, die Anden vor allem als in ihrem
ökonomischen Wert zu definierende terra nullius kennzeichnen und ihre
Bewohner als antimodern und schwer erziehbar charakterisieren.
Comic und graphische Kunst visualisieren diesen Widerstreit unterschiedlicher
Narrative in kompakter Form. Zugleich bieten sie die Möglichkeit, gemeinsam
mit Schülerinnen und Schülern die Tiefenschichten des bildlichen Formats zu
ergründen und zu entschlüsseln. Die besprochenen Zeichnungen von Carlín
und Markus erschließen sich erst, wenn man sich mit der Bedeutung des
Schmidt: Umweltrisiken und Nachhaltigkeitsnarrative
98
peruanischen Landeswappens oder den Debatten rund um das Logo Marca Perú
auseinandergesetzt hat. Das Bild von Jorge Miyagui erfordert die Beschäftigung
mit den dominanten peruanischen Andendiskursen und den kritischen
Positionen, die ihnen gegenüberstehen. Die Analyse des Werks von Miguel Det
wiederum bietet die Möglichkeit, Bezüge auf vorspanische und indigene
Kontexte sowie die faszinierende Chronik von Felipe Guamán Poma de Ayala
mit einzubeziehen. Comics und graphische Werke können sich so, gerade in
ihrer schnell erfassbaren, oftmals plakativen Kompaktheit, als vielschichtige
Bereicherungen des schulischen Spanischunterrichts erweisen.
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„Contagiare le persone tramite la potenza delle note e delle parole”? Zum Potential von Musikvideos für die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit im Italienischunterricht

Jan Scheitza, Judith Visser

Jan Scheitza, Hildegardisschule Bochum/Ruhr-Universität Bochum (jan.scheitza@rub.de)
Judith Visser, Ruhr-Universität Bochum (judith.visser@rub.de)

Abstract

Schulische Querschnittsaufgaben wie die Sensibilisierung für Nachhaltigkeit haben im Fremdsprachenunterricht nicht immer einen leichten Stand. Wenn diese Themen zuvor schon in mehreren anderen Fächern behandelt wurden, und das sollte gerade bei Querschnittsthemen nicht selten der Fall sein, geraten Fragestellungen in Gefahr, bei Lerngruppen eine Art Langeweile hervorzurufen. Die Herausforderung der Kommunikation in der Fremdsprache lassen manche curriculare Zielsetzung darüber hinaus unrealistisch erscheinen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um ein Fach wie das Italienische handelt, das typischerweise als späteinsetzende Fremdsprache unterrichtet wird. Wie sollen Schülerinnen und Schüler (SuS) dazu befähigt werden, über komplexe Umweltthemen zu sprechen, wenn sie sich de facto auf der Niveaustufe A des GeR befinden? Und wie soll eine Auseinandersetzung mit der diskursiven Konstruktion von Nachhaltigkeit, mit unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Natur und ihrer Zerstörung sowie mit Umweltnarrativen erfolgen, wenn die sprachlichen Fähigkeiten begrenzt sind? Ein möglicher Lösungsansatz sind multimodale Texte. Sie haben das Potenzial, durch die Kopplung mehrerer Wahrnehmungskanäle die Rezeption zu erleichtern.

Gleichzeitig sind Bild und Ton Teil der Geschichte, die es zu entschlüsseln gilt, welche für die SuS aufgrund der hier nicht vorliegenden Sprachbarriere ggf. aber als zugänglicher wahrgenommen wird. Gleichzeitig, so behauptet zumindest die italienische Seite L’EcoPost (https://lecopost.it/), die unter dem Etikett Canzoni sulla natura, sull’ambiente e l’impegno dei cantanti (‘Lieder über die Natur, die Umwelt und das Engagement der Sänger*innen‘) eine Liste von Liedern aufführt: „la musica […] ha un impatto ambientale e, cosa più importante, può contagiare le persone tramite la potenza delle note e delle parole” ‘die Musik […] hat Auswirkung auf die Umwelt, und, was noch wichtiger ist, sie kann die Menschen durch die Kraft ihrer Noten und Wörter anstecken‘. Im Beitrag soll exemplarisch skizziert werden, wie in ausgewählten Musikvideos eine Konzeptualisierung von Umwelt und der Notwendigkeit eines nachhaltigen Umgangs mit ihr erfolgt, in welchem Maße dabei die verbale, bildliche und Tonebene eine Rolle spielen bzw. miteinander interagieren und welche Implikationen sich daraus für die Auseinandersetzung mit dem Thema Nachhaltigkeit im Italienischunterricht ergeben.


Cross-sectional school tasks such as raising awareness of sustainability are not always easy to treat in foreign language lessons. If these topics have already been dealt with in several other subjects, and this should be the case with cross-sectional topics, they are at risk to induce a kind of boredom in learning groups. The challenge of communicating in the foreign language also makes some curricular objectives unrealistic. This is especially true when it comes to a subject such as Italian, which is typically taught late in the school career. How should pupils be enabled to talk about complex environmental topics if they are actually at level A of theCEFR?

And how should one deal with sustainability as a discursive construction, with different conceptualizations of nature and its destruction as well as with environmental narratives if language skills are limited? A possible solution are multimodal texts. They can facilitate reception by combining multiple channels of perception. At the same time, image and sound are part of the story that needs to be decoded, but which may be perceived as more accessible for the pupils due to the non-existent language barrier. At the same time, the Italian site L’EcoPost, presents a list of songs under the label Canzoni sulla natura, sull’ambiente e l’impegno dei cantanti (‘Songs about nature, the environment and the commitment of the singers’), claiming: “la musica […] ha un impatto ambientale e, cosa più importante, può contagiare le persone tramite la potenza delle note e delle parole” ‘the music […] has an effect on the environment, and more importantly, it can infect people through the power of their notes ant words’. The article aims to outline how selected music videos conceptualize the environment and the need to deal with it sustainably, to what extent the verbal, visual and sound levels play a role or interact with each other and what implications this has for the discussion with the topic of sustainability in Italian lessons.

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Seite 101

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„Contagiare le persone tramite la potenza delle note e delle
parole”? Zum Potential von Musikvideos für die
Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit im
Italienischunterricht
Jan Scheitza, Hildegardisschule Bochum/Ruhr-Universität Bochum
(jan.scheitza@rub.de)/Judith Visser, Ruhr-Universität Bochum
(judith.visser@rub.de)
Abstract
Schulische Querschnittsaufgaben wie die Sensibilisierung für Nachhaltigkeit haben im
Fremdsprachenunterricht nicht immer einen leichten Stand. Wenn diese Themen zuvor schon
in mehreren anderen Fächern behandelt wurden, und das sollte gerade bei Querschnittsthemen
nicht selten der Fall sein, geraten Fragestellungen in Gefahr, bei Lerngruppen eine Art
Langeweile hervorzurufen. Die Herausforderung der Kommunikation in der Fremdsprache
lassen manche curriculare Zielsetzung darüber hinaus unrealistisch erscheinen. Dies gilt
insbesondere dann, wenn es sich um ein Fach wie das Italienische handelt, das typischerweise
als späteinsetzende Fremdsprache unterrichtet wird. Wie sollen Schülerinnen und Schüler
(SuS) dazu befähigt werden, über komplexe Umweltthemen zu sprechen, wenn sie sich de
facto auf der Niveaustufe A des GeR befinden? Und wie soll eine Auseinandersetzung mit der
diskursiven Konstruktion von Nachhaltigkeit, mit unterschiedlichen Konzeptualisierungen
von Natur und ihrer Zerstörung sowie mit Umweltnarrativen erfolgen, wenn die sprachlichen
Fähigkeiten begrenzt sind? Ein möglicher Lösungsansatz sind multimodale Texte. Sie haben
das Potenzial, durch die Kopplung mehrerer Wahrnehmungskanäle die Rezeption zu erleichtern.
Gleichzeitig sind Bild und Ton Teil der Geschichte, die es zu entschlüsseln gilt, welche
für die SuS aufgrund der hier nicht vorliegenden Sprachbarriere ggf. aber als zugänglicher
wahrgenommen wird. Gleichzeitig, so behauptet zumindest die italienische Seite L’EcoPost
(https://lecopost.it/), die unter dem Etikett Canzoni sulla natura, sull’ambiente e l’impegno dei
cantanti (‘Lieder über die Natur, die Umwelt und das Engagement der Sänger*innen‘) eine
Liste von Liedern aufführt: „la musica […] ha un impatto ambientale e, cosa più importante,
può contagiare le persone tramite la potenza delle note e delle parole” ‘die Musik […] hat
Auswirkung auf die Umwelt, und, was noch wichtiger ist, sie kann die Menschen durch die
Kraft ihrer Noten und Wörter anstecken‘. Im Beitrag soll exemplarisch skizziert werden, wie
in ausgewählten Musikvideos eine Konzeptualisierung von Umwelt und der Notwendigkeit
eines nachhaltigen Umgangs mit ihr erfolgt, in welchem Maße dabei die verbale, bildliche und
Tonebene eine Rolle spielen bzw. miteinander interagieren und welche Implikationen sich
daraus für die Auseinandersetzung mit dem Thema Nachhaltigkeit im Italienischunterricht
ergeben.
Cross-sectional school tasks such as raising awareness of sustainability are not always easy to
treat in foreign language lessons. If these topics have already been dealt with in several other
subjects, and this should be the case with cross-sectional topics, they are at risk to induce a
kind of boredom in learning groups. The challenge of communicating in the foreign language
also makes some curricular objectives unrealistic. This is especially true when it comes to a
subject such as Italian, which is typically taught late in the school career. How should pupils
be enabled to talk about complex environmental topics if they are actually at level A of the
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CEFR? And how should one deal with sustainability as a discursive construction, with
different conceptualizations of nature and its destruction as well as with environmental
narratives if language skills are limited? A possible solution are multimodal texts. They can
facilitate reception by combining multiple channels of perception. At the same time, image
and sound are part of the story that needs to be decoded, but which may be perceived as more
accessible for the pupils due to the non-existent language barrier. At the same time, the Italian
site L’EcoPost, presents a list of songs under the label Canzoni sulla natura, sull’ambiente e
l’impegno dei cantanti (‘Songs about nature, the environment and the commitment of the
singers’), claiming: “la musica […] ha un impatto ambientale e, cosa più importante, può
contagiare le persone tramite la potenza delle note e delle parole” ‘the music […] has an effect
on the environment, and more importantly, it can infect people through the power of their
notes ant words’. The article aims to outline how selected music videos conceptualize the
environment and the need to deal with it sustainably, to what extent the verbal, visual and
sound levels play a role or interact with each other and what implications this has for the
discussion with the topic of sustainability in Italian lessons.
1. Nachhaltigkeit im Italienischunterricht
Italienisch gehört in Deutschland zu den kleinen Schulfremdsprachen (cf. MSB
NRW 2021), die i.d.R. als spät einsetzende Fremdsprachen unterrichtet werden.
Dies bringt es mit sich, dass eine sehr steile Progression gefordert wird, die in
der Realität oft nicht zu erreichen ist. Nicht wenige Schülerinnen und Schüler
(im Folgenden SuS) bewegen sich de facto eher auf der Ebene A des GeR.
Schwierigkeiten in der Sprachrezeption, insbesondere aber der Produktion,
lassen komplexe kommunikative Ziele damit zu einer sehr großen Herausforderung
werden. Wie bei anderen (Sprach-)fächern auch gehört zu den
Aufgaben und Zielen des Italienischunterrichts die Beschäftigung mit Querschnittsaufgaben,
darunter auch „Gestaltungskompetenz […] zur Sicherung
der natürlichen Lebensgrundlagen, auch für kommende Generationen im Sinne
einer nachhaltigen Entwicklung“ (MSW NRW 2014). Seinen konkreten
Niederschlag findet das Thema Nachhaltigkeit seit 2017 in den Abitur-
Vorgaben für das Land NRW, das hier den exemplarischen Bezugspunkt bilden
soll, genauer gesagt in den Themenfeldern „Gegenwärtige politische und
soziale Diskussionen“ sowie „Globale Herausforderungen und Zukunftsentwürfe“.
Für den fortgeführten Grundkurs und den Leistungskurs lautet die
konkrete Formulierung: „Politiche ambientali e sviluppo sostenibile in Italia con
particolare riguardo alla tutela del patrimonio ambientale e artistico“. Im neu
einsetzenden Grundkurs erfolgt eine Fokussierung unter der Vorgabe
„Sviluppo sostenibile in Italia con particolare riguardo alla tutela del
Scheitza/Visser: Contagiare le persone
103
patrimonio ambientale e artistico“ (MSB NRW 2014).1 Die Anbahnung dieser
Gestaltungskompetenz wird durch eine eingeschränkte Sprachkompetenz aber
naturgemäß zu einer Herausforderung. Gleichzeitig bringt es der Charakter
einer Querschnittsaufgabe mit sich, dass sie in anderen Fächern schon
behandelt wurde. Aus diesem Problemkomplex resultiert die Gefahr, Lerngruppen
inhaltlich zu unter-, sprachlich aber zu überfordern, insbesondere vor
dem Hintergrund der Tatsache, dass ökodidaktische Ansätze häufig eine
Auseinandersetzung mit kulturspezifischen Konzeptualisierungen von Natur
fordern und die damit oft einhergehende Verwendung von Metaphern2 die
sprachliche Komplexität noch erhöhen kann. Das Ausblenden der
Querschnittsaufgabe der nachhaltigen Entwicklung ist aber – nicht nur aus
Gründen der curricularen Festlegung – ebenfalls keine Option, da gerade der
Fremdsprachenunterricht (FSU) optimale Bedingungen für die Beschäftigung
mit fremden Umweltkonzeptionen oder -narrativen bietet.
Ein möglicher Ausweg aus dem skizzierten Dilemma, der im vorliegenden
Beitrag im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen soll, ist die Auseinandersetzung
mit Musikvideos. Audiovisuelle Produkte haben das Potenzial, dank
der Verbindung mehrerer Wahrnehmungskanäle im besten Fall rezeptionserleichternd
zu wirken.3 Bild und Ton sind Teil der Geschichte, die es zu
entschlüsseln gilt, weshalb der heutige FSU zunehmend auch die Kompetenz
des Sehverstehens, der visual literacy, in den Fokus nimmt (z.B. MSW NRW
2014). Nimmt man an, dass für die Auseinandersetzung mit Natur entsprechende
konzeptuelle Metaphern (Lakoff/Johnson 1980) wichtig sind, ist dabei
auch die Tatsache bedeutsam, dass die heutige Forschung sich zunehmend
multimodalen Metaphern widmet (z.B. Forceville/Urios-Aparisi 2009).
Interessant sind diese Metaphern für den Italienischunterricht unter den hier
1 Die Vorgaben gelten seit dem Abiturjahrgang 2017 bis mindestens zum Jahrgang 2024.
2 Cf. dazu Basseler (2014: 4): „[…] Zahlreiche Begriffe und Metaphern [prägen] diese
Diskussionen und somit unsere Vorstellungen von Umwelt und Natur maßgeblich […], wie
z.B. environment, pollution, green house effect oder carbon footprint. Diese Begriffe bzw. Konzepte
sind keinesfalls ‘naturgegeben‘, sondern Ergebnisse kultureller Aushandlungsprozesse und
sprachlicher Strukturen (s. Dryzek 2005)“.
3 Problematisch am Einsatz von Canzoni könnte allerdings die Gefahr sein, den
Musikgeschmack der SuS nicht zu treffen. Lieder dürfen daher nicht als ‘Allheilmittel‘
missverstanden werden.
metaphorik.de 33/2023
104
skizzierten Bedingungen deshalb, weil für sie keine sprachlichen, sondern
allenfalls kulturelle Hürden zu bewältigen sind.
Die italienische Webseite L’EcoPost (https://lecopost.it) scheint das Potenzial,
das Musik bzw. Musikvideos für die Auseinandersetzung mit Natur und dem
Thema Nachhaltigkeit besitzen kann bzw. können, erkannt zu haben. Mit der
Begründung, Musik habe „un impatto ambientale e, cosa più importante, può
contagiare le persone tramite la potenza delle note e delle parole”,4 stellt sie eine
Sammlung von Liedern zusammen, die sie als ansteckend im oben genannten
Sinne empfindet.5
Schon der Blick auf die Titel von vier hier exemplarisch zu behandelnden
Musikvideos bestätigt die Annahme, dass Metaphern in Liedern zur
Nachhaltigkeit eine substantielle Rolle spielen könnten, hier als RIESE, PICKNICK
IN DER HÖLLE, ERDSCHMERZ und SCHWESTER ERDE:
1. RIO e Fiorella Mannoia – Il gigante, 2010;
2. Piero Pelú – Picnic all’inferno, 2019;
3. Giorgia – Mal di terra, 2007;
4. Laura Pausini – Sorella terra, 2008.
Diese vier ausgewählten Lieder und die dazugehörigen Musikvideos sollen
auszugsweise und exemplarisch in Hinblick auf ihr Potenzial zur Beschäftigung
mit der Querschnittsaufgabe Entwicklung einer Gestaltungskompetenz für
nachhaltige Entwicklung im Italienischunterricht der Oberstufe beleuchtet
werden. Im Rahmen der theoretischen Grundlagen, aus denen Vorschläge für
die Behandlung im Unterricht abgeleitet werden sollen, ist es erforderlich, das
Thema Nachhaltigkeit zunächst zumindest überblicksartig didaktisch zu rahmen
und für den Sprachunterricht operationalisierbar zu machen. Kurze Ausführungen
zur sprachlichen und multimodalen Metapher sowie zum Hör- bzw.
Sehverstehen und der damit verknüpften Disziplin der Lieddidaktik sollen die
Grundlage bilden für die praxisbezogenen Ausführungen.
4 ‘Auswirkung auf die Umwelt, und, was noch wichtiger ist, sie kann die Menschen durch
die Kraft ihrer Noten und Wörter anstecken‘ [hier und im Folgenden eigene Übersetzung],
https://lecopost.it/vivere-green/consumo-sostenibile/canzoni-ambiente-na....
5 Das Bild der ANSTECKUNG verweist auf eine Teilkompetenz der Ökodidaktik, den Bereich
des Handels, auf die im weiteren Verlauf noch einzugehen sein wird.
Scheitza/Visser: Contagiare le persone
105
2. Theoretische Grundannahmen
2.1 Zu einer Didaktik der Nachhaltigkeit
Die Frage danach, ob für den deutschen Italienischunterricht bzw. FSU die
Existenz einer ‘Didaktik der Nachhaltigkeit‘ angenommen werden kann, ist
nicht einfach zu beantworten.6 Querschnittsaufgaben zeichnen sich in der Regel
dadurch aus, dass sie aus unterschiedlichsten disziplinären Traditionen
angegangen werden, die spezifischen Kompetenzerwartungen verpflichtet
sind. Dies führt zu einer terminologischen Konkurrenz und nur teilweise
deckungsgleichen Konzepten für den Unterricht. In Bezug auf den FSU zu
nennen sind hier beispielsweise die Ökodidaktik.7 Die Disziplin wurde wohl in
Anlehnung an ecocriticism (z.B. Garrard 22012) oder ecolinguistics (z.B. Mühlhäusler/
Fill 2006) geprägt. Darüber hinaus finden sich Termini wie
Environmental Learning (Basseler 2014), Globales Lernen (Danninger/Schank
2010), Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)8, Globale Entwicklung (KMK/
BMZ 22016) oder Umweltethik (Ißler 2020). Die Bezeichnungen heben z.T. stärker
auf den Aspekt der Ökologie ab, z.T. aber auch deutlicher auf den globalen
Charakter der darunter subsumierten Themen. Sie etablieren in unterschiedlichem
Maße Bezüge zu den SUSTAINABLE DEVELOPMENT GOALS der
6 Im Zielland Italien findet sie sich selbstverständlich unter Stichwörtern wie educazione
globale/civile/ecologica/ambientale (cf. Stegmüller 2021), educazione sostenibile (Tomarchio/
D’Aprile 2018).
7 Bzw. Ecodidactics, cf. Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 2014/129, Basseler (2014), Stegmüller
(2021) (für den Italienischunterricht).
8 „Seit den 1980er Jahren ist zunehmend von Globalem Lernen (GL) die Rede. Bis heute gibt
es jedoch keine einheitliche Definition. Globales Lernen ist ein neues, offenes, nicht
abgeschlossenes Konzept, das unterschiedliche Aspekte aus der allgemeinen Schulbildung mit
Inhalten aus der (entwicklungs-)politischen Bildung und der Umweltbildung vereint, mit dem
allgemeinen Ziel der Erweiterung des Bildungshorizontes. Das Konzept ist fächerübergreifend
und -verbindend und setzt auf Methodenvielfalt. Das Globale Lernen ist überwiegend
aus der entwicklungspolitischen Bildung heraus entstanden, die wiederum eng mit der
Dritte-Welt-Bewegung und den staatlichen wie nichtstaatlichen Entwicklungsorganisationen
verbunden ist. Das Konzept der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) ist vorrangig aus
der Tradition der Umweltbildung heraus erwachsen, für dessen Weiterentwicklung und
Umsetzung spielen v.a. die Natur- und Umweltschutzverbände eine wichtige Rolle.
Inzwischen vermischen sich beide Ansätze zunehmend und sind in der Praxis teilweise nicht
voneinander zu trennen“ (Danninger/Schank 2010: 12).
metaphorik.de 33/2023
106
Vereinten Nationen bzw. zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (Bundesregierung
2018).9
Der Orientierungsrahmen für den Lernbereich globale Entwicklung (KMK/BMZ
22016; cf. auch Stegmüller 2021) erarbeitet insgesamt elf anzubahnende Kernkompetenzen,
die er in die Teilbereiche Erkennen (1-4) – Bewerten (5-7) und
Handeln (8-11) unterteilt:
1. Informationsbeschaffung und -verarbeitung
2. Erkennen von Vielfalt
3. Analyse des globalen Wandels
4. Unterscheidung von Handlungsebenen [= Erkennen] (S. 159)
5. Perspektivenwechsel und Empathie
6. Kritische Reflexion und Stellungnahme
7. Beurteilen von Entwicklungsmaßnahmen [= Bewerten] (S. 160)
8. Solidarität und Mitverantwortung
9. Verständigung und Konfliktlösung
10. Handlungsfähigkeit im globalen Wandel
11. Partizipation und Mitgestaltung [= Handeln] (S. 161)
Die Dreiteilung ähnelt den in Anlehnung an Byram (1997) identifizierten
Teilbereichen interkultureller (kommunikativer) Kompetenz, nämlich savoir
(Wissen) – savoir être (Einstellungen) – savoir faire (Handeln), mit der Einschränkung,
dass der ökodidaktische Ansatz den Vergleich zwischen Kulturen nicht
explizit mitdenkt. Nach Basseler hat die Beschäftigung mit Umwelt eine
unmittelbar kulturelle Dimension: Die Umweltkrise ist für ihn eine kulturelle
Krise, denn:
Sie ist das Resultat bestimmter moderner sozio-ökonomischer Handlungspraktiken
und expansiver Kulturmodelle, welche wiederum auf
kollektiv geprägte Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Mensch
und Umwelt sowie bestimmten, daraus abgeleiteten ethischen
Modellen fußen (vgl. auch Mayer/Wilson 2006: 1). Jede Kultur legt
fest, wie sie ihre Umwelt deutet und handelt gemäß dieser Deutung
(Basseler 2014: 3).
9 Cf. hierzu die in KMK/BMZ (22016: 162f.) ermittelten Themenbereiche.
Scheitza/Visser: Contagiare le persone
107
Die für eine Ökodidaktik relevanten Bezugswissenschaften stellen die Frage
nach dem historisch gewachsenen und kulturell geformten Verhältnis zwischen
Mensch und Umwelt ins Zentrum:
Im Mittelpunkt steht die grundlegende Frage nach der Beziehung des
Menschen zu seiner Umwelt (dies gilt auch für solche Ansätze, die
sich von einer anthropozentrischen Perspektive lösen). […] Zentral
sind außerdem die Fragen nach dem menschlichen Einfluss auf die
Umwelt (besonders mit Blick auf environmental crises) sowie den
Möglichkeiten und Grenzen von Umweltschutz, sustainability, etc.
Dabei geht es in erster Linie um die moralisch-ethischen, sozialen und
politischen Dimensionen menschlichen Umweltverhaltens (ibid.: 4).
Da kulturell unterschiedliche Perspektiven auf Natur Umweltprobleme bedingen
können, hält Basseler Ansätze der interkulturellen Didaktik für geeignet,
sich dem Thema Umwelt, und damit auch dem Komplex der Nachhaltigkeit, im
Unterricht zu nähern (ibid.). Mögliche Gegenstände der Auseinandersetzung
sind „kulturelle Artefakte“ (2014: 4). Spezifische Vorstellungen von Natur
lassen sich aber auch aus der Sprache ablesen, wie die Disziplin der
Ökolinguistik in den letzten Jahrzehnten herausgearbeitet hat (z.B. Fill 1993;
Mühlhäusler 2003; Fill/Mühlhäusler 2006; Stibbe 22021).10 Die Konzeptualisierung
des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur manifestiert sich dabei
nicht zuletzt (insbesondere) auf der Ebene der Metaphorik.
In Bezug auf die Beschäftigung mit Nachhaltigkeit im Schulunterricht ist
allerdings ein Aspekt von großer Bedeutung: So wie in Arbeiten zur interkulturellen
Didaktik davor gewarnt wird, SuS in zu hohem Maße mit
‘Elendsthematiken‘ zu konfrontieren (Vences 2007: 8), positionieren sich einige
10 Beispielsweise heben Vertreter der Ökolinguistik hervor, dass die dichotomische Sicht auf
das Mensch-Umwelt-Verhältnis ein westliches Konstrukt zu sein scheint: „[D]ifferent groups
have tried to capture the relationship between humans and the environment in quite different
ways. These can be grouped into three pretheoretical classes of ideologies: (a) Humans are
controlled by nature; (b) humans are part of nature; and (c) humans control nature. For each
of these ideologies, particular ways of talking have developed and have become fossilized in
the lexicon and grammar of individual languages. Causative words (to kill, to cure, to teach,
to plant, to fill and many more) are dominant in languages of group (c) which means most
modern European or, as they have also been called, SAE languages, […]. In such languages,
humans are the prototypical agents in structural utterances, the most animate, ‚transitive’
beings […]. Lexical and grammatical devices to express the cause-effect type of causativity are
much less in evidence in languages where speakers subscribe to a worldview of type (a) or (b)
and animacy is not an attribute reserved for humans and useful animals” (Brockeimer/
Harré/Mühlhäusler 1999: 140).
metaphorik.de 33/2023
108
Autorinnen und Autoren zum Bereich Ökodidaktik kritisch gegenüber einer zu
dominanten Fokussierung auf ‘Katastrophenszenarien‘ (Küchler 2016: 180),
denn „diese einseitig negativen Attribuierungen, Bedrohung und die
populistisch-reißerische Darstellung in Massenmedien [können] recht deutliches
Desinteresse und Frustration, vielleicht gar Ängste hervorrufen“ (ibid.).
Die Frage, ab wann eine Thematisierung als zu dominant oder zu einseitig einzustufen
ist, kann nur zielgruppen- und themenspezifisch beantwortet werden.
Dennoch liegt auf der Hand, dass den SuS auch Optionen zum verantwortungsvollen
Umgang mit Krisen an die Hand gegeben werden sollten und es nicht
reicht, ihnen deren Existenz in zu ‘reißerischer‘ Form vor Augen zu führen. Eine
sehr emotionalisierende Auseinandersetzung mit den Gefahren eines nicht
nachhaltigen Umgangs beispielsweise mit Ressourcen, und hierbei spielen
Metaphern eine potenziell große Rolle, weil sie Emotionen ansprechen, sollte
nicht Überhand nehmen bzw. von der Lehrkraft und ggf. sogar den SuS
reflektiert werden, wenn sie sich in Texten manifestiert.
2.2 Metaphern und Nachhaltigkeit
In der Metaphern- und Metonymieforschung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt,
dass auch unser konzeptuelles System metaphorisch strukturiert ist
(Lakoff/Johnson 1980). Bestimmte Konzeptualisierungen basieren auf körperlichen
Erfahrungen, andere sind kulturell geformt.11 Für Umweltdiskurse
allgemein recht typisch ist die Personifizierung von Natur (cf. Döring 2005;
Visser 2010, 2020). Durch die bei einem metaphorischen Mapping stattfindende
Übertragung eines Bildes von einer Quell- auf eine Zieldomäne (Metapher)
bzw. eine Projektion innerhalb einer Domäne (Metonymie) (Spieß/Köpcke
2015: 2) findet eine spezifische Perspektivierung von Wirklichkeit statt, die
Lakoff/Johnson mit dem Begriffspaar highlighting/hiding charakterisieren (1980:
10ff.). Durch diese Perspektivierung können Metaphern und Metonymien
11 Einer der Gründe dafür, dass es, zumindest im deutschsprachigen Raum, vergleichsweise
viele Unterrichtsmaterialien zu BNE/Globalem Lernen im Spanischunterricht gibt (z.B.
Danninger/Schank 2010), dürfte darin liegen, dass zur Hispanophonie indigene Völker
gehören, die ein fundamental anderes Verständnis des Verhältnisses zwischen Mensch und
Kultur haben (z.B. Visser 2010; Danninger/Schank 2010) – man denke hier beispielsweise an
die Erdvorstellung der Mapuche (z.B. Arias-Bustamante/Innes 2021: 6). Die Alteritätserfahrung
ist in der Konfrontation mit diesen Konzepten folglich i.d.R. größer als bei der
Auseinandersetzung beispielsweise mit Naturdiskursen in Italien.
Scheitza/Visser: Contagiare le persone
109
bestimmte Frames12, beispielsweise der Bedrohung oder des Krieges, aufrufen
und auf diese Weise appellativisch und emotionalisierend wirken (z.B. Visser
2005). In Anbetracht der oben angeführten Tatsache, dass Nachhaltigkeitsdiskurse
ideologisch gefärbt sein und emotional geführt werden können
und es im Unterricht nicht darum gehen darf, ökologische Themen mit dem
Zweck der Durchsetzung vorherrschender Meinungen zu behandeln (Hammer
2012: 74; cf. Stegmüller 2021: 114), müssen Metaphern nicht nur in Hinblick auf
die Perspektivierung von Natur kritisch reflektiert werden, sondern allgemein
in Bezug auf ihr die Deutung von Wirklichkeit beeinflussendes, persuasives
und emotionalisierendes Potenzial.
Aus der metaphorischen Struktur des konzeptuellen Systems ergibt sich die
unmittelbare Schlussfolgerung, dass auch nonverbale Kommunikation (cf. z.B.
Müller 2008), Musik (z.B. Zbikowski 2009) oder Bilder (z.B. Forceville 2017;
Rimmele 2020) Metaphern beinhalten können. Natürlich kann die Metaphorizität
auch aus der Kombination von Sprache, Bild und Ton erwachsen.
Kognitive und multimodale Metapherntheorien sind zu komplex, um im
Italienischunterricht behandelt zu werden. Für die Beschäftigung mit Umweltund
Nachhaltigkeitsthemen erscheint es aber als zielführend, über das aus dem
Literaturunterricht bekannte Konzept der Metapher hinausgehend ein
Bewusstsein dafür zu kreieren, dass Naturvorstellungen kulturelle Konstrukte
sind und ihre Konstruktion nicht nur über Sprache, sondern auch über Lieder
oder Bilder erfolgt. Die Tatsache, dass sich in italienischen Texten manifestierende
Konzeptualisierungen von Natur nicht substantiell von deutschen
unterscheiden dürften, macht es für Lehrkräfte durchaus herausfordernd, die
SuS für den Konstruktcharakter zu sensibilisieren.
2.3 Sehverstehen
Die Bedeutung des Sehverstehens ist erst in jüngerer Zeit stärker in das
Bewusstsein von Fremdsprachendidaktikerinnen und -didaktikern gerückt.
Nach wie vor besteht die Tendenz, die Fähigkeit der visuellen Dekodierung an
12 Der Terminus Frame wird je nach Disziplin im Detail unterschiedlich verstanden (Busse
2009: 81). Hier wird damit auf im Denken verankerte Deutungsrahmen (Hoffmeister 2021: 95)
bzw. „allgemeine Strukturprinzipien der menschlichen Kognition“ (Busse 2009: 81) referiert,
die interpretationslenkend fungieren können.
metaphorik.de 33/2023
110
das Hörverstehen zu koppeln (cf. KMK 2012, MSW NRW 2014). Bilder selbst
haben im FSU zwar immer eine Rolle gespielt, wurden aber häufig auf die
Funktion des Unterrichtsmediums reduziert, statt das „Sehen als Bestandteil
interkultureller und transkultureller kommunikativer Kompetenz“ (Reimann
2016: 19) zu begreifen. Die Auseinandersetzung mit dem Sehverstehen in seiner
Wertigkeit im FSU muss daher nach wie vor als Desideratum formuliert werden
(ibid.: 22). Sehverstehen kann sich sowohl auf statische als auch bewegliche
Bilder beziehen. Es erfordert zahlreiche Kenntnisse, z.B. Welt- und soziokulturelles
Kontextwissen, Wissen über den Bedeutungsgehalt von Symbolen, aber
auch von Farben (cf. Kobbert 2019), oder – je nach Typus des Bildes – Kenntnisse
über Mal-, Film- oder Fotographie-Techniken. Stellen die Bilder Menschen dar,
wird darüber hinaus die Fähigkeit zur Dekodierung paralinguistischer
Elemente notwendig.13 Es ist somit ein Irrglaube, das Verstehen visueller
Elemente als stets ‘leichter‘ einzuschätzen als dasjenige von Texten (cf. z.B.
Rössler 2005: 4) – Bilder mögen für SuS aber potenziell ansprechender und
zugänglicher wirken. Sie sind je nach Bildtypus offener in der Interpretation
(ibid.) – dies gilt allerdings auch für den Text, wenn dieser mit sprachlichen
Bildern, d.h. Metaphern, spielt –, worin durchaus Potenzial für die Auseinandersetzung
mit Fragen der Nachhaltigkeit besteht. Zumindest im FSU
reduziert sich dadurch die sprachliche Barriere, wenn auch nicht immer die
kulturelle. Es ist in jedem Fall Reimann zuzustimmen, wenn dieser festhält:
„Sehverstehen […] kann […] einen unmittelbaren Beitrag zur gelingenden
transkulturellen Verständigung“ (2016: 7), auch über Umweltthemen, leisten.
2.4 Musik und interkulturelles Lernen
Analog zu bildlichen Elementen ist aber auch Musik in all ihrer Vielschichtigkeit,
bspw. in Bezug auf Melodik, Harmonik, Dynamik, Artikulation und
Instrumentation, nicht per se einfacher zu verstehen. Nichtsdestoweniger wird
das Potenzial von Musik für interkulturelles Lernen beispielsweise von
Volkmann (2019) und Badstübner-Kizik (2007) hervorgehoben. Nach
Badstübner-Kizik (2007: 26, cf. Volkmann 2019: 35) ermöglicht auch Musik das
Erfahren von Fremdheit. Gerade Lieder können zur „Entwicklung von Sinn-
13 Cf. dazu auch die Überlegungen von Reimann (2016: 24) in Anlehnung an Thaler (2007).
Scheitza/Visser: Contagiare le persone
111
und Wertvorstellungen“ beitragen (Timm 1998: 178, cf. Volkmann 2019: 33).14
Besonderes Potenzial liegt dabei in Mehrdeutigkeiten, die sich auf Ebene von
Titel und Inhalt manifestieren, aber auch in der Tatsache, dass beim Hören der
Töne Emotionen freigesetzt werden (ibid.: 33f.). Auch dabei muss sich der/die
Schüler*in der Tatsache bewusst sein, dass Lieder kulturelle Artefakte sind und
im Rezeptionsprozess in einer Weise dekodiert werden, die durch die eigene
kulturelle Vorprägung geprägt ist (ibid.: 38). Wer ein Lied hört, ist keineswegs
gezwungen, das Präsentierte ‘distanz- und kritiklos‘ (ibid.: 39) zu übernehmen,
sondern kann sich reflektiert und u.U. kritisch dazu positionieren. Jenseits des
Potenzials von Liedern für interkulturelles Lernen ist darüber hinaus selbstverständlich
darauf hinzuweisen, dass Lieder und Musikvideos durch die
Kombination verschiedener Wahrnehmungskanäle tiefer verarbeitet werden
können und unter Umständen besser an die Lebenswirklichkeit und Interessen
der SuS anknüpfen, als dies für Texte gilt.
2.5 Integrative Kompetenzschulung mit Liedern im IU
Wenn das Querschnittsthema der Nachhaltigkeit im Italienischunterricht anhand
von Musikvideos bearbeitet wird, findet zwangsläufig eine integrative
Kompetenzschulung statt: u. a. Schulung der Nachhaltigkeitskompetenz, des
Seh- und Hörverstehens, des (monologischen und dialogischen) Sprechens
(Bildbeschreibung, Diskussion), der Sprachlernkompetenz; vertiefende Verankerung
lexikalischer Einheiten und grammatikalischer Phänomene. Der Fokus
der nachfolgenden Ausführungen soll allerdings auf dem ökodidaktischen
Dreischritt WISSEN-BEWERTEN-HANDELN liegen.
3. Exemplarische Analyse des Potenzials von Musikvideos für die
Beschäftigung mit dem Thema Nachhaltigkeit
Insgesamt wurden vier der auf der Seite L’EcoPost15 aufgeführten Lieder
ausgewählt. Keine Berücksichtigung fanden ausländische Interpreten sowie
veraltetes Liedgut, in der Annahme, dass Letzteres den Geschmack der
14 Darüber hinaus lässt sich durch die Arbeit mit ihnen auch das Wortfeld Musik erschließen,
cf. z.B. Ecco 3 2017, 154-155.
15 https://lecopost.it/vivere-green/consumo-sostenibile/canzoni-ambiente-na....
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112
Zielgruppe nicht trifft. Zwei der exemplarisch ausgewählten Lieder werden von
männlichen, zwei von weiblichen Interpreten gesungen. Die Lieder der Sängerinnen
haben Untertitel. Die dazugehörigen Musikvideos bestehen aus Foto-
Abfolgen, während diejenigen der Sänger von bewegten Bildern begleitet sind.
Für alle hier ausgewählten Videos gilt, dass die Ebene des WISSENS bei der
Entwicklung exemplarischer didaktischer Ansätze keine nennenswerte Rolle
spielen wird. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass die gewählten
Produkte globale Phänomene behandeln, die den SuS der Oberstufe bekannt
sein dürften. Ihr Potenzial entfalten sie im Bereich BEWERTEN und HANDELN.
Bei den nachfolgenden Überlegungen geht es ausdrücklich nicht um das
Entwerfen konkreter Unterrichtsvorschläge, sondern um eine exemplarische
Sensibilisierung für das grundsätzliche Potenzial, aber auch die Grenzen des
Einsatzes von Musikvideos bei der Arbeit an Querschnittsthemen wie
demjenigen der Nachhaltigkeit.
3.1 RIO e Fiorella Mannoia: Il gigante
Der erste ausgewählte Song, Il gigante16, erzählt eine Geschichte: In dem
Musikvideo zum Lied läuft ein riesiger Roboter (im Text verbalisiert als gigante
‘Riese‘) in einer Stadt umher und verursacht dabei Zerstörungen (z.B. ‘1:17).
Menschen versuchen erfolglos, ihn mit technischen Mitteln (z.B. Hubschraubern)
aufzuhalten (z.B. ‘1:35). Dies gelingt erst einem kleinen Marienkäfer
(erstmals ‘2:46), der in das Herz des Roboters fliegt (‘3:08). Von dort breitet sich
Licht aus (‘3:13), das den Roboter zerstört. Nach der Zerstörung des Roboters
bricht erstmals die Sonne durch die Wolken (‘3:45). In Hinblick auf das Text-
Bild-Verhältnis liegt bei diesem Beispiel eine deutliche Redundanz vor (cf. Nöth
2000: 492), die den Vorteil mit sich bringt, dass wesentliche Teile des Lieds ohne
Textebene verständlich sind. Einige Textauszüge sollten aber bei der Arbeit mit
dem Video näher beleuchtet werden (s.u.).
Die Geschichte des Riesen wird eingeleitet durch Comicstrips, in denen eine
männliche Figur von einer Welt erzählt, die aus Mangel an Liebe und Zuneigung
erkrankt und von Kindern in einer Umarmung aufrecht gehalten wird:
16 Das Video findet sich unter https://www.youtube.com/watch?v=aVTdxDnbNfY.
Scheitza/Visser: Contagiare le persone
113
(1) Per la mancanza d’affetto e d’amore
Un giorno il mondo ebbe un malore […]
‘Aus Mangel an Zuneigung und Liebe wurde die Welt eines
Tages krank’.17
Die Rahmenerzählung ist sprachlich sehr komplex und für die Auseinandersetzung
mit dem Gigante letztlich auch nicht erforderlich, die dort auftretenden
Metaphern der kranken Erde und der Umarmung durch Kinder („un abbraccio
grande e rotondo“) bieten aber Anknüpfungspotenzial und zumindest die
ersten beiden Zeilen rufen den Frame der LIEBE auf, der im Video selbst eine
große Rolle spielt.
3.1.1 Metaphernanalyse
Metonymie und Metapher sind in Il Gigante eng miteinander verflochten. Die
Interpretation der sprachlichen Bilder ist herausfordernd, eine Tatsache, die für
die Diskussion im Unterricht durchaus von Vorteil sein dürfte: Der riesige
Roboter steht möglicherweise für Technologie und diese wiederum für damit
verbundene Umweltzerstörung. Er greift die Erde an und verschmutzt sie:
(2) Passa il gigante calpesta l’erba, di tutto il mondo
Passa il gigante sulle città si porta via lo sfondo
Passa il gigante soffoca l’aria, all’acqua cambia colore
[…]
Passa il gigante graffia le stelle, morde i pianeti
Passa il gigante che anche lassù, butta i suoi rifiuti
Passa il gigante sporca di nero, tutto quello che tocca
‘Der Riese kommt vorbei, zertrampelt das Gras, auf der ganzen
Welt. Der Riese zieht über die Städte und nimmt den
Hintergrund mit. Der Riese kommt vorbei, raubt die Luft zum
Atmen, ändert die Farbe des Wassers. […] Der Riese kommt
vorbei, kratzt die Sterne, beißt die Planeten. Der Riese kommt
vorbei, und auch da oben wirft er seinen Müll weg. Der Riese
beschmutzt alles mit Schwarz, alles, was er berührt‘.
Technologie wird anthropomorphisiert und als nicht kontrollierbar, wütend,
gnadenlos und zerstörerisch gezeichnet.
Nahrung findet der Roboter in der Gleichgültigkeit der Menschen (cf. Bsp. (1)):
17 Der Gesamtsongtext findet sich z.B. auf https://www.songtexte.com/songtext/rio/ilgigante-
4bbe3752.html.
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114
(3) Questo [pianeta] ha bisogno d'amore ’Dieser Planet braucht Liebe’.
Gestützt wird das Framing der Zerstörung durch die Farbwahl. Im
Zusammenhang mit dem Riesen dominieren Grün-, Grau- und Brauntöne.
Diese kontrastieren mit dem rot-schwarzen Marienkäfer, der Licht in den
Roboter trägt und ihn dadurch zerstört. LICHT dürfte für Liebe stehen und mit
Gleichgültigkeit kontrastieren. Der Marienkäfer selbst steht für jede(n)
einzelne(n) Zuhörer(in), der/die mit
(4) Tu dove stai ‘Du, wo bist Du?’
direkt angesprochen wird. Die den Riesen besingenden Verse ähneln Sprechgesang,
der Refrain ist im Gegenzug wesentlich melodiöser. Wenn sich in ‘2:46
der Fokus auf den Marienkäfer verschiebt, verschwindet vorübergehend die
Untermalung mit Schlagzeug. Auf Ebene der Musik lässt sich folglich der
Wechsel vom zerstörerischen, durch die Welt trampelnden Riesen zum
rettenden Marienkäfer nachzeichnen.
3.1.2 Ökodidaktische Ansätze
Auch wenn die Metaphern Interpretationsspielraum lassen, so scheint das
Musikvideo technologischem Fortschritt eine klare Verantwortung für Umweltzerstörung
zuzuschreiben. Es suggeriert darüber hinaus einen Kontrollverlust
von Seiten der Menschen. Im Unterricht kann diese Kausalattribuierung,
nachdem sie erarbeitet wurde, hinterfragt werden.
Il progresso tecnologico significa necessariamente una distruzione
ambientale? (‘Kann/Muss technologischer Fortschritt mit Umweltzerstörung
gleichgesetzt werden?‘)
Der ‘Moralapostel‘-Effekt, der in diesem Zusammenhang von Hammer (2012:
74, cf. Stegmüller 2021: 114) angeprangert wird, sollte durch eine kritische
Reflexion vermieden werden, u.a. weil Technologie Umweltzerstörung natürlich
auch zu verhindern helfen kann.
Die Zuhörenden, im vorliegenden Fall also die SuS, werden direkt angesprochen
(cf. (4)). Es ist zu vermuten, dass der Marienkäfer für die Individuen
steht, von denen jedes für sich einen Beitrag im Kampf gegen die Zerstörung
liefern soll – und sei er im Verhältnis noch so klein. Diese Konzeptualisierung
impliziert einen Appell, aktiv zu werden, und sollte ebenfalls nicht unkritisch
Scheitza/Visser: Contagiare le persone
115
stehen gelassen werden, beispielsweise, indem durch Fragen wie folgende über
den Handlungsspielraum einzelner Menschen nachgedacht wird:
Una coccinella (o ciò che rappresenta metaforicamente) può fermare la
distruzione? ‘Kann ein Marienkäfer (oder das, wofür er metaphorisch
steht) die Zerstörung aufhalten?‘
Ognuno può dare un contributo a fermare la distruzione ambientale?
‘Kann jeder einzelne einen Beitrag dazu leisten, die Zerstörung
aufzuhalten?‘.
Den Bogen von der Ebene des Bewertens zu derjenigen des Handelns könnte
durch die Suche nach einer Antwort auf die Textstelle
(5) Quale mondo vuoi? ‘Welche Welt willst Du?‘
gespannt werden. Hier könnten von SuS konkrete Zukunftsentwürfe verbalisiert
werden.18
3.2 Piero Pelù: Picnic all’inferno
Das Lied Picnic all’inferno19 fokussiert den Klimawandel. Es setzt sich zusammen
aus Versatzstücken englischer Reden von Greta Thunberg und dem
italienischen Songtext von Pelù. Aufnahmen zeigen konkret die Friday for
Future-Bewegung (z.B. ‘0:20, ‘0:20) abwechselnd mit dem grün gekleideten
Sänger, der durch die Stadt läuft (z.B. ‘0:57, ‘1:12), dabei einen Aufzug nutzt
(z.B. ’01:51), sich manchmal auch im Wald bewegt, und an einigen Stellen einen
Globus in der Hand hält (z.B. ‘2:15). Die Bildebene ist ausreichend, um den
Bezug zum Thema Klimawandel herzustellen, die Text-Bild-Beziehung ist aber
so komplementär (Nöth 2000: 492), dass die Beachtung des Textes, zumindest
diejenige des Titels, erforderlich ist.
18 In Anbetracht der Herausforderung, in wenigen Unterrichtsstunden viele Kompetenzen
integrativ zu schulen, hätten Aufgabenstellungen dieses Typs darüber hinaus das Potenzial,
den congiuntivo zu schulen. Da das Musikvideo Farben emblematisch einsetzt, bietet sich hier
auch eine Vertiefung der Lexik im Bereich der Farbadjektive (z.B. Ci siamo 2019, 308) oder des
Vokabulars zur Bildbeschreibung an (z.B. Ci siamo 2019, 282, oder Ecco 3 2017, 138-139).
19 Das Musikvideo findet sich unter https://www.youtube.com/watch?v=3x_A9RjBqJI, der
Songtext beispielsweise auf der Seite https://www.songtexte.com/songtext/pieropelu/
picnic-allinferno-g5388c301.html.
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3.2.1 Metaphernanalyse
Die englischen Passagen sind metaphorologisch uninteressant. Allerdings
findet sich auch in diesem Lied in der Formulierung
(6) You are never too small to make a difference.
eine Art Handlungsaufforderung an die Zuhörenden, die, wie in 3.1 ausgeführt,
aus ökodidaktischer Sicht problematisch werden kann und bei einem
potenziellen Einsatz des Videos im Unterricht bedacht werden sollte. Indirekt
findet durch die Passage
(7) You’ve ignored us in the past and you will ignore us again.
eine Zuschreibung der Verantwortung an die Politik bzw. Erwachsene statt.
Der KLIMAWANDEL wird präsentiert als AUFZUG(FAHRT) IN DIE HÖLLE. Dabei
sind Text (inferno) und Bild (Aufzug) komplementär angelegt. Die Erhitzung
führt zum Tod:
(8) Siamo cotti a fuoco lento ‘wir werden auf niedriger Flamme
gekocht‘.
(9) Siamo carne per avvoltoi ‘wir sind Fleisch für die Geier‘.
Das Vorgehen gegen den Klimawandel wird als KRIEG konzeptualisiert. Greta
Thunberg wird als Kriegerin, Wikingerin, manga bezeichnet.
(10) Piccola guerriera, scesa dalla luna/ Come una nave di vichinghi nella
notte scura/ Alla Casa Bianca, forte come un manga ‘Kleine Kriegerin,
die vom Mond herabgestiegen ist/ Wie ein Wikingerschiff in der
dunklen Nacht/ zum Weißen Haus, stark wie ein Manga‘.
Die Zuhörenden bewaffnen sich im ‘Krieg gegen die Gleichgültigkeit‘.
(11) Siamo sempre in guerra contro l’indifferenza ‘Wir befinden uns
immer im Krieg gegen die Gleichgültigkeit‘.
Auch hier sind es die indifferenten Menschen, die, als ‘wilde Tiere‘ dargestellt,
die Ursache für die Umweltproblematik zu sein scheinen:
(12) L’uomo è l’animale più feroce sulla terra ‘Der Mensch ist das
wildeste Tier auf der Erde‘.
3.2.2 Ökodidaktische Ansätze
Aus didaktischer Sicht hat das Lied von Pelù den Vorteil, dass die englischen
Passagen einfacher für die Zielgruppe verständlich sein werden und die im
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117
Titel enthaltene Metapher, all’inferno, die wesentliche Textaussage beinhaltet. In
der Interpretation offener ist das picnic. Es würde sich anbieten, als Aktivität vor
dem Hören (attività prima dell‘ascolto) über den Titel zu diskutieren:
Di che cosa tratta la canzone? Che cosa significa fare un picnic
all‘inferno? ‘Wovon handelt das Lied? Was kann es bedeuten, ein
Picknick in der Hölle zu machen?‘
Mit Blick auf die Kompetenzbereiche der Ökodidaktik ist hier eine Dominanz
des Bereichs HANDELN festzuhalten: Natürlich kann das Dargestellte reflektiert
werden; die SuS können sich zur FFF-Bewegung positionieren, sie können
die Situation in Bezug auf ihre Dringlichkeit bewerten. Die Konzeptualisierung
als AUFZUG(FAHRT) IN DIE HÖLLE, die Gestik des Sängers und die Tonhöhe sowie
Lautstärke führen jedoch zu einer deutlichen Emotionalisierung der Zuhörerschaft:
Singers also communicate ideas, attitudes and moods through their
voice qualities, their use of different pitch ranges, different kinds of
articulation, the notes they chose and different rhythms
(Andersson/Machin 2016: 372, cf. auch 380).
Allerdings ist es abermals die Emotionalisierung der Zuhörenden durch die
metaphorische, Bild- und Tonebene sowie die direkte Ansprache, derer sich die
Lehrkraft bewusst sein sollte und der sie didaktisch reflektiert begegnen muss.
Im Lied wird zweifellos ein Katastrophenszenario entworfen. Über ein mögliches
‘Wachrütteln‘ der Zuhörenden hinaus leistet der Song aber zu wenig, wenn
er im Unterricht nicht durch Aufgaben begleitet wird, die den SuS
Möglichkeiten zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit der Situation
aufzeigen.
3.3 Giorgia: Mal di terra20
3.3.1 Metaphernanalyse
Das Lied Mal di terra stellt ein Zeitalter, geprägt von einem ausbeutenden
Umgang mit der Erde (Soldi-Potere-Plastica-Rumore ‘Geld – Macht – Plastik –
Lärm‘ etc.), einer positiv gezeichneten vergangenen Epoche gegenüber (non
mancava niente ‘es fehlte an nichts‘, il mare era trasparente ‘das Meer war klar‘ etc.)
20 https://www.youtube.com/watch?v=qvNukquvhKM. Songtext: https://www.songtexte.com/
songtext/giorgia/mal-di-terra-7bd9fa3c.html.
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eingeleitet durch Mi ricordo ‘ich erinnere mich‘. Dieser Gegensatz wird über
Fotos von Städten, Pflanzen, Orten u.Ä. visualisiert, die metonymisch für
Raubbau an der Umwelt bzw. eine nicht beschädigte Umwelt stehen, aber nicht
dem Land Italien zugeordnet werden können. Auffällig ist darüber hinaus, dass
dieser Kontrast sich weitgehend in einer Verwendung von Schwarz-Weiß- vs.
Buntfotos widerspiegelt (z.B. ‘0:35 vs. ‘0:51; ‘0:47 vs. ‘0:53; ‘1:05 vs. ‘0:59; ‘1:05
vs. ‘1:33; ‘1:14 vs. ‘2:12; ‘1:15 vs. ‘2:17; ‘1:53 vs. ‘2:22; ‘2:02 vs. ‘2:24; ‘2:03 vs. ‘2:32;
‘2:05 vs. ‘2:40; ‘2:06 vs. ‘2:44) und auch in der Musik reflektiert wird: Die
Passagen zur Vergangenheit sind wesentlich melodiöser als diejenigen zur
Gegenwart.
Rekurrent auf Ebene von Bild und Text ist das Herz. Es steht in Form eines cuore
sterile ‘steriles Herz‘ (‘1:23) für den aktuellen Umgang mit der Erde. Die Erde
wird personifiziert: Sie fleht um Gnade, ist aber mit einem ‘eisigen Blick‘
konfrontiert:
(13) E la terra supplica pietà/Al nostro sguardo gelido.
STERILITÄT und EIS stehen hier metaphorisch für einen unbarmherzigen
Umgang mit der Umwelt; das Adjektiv steril kann dabei natürlich auch auf die
Folgen von Raubbau mit der Umwelt verweisen.
Die Bilder in ‘2:28 und ‘2:49, die ein Herz aus Wolken bzw. dem Planeten Erde
formen, stehen eher für den gewünschten Umgang mit der Erde:
ANGEMESSENER UMGANG MIT DER ERDE IST DIE ERDE ZU LIEBEN.
3.3.2 Ökodidaktische Ansätze
Es ist unschwer zu erkennen, dass auch dieses Musikvideo mit sehr plakativen
Gegensätzen sowohl auf Text- als auch Bildebene arbeitet. Wieder ist es ohne
Weiteres möglich, auch mit reduzierten Sprachkenntnissen die Kernaussagen
zu erfassen. Es erfüllt also grundsätzlich die Anforderungen, das Thema Nachhaltigkeit
im Italienischunterricht zu behandeln, auch wenn in diesem Fall
abermals ein Problem angesprochen wird, das nicht spezifisch für Italien ist. Es
ist jedoch auch hier festzuhalten, dass erstens sehr deutlich mit Katastrophenframes
gearbeitet wird und zweitens die Glorifizierung der Vergangenheit einer
Realitätsprüfung nicht standhalten dürfte bzw. die Tatsache ausblendet, dass
der Umgang mit Ressourcen in der Vergangenheit einen substantiellen Beitrag
zur Situation in der Gegenwart geleistet haben könnte. Es erscheint somit in
Scheitza/Visser: Contagiare le persone
119
Bezug auf den Kompetenzbereich BEWERTEN erforderlich, dies zu reflektieren,
beispielsweise, indem gefragt wird:
È conveniente l’assioma “tempi passati” = ambiente intatto? ‘Ist die
Gleichsetzung der vergangenen Epoche mit einer intakten Umwelt
angemessen?‘
Diese Frage könnte verbunden werden mit einer Rechercheaufgabe, die einen
konkreten Bezug zu Italien etabliert:
Quanti anni avrà Giorgia? Di quale periodo si ricorderà? Con
riferimento all‘Italia: si trovano altre immagini che rappresentino
quel periodo? È conveniente l‘assioma oggi = brutto, prima = buono?
Rispecchia la realtà? ‘Wie alt ist Giorgia? Was ist das für ein
Zeitfenster, an das sie sich ‚erinnern‘ kann? Bezogen auf Italien und
Italien: Ließen sich andere Bilder finden, die für diese Zeitspannen
stehen? Ist die Gleichsetzung heute = schlecht, früher = gut
angemessen? Spiegelt sie die Realität?‘
Je nach Meinungsbildung der SuS könnte sich daran eine Aufgabe anschließen,
die sich mit folgenden Fragen auseinandersetzt:
Se nel passato l’ambiente era più inalterato quali sono state le
regioni che hanno provocato la situazione attuale? A partire da
quando si può parlare di un’evoluzione problematica? ‘Wenn die
Umwelt in der Vergangenheit intakter war, was sind die Ursachen für
die heutige Situation? Und ab wann ist von einer problematischen
Entwicklung auszugehen?‘
Wie schon bei Il gigante könnte eine Reflexionsaufgabe auch darin liegen,
darüber nachzudenken, was es bedeutet, ‘die Erde zu lieben‘:
Che cosa significa amare la terra? Come si può mettere in atto
quell’appello? ‘Was bedeutet es, die Erde zu lieben? Wie kann dieser
Appell umgesetzt werden?’
Die Metapher des Herzens und die Aussage
(14) Vale la pena vale la terra / E salvare quello que ora resta / Di tanta
bellezza e tanto candore ‘Die Erde ist es Wert / und zu retten, was
noch übrig ist / von so viel Schönheit und Unschuld‘,
fordern abermals zum Handeln auf, aber auch hier muss sich die Lehrkraft
überlegen, ob sie im Unterricht diesen Appell ins Zentrum rücken möchte.
metaphorik.de 33/2023
120
3.4 Laura Pausini: Sorella terra21
3.4.1 Metaphernanalyse
Im Lied Sorella terra spricht die Sängerin die Erde direkt an, die als ‘Schwester‘
tituliert und damit als enges Familienmitglied konzeptualisiert wird. Der Text
ist trotz der Untertitel im Musikvideo aufgrund der komplexen Metaphorik
relativ schwer zu durchdringen und hebt sich damit von den anderen bisher
behandelten Beispielen ab. Bilder des Typs
(15) Ogni conchiglia oceano è/E poi, ogni foglia è un battito ‘Jede Muschel
ist ein Ozean/Und außerdem ist jedes Blatt ein Puls-Schlag‘
sind in der Interpretation sehr offen, unterstreichen im Fall des Pulsschlags aber
die Anthropomorphisierung der Erde.
Sorrella terra bricht sehr deutlich mit einer Dichotomisierung MENSCH –
UMWELT, aber in einer markierten Weise, weil das Konzept von MUTTER ERDE
wesentlich usueller ist als dasjenige der SCHWESTER. Mensch und Natur werden
als eine Einheit, gewissermaßen als FAMILIE, dargestellt, bei der der Mensch zur
Natur in einem Abhängigkeitsverhältnis steht. Auch wenn es den SuS nicht
gelingt, die Metaphorik des Textes im Detail zu verstehen, wird diese
Konzeptualisierung schon durch den Titel transportiert. Im Gegensatz zu den
vorangehenden Beispielen liegt der Fokus hier auf der positiven Darstellung
der Natur. Anders als in den vorherigen Videos arbeitet Pausini mit Gemälden
(ohne Angabe von Künstler:innen), die abermals ein idealisiertes, nahezu
kitschiges Bild zeichnen (z.B. ‘1:45, ‘3:23). Das Lied bedient den Topos des locus
amoenus, der den SuS möglicherweise aus dem Deutschunterricht bekannt ist.
3.4.2 Ökodidaktische Ansätze
Auch wenn hier also nicht, wie bei Giorgia, eine Gegenüberstellung von einem
vergangenen Paradies und einer heutigen Zerstörung gezeichnet wird, so ist die
visuelle Darbietung zweifellos idyllisiert und dürfte kaum den Geschmack der
SuS treffen, könnte also Gegenstand einer beschreibenden Übung und
kritischen Reflexion bieten, z.B.
21 https://www.youtube.com/watch?v=32Gp9TxXC2I, Songtext:
https://www.songtexte.com/ songtext/laura-pausini/sorella-terra-3ca5173.html.
Scheitza/Visser: Contagiare le persone
121
Vi piacciono le immagini? Pensate che si tratti di prodotti
contemporanei? ‘Gefallen Euch die Bilder? Glaubt Ihr, dass es
sich um zeitgenössische Werke handelt?‘
Um die spezifische Konzeptualisierung der Erde als SCHWESTER wahrzunehmen,
sollte diese im Unterricht ausdrücklich thematisiert werden.
3.5 Übergreifende Aufgabe
Die ausgewählten Lieder haben das Potenzial, Bewertungs- und Handlungskompetenz
auszubilden, sie referieren allerdings, wenn man davon absieht,
dass sie von italienischen Kulturschaffenden gesungen werden, nicht auf
spezifisch italienische Nachhaltigkeitsthematiken. Dies wird dem globalen
Charakter des Problemkomplexes gerecht, aber es böte sich natürlich an,
Aufgaben anzuknüpfen, die einen interkulturellen Vergleich anstoßen, wie dies
im Zusammenhang mit der Rechercheaufgabe in 3.3 vorgeschlagen wurde.
Die SuS könnten darüber hinaus Informationen darüber einholen, ob es im
deutschen Raum ebenfalls Kulturschaffende gibt, die sich dem Thema
Nachhaltigkeit widmen, sich darüber kundig machen, welchen musikalischen
Stilen diese zuzuordnen wären.
4. Fazit
Ziel des Beitrags war die Auseinandersetzung mit dem Potenzial von Musikvideos
für die Arbeit am Thema Nachhaltigkeit im Italienischunterricht. Die
vier ausgewählten Songs sind selbstverständlich nur bedingt repräsentativ für
entsprechendes italienisches Liedgut, aber die Tatsache, dass sie auf einer
einschlägigen Webseite gebündelt wurden, legt die Annahme nahe, dass sie als
prototypische Vertreter des Genres angenommen werden können.
Alle ausgewählten Beispiele zeichneten sich dadurch aus, sich inhaltlich nicht
auf spezifisch italienische Herausforderungen im Bereich Nachhaltigkeit zu
beziehen. Die Lehrkraft müsste hier also ergänzendes Material zur Verfügung
stellen, um den Bezug zum Zielland herzustellen und den Bereich WISSEN
abdecken zu können.
Drei der vier audiovisuellen Produkte belegen sehr deutlich, dass es auch für
sprachlich eingeschränkt ausdrucksfähige SuS sehr gut möglich ist, Metaphern
der Nachhaltigkeit zu bearbeiten. Auch wenn dies nur in Ansätzen angemerkt
metaphorik.de 33/2023
122
wurde, eignet sich die Beschäftigung mit dem Thema auch zur integrativen
Kompetenzschulung, beispielsweise zur Vertiefung grammatikalischen, lexikalischen
oder strategischen Wissens. Alle Beispiele zeigen zudem, dass sich die
Metaphern keineswegs auf die Textebene beschränken, es also wichtig und
zielführend ist, Bild und Musik in die Betrachtung einzubeziehen.
Die metaphorische Analyse hat deutlich gemacht, dass in dieser Art des
Nachhaltigkeitsdiskurses eine Personifikation der Umwelt bzw. Natur üblich
ist und dass diese als Opfer der Menschen bzw. der Zivilisation, manchmal aber
auch des technischen Fortschritts gezeigt wird. Drei Lieder betonen Handlungsoptionen,
bei denen alle, auch Kinder und Jugendliche, eine aktive Rolle einnehmen
können. Gerade dieses Ergebnis offenbart aber auch das Problem der
ausgewählten Musikvideos – vielleicht sogar des Genres allgemein: Sie zielen
auf ein sozial erwünschtes Verhalten (Küchler 2016: 183, cf. Ißler 2020: 117).
Darüber hinaus bedienen sie sich sehr emotionalisierender Metaphern. Hier ist
es unbedingt erforderlich, dass die Lehrkraft die Ebene des HANDELNS durch
kritische Reflexion begleitet, damit die Arbeit zum Thema Nachhaltigkeit im
Italienischunterricht nicht auf das Reproduzieren eines ‘Katastrophendiskurses‘
reduziert wird, sondern der Diskurs über Nachhaltigkeit ebenfalls
Gegenstand des gemeinsamen Arbeitens wird.
5. Literatur
5.1 Primärquellen
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https://www.youtube.com/watch?v=aVTdxDnbNfY (17.02.2022).
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Klimanarrative für den Literaturunterricht: Saci Lloyds Jugendroman The Carbon Diaries und seine Erzählungen im Gattungskontext der Dystopie

Julia Stetter

Ruhr-Universität Bochum (julia.stetter@rub.de)

Abstract

Bildung für Nachhaltige Entwicklung wird mittlerweile als fachübergreifendes schulisches Anliegen und nicht mehr nur als genuine Aufgabe der Naturwissenschaften verstanden. Tatsächlich können Literatur und insbesondere Klimawandelromane dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Im Rahmen dieses Aufsatzes werden Jugenddystopien mit Bezug zum Klimawandel untersucht, wobei ein Schwerpunkt auf Saci Lloyds Roman The Carbon Diaries liegt. Anknüpfend an eine lange literarische Tradition erfreuen sich aktuelle Jugenddystopien momentan einer besonderen Beliebtheit. Vor diesem Hintergrund analysiert der vorliegende Aufsatz Chancen und Grenzen ihres Einsatzes im Unterricht. Einerseits könnten die derartigen Dystopien das Bewusstsein für den Klimawandel und dessen Effekte erhöhen und Raum für Diskussionen über mögliche Handlungsoptionen schaffen. Andererseits verfolgen die meisten dieser Werke gleichzeitig ein typisches Coming-of-Age-Narrativ mit Themen wie erster Liebe oder Abenteuer, was potenziell vom Problem der Klimakrise ablenkt.


Education for sustainable development is supposed to be embedded in all high school core courses including German and English studies. Literature and especially climate change novels can make an important contribution in this context. This article examines young adult dystopias about climate change by focusing particularly on Saci Lloys’s novel The Carbon Diaries. Tapping into a long literary tradition, young adult dystopias have recently become very popular again. Against this backdrop, the article discusses the benefits and limits of reading and interpreting novels like The Carbon Diaries in the classroom. On the one hand, they might raise climate change awareness by illustrating the effects of global warming and initiating a discussion on possible actions. On the other hand, most of these dystopias are also coming-of-age stories which have a strong focus on themes like first love or adventure. This might lead to a distraction from problems of the climate crisis.

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Seite 127

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Klimanarrative für den Literaturunterricht: Saci Lloyds
Jugendroman The Carbon Diaries und seine Erzählungen im
Gattungskontext der Dystopie
Julia Stetter, Ruhr-Universität Bochum (julia.stetter@rub.de)
Abstract
Bildung für Nachhaltige Entwicklung wird mittlerweile als fachübergreifendes schulisches
Anliegen und nicht mehr nur als genuine Aufgabe der Naturwissenschaften verstanden.
Tatsächlich können Literatur und insbesondere Klimawandelromane dazu einen wichtigen
Beitrag leisten. Im Rahmen dieses Aufsatzes werden Jugenddystopien mit Bezug zum
Klimawandel untersucht, wobei ein Schwerpunkt auf Saci Lloyds Roman The Carbon Diaries
liegt. Anknüpfend an eine lange literarische Tradition erfreuen sich aktuelle Jugenddystopien
momentan einer besonderen Beliebtheit. Vor diesem Hintergrund analysiert der vorliegende
Aufsatz Chancen und Grenzen ihres Einsatzes im Unterricht. Einerseits könnten die
derartigen Dystopien das Bewusstsein für den Klimawandel und dessen Effekte erhöhen und
Raum für Diskussionen über mögliche Handlungsoptionen schaffen. Andererseits verfolgen
die meisten dieser Werke gleichzeitig ein typisches Coming-of-Age-Narrativ mit Themen wie
erster Liebe oder Abenteuer, was potenziell vom Problem der Klimakrise ablenkt.
Education for sustainable development is supposed to be embedded in all high school core
courses including German and English studies. Literature and especially climate change
novels can make an important contribution in this context. This article examines young adult
dystopias about climate change by focusing particularly on Saci Lloys’s novel The Carbon
Diaries. Tapping into a long literary tradition, young adult dystopias have recently become
very popular again. Against this backdrop, the article discusses the benefits and limits of
reading and interpreting novels like The Carbon Diaries in the classroom. On the one hand, they
might raise climate change awareness by illustrating the effects of global warming and
initiating a discussion on possible actions. On the other hand, most of these dystopias are also
coming-of-age stories which have a strong focus on themes like first love or adventure. This
might lead to a distraction from problems of the climate crisis.
1. Einleitung: Nachhaltigkeit, Literaturdidaktik, Jugenddystopien
„Das Fach Deutsch nimmt den Leitgedanken der nachhaltigen Entwicklung auf,
indem die Perspektive […] in der Textauswahl […] auf globale Entwicklungen
gerichtet wird.“ (KMK/BMZ 2016: 131) Dies legt in Deutschland der von der
Kultusministerkonferenz verabschiedete Orientierungsrahmen für den Lernbereich
Globale Entwicklung fest, der unter Bezug auf die 17 Sustainable Development Goals
(SDGs) der Vereinten Nationen Zugänge zu einer Bildung für nachhaltige
metaphorik.de 33/2023
128
Entwicklung (BNE) aufzeigt.1 ‘Nachhaltigkeit‘ umfasst innerhalb dieser
Festlegung auch eine kulturelle Dimension. Während man mit dem Begriff
sonst vor allem „eine Balance von ökologischer Schonung, sozialer
Gerechtigkeit und wirtschaftlichem Wachstum“ assoziiert, lässt sich ebenfalls
die Bedeutung kultureller Komponenten untersuchen (Rippl 2019: 314). Unter
diesen ist insbesondere auf den Wert literarischer Texte für einen an Nachhaltigkeit
orientierten Deutsch- und Fremdsprachenunterricht zu verweisen,
wie ein Blick auf Hubert Zapfs in der Literaturwissenschaft bereits etabliertes
triadisches Funktionsmodell nahelegt: Dieses schreibt Literatur drei
kulturökologische Teilfunktionen zu, nämlich die des kulturkritischen
Metadiskurses, die des imaginativen Gegendiskurses und die des
reintegrativen Interdiskurses. Literatur als kulturkritischer Metadiskurs dient
als „Sensorium und symbolische Bilanzierungsinstanz für kulturelle
Fehlentwicklungen, Erstarrungssymptome und Pathologien“, wobei vor allem
„kulturbestimmende Machtstrukturen und Ideologien“ in den Blick geraten
(Zapf 2015: 177–178). Literatur als imaginativer Gegendiskurs stellt
demgegenüber „das kulturell Ausgegrenzte ins Zentrum“, was mit Bildern von
„Natur, Unbewusstem, Körperlichkeit, Leidenschaft, Wandel, Bewegung,
Magie, Energie, Vielfalt, Kommunikation und Selbstartikulation“ einhergeht
und den Text zum „Experimentierfeld kultureller Vielfalt“ werden lässt
(ibid.: 178). Literatur als reintegrativer Interdiskurs verweist schließlich auf „die
Funktion der Literatur als Ort der Zusammenführung von Spezialdiskursen“
(ibid.: 179). Dass in unterschiedlichen literarischen Texten jeweils verschiedene
von Zapfs Teilfunktionen stärker ausgeprägt sind, könnte auch für die
Literaturdidaktik relevant sein. Beispielsweise sind Saci Lloyds Jugendbuch The
Carbon Diaries ebenso wie Dystopien allgemein insbesondere durch einen
kulturkritischen Metadiskurs geprägt (Morbach 2021: 44).
Grundsätzlich befindet sich die Entwicklung „einer kulturökologischen Literaturdidaktik
erst am Anfang“ (Wanning 2019b: 453).2 Entsprechend greifen
Lehrbücher für angehende Lehrkräfte in ihrer Mehrzahl Umweltthemen gar
nicht oder nur sehr bedingt auf und diskutieren diese z.B. nicht im Rahmen
1 Zur Entwicklung von BNE in Deutschland und ihrer Anbindung an Zielsetzungen der
Vereinten Nationen siehe Wanning (2019a: 295–311).
2 Für einen Überblick zur bisherigen kulturökologischen Literaturdidaktik siehe auch
Grimm/Wanning (2021: 85–100; 2016: 513–533).
Stetter: Klimanarrative für den Literaturunterricht
129
zentraler Prinzipien des Deutschunterrichts wie dem des Lebensweltbezugs
(ibid.: 434). Anhaltspunkte bietet demgegenüber neben dem bereits zitierten
Orientierungsrahmen der KMK ein von der UNESCO herausgegebenes
Handbuch zur Konzipierung von Schulbüchern für nachhaltige Entwicklung,
worin sich ein Kapitel dem Sprachunterricht widmet, was den
Literaturunterricht einschließt. Für letzteren wird darin als übergeordneter
Grundsatz festgelegt, „Literatur [zu] nutzen, um Schüler[I]nnen […] zu
kompetenten Entscheidungen und zu Handlungen als verantwortungsbewusste
Global Citizens zu befähigen.“ (UNESCO/MGIEP 2019: 192). Dies
impliziert die Förderung von „kritische[m] Denken und Interpretationsfähigkeiten“,
die „Klärung von Werten“ im Rahmen der
Beschäftigung mit Literatur, die „Entwicklung von Empathie und Einnahme
verschiedener Perspektiven“ sowie ein „[ö]kokritisches Lesen“, das den Blick
auf die Darstellungsweise „der natürlichen Umwelt“, ihres Verhältnisses „zu
sozialen und ökonomischen Perspektiven“ und der Mensch-Umwelt-
Beziehung richtet (ibid.: 192, 209).
Fragt man danach, mit welchen Texten man diese Ziele konkret umsetzen kann,
liegt ein naheliegender Ansatz in der Wahl von Gegenwartsliteratur mit Bezug
zum Klimawandel.3 Wie kaum ein zweites Thema zählt der Klimawandel mit
seinen lokalen wie globalen Auswirkungen zu den zentralen Herausforderungen
unserer Zeit. Laut Eva Horn verkörpert er eine neue Art von
Bedrohung, die man als „catastrophe without event“ bezeichnen könne, weil
der Klimawandel allgemein anders als bestimmte konkrete Extremwetterereignisse
– die jedoch natürlich im Rahmen des Klimawandels auftreten
– sich nur schwer in Bildern oder Geschichten einfangen lässt (2018: 55).
Überdies hat sich im 21. Jahrhundert ein anderes Bedrohungsempfinden
gegenüber Umweltkrisen herausgebildet, insofern in der Zeit ab 1970 herum
noch lokalisierbare Umweltkatastrophen wie Tschernobyl im Vordergrund
standen, wohingegen heutzutage die „Globalisierung der Umweltprobleme“
und die tendenzielle Einbeziehung aller Menschen als Mitverantwortliche zu
größerer Abstraktion führt (Wanning 2019b: 430–431). Umso relevanter ist, dass
Literatur verglichen mit naturwissenschaftlichen Teilen des Klimawandeldiskurses
LeserInnen auch emotional-affektiv ansprechen kann und auf die
3 Für eine Besprechung literarischer Werke und Filme mit Bezug zum Klimawandel siehe
Goodbody/Johns-Putra (2019). Siehe auch Dürbeck (2017: 333–341).
metaphorik.de 33/2023
130
„diversen sozialen, ökonomischen, politischen, psychologischen und ethischmoralischen
Erfahrungsdimensionen“ der Klimakrise eingeht (Mayer
2015: 233–234, 236).
Speziell im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur finden sich spätestens seit
den 1970er Jahren mit ihrem Paradigmenwechsel hin zu einer problemorientierten
Literatur Werke mit ökologischen Bezügen (Stemmann 2018: 282).
Auf breite Resonanz ist insbesondere Gudrun Pausewangs Jugendroman Die
Wolke (1987) gestoßen, der von der 14-jährigen Janna-Berta handelt, die sich
nach einem Reaktorunfall auf die Flucht begibt und in der Folge ihre Eltern und
ihren Bruder verliert. Insofern der Roman auf literarische Weise die
AntiAtomkraft- und Friedensbewegung verarbeitet, manifestiert sich in ihm
eine für die 1980er Jahre zeittypische Hybridisierung von Friedens- und
Ökologiebewegung, die sich unter dem Schlagwortbegriff Ökopax zusammenfassen
lässt.4 Ein dystopisches Setting, wie es sich in der Wolke und in
ähnlicher Form in Pausewangs gleichfalls beliebtem Roman Die letzten Kinder
von Schewenborn wiederfindet, hat nun in der aktuellen Kinder- und
Jugendliteratur einen erneuten Aufschwung erfahren. Tatsächlich zeichnen sich
gerade kinder- und jugendliterarische Werke mit Bezug zum Klimawandel
häufig durch dystopische Tendenzen aus, wie neben Saci Lloyds The Carbon
Diaries z.B. Jostein Gaarders 2084. Noras Welt, Anja Stürzers Somniavero oder
Sarah Raichs All that’s left belegen.5
Dass aktuelle Jugenddystopien verstärkt in den Unterricht integriert werden
sollten, ist bisher insbesondere von der Englischdidaktik gefordert worden. Im
Gegensatz zu kanonischen Dystopien, die unter dem Eindruck der Erfahrungen
mit totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts entstanden sind, adressieren
aktuelle Jugenddystopien vermehrt Gegenwartsprobleme und stiften jugendspezifisches
Identifikationspotenzial (Eisenmann 2018: 141; Matz 2014: 145). Da
„Dystopien fiktionale Zukunftsentwürfe sind, veralten diese thematisch“ (Matz
2014: 145), weshalb sich für Gegenstände wie den Klimawandel überhaupt nur
aktuelle Varianten dieses Genres anbieten. Kritische Stimmen erwägen
4 Zu Ökopax siehe Mende/Metzger (2012: 118–134).
5 Für eine aktuelle Sammlung dystopischer Werke mit Bezug zu bedrohter oder bedrohlicher
Natur, welche sich für den Deutschunterricht eignen, siehe Abraham (2021: 4–13). Für eine
entsprechende Unterrichtssequenz mit Bezug zum Klimawandel siehe Weiss/Radvan
(2021: 32–37).
Stetter: Klimanarrative für den Literaturunterricht
131
allerdings, ob die „ursprüngliche Funktion der Dystopie als Appell- oder
Warnerzählung“ in ihren neueren Versionen „eine zunehmende
Trivialisierung“ erfahre (Stemmann 2018: 287). Die gegenwärtigen Dystopien
stünden „weniger in der Tradition der klassischen Dystopien“, als dass man sie
als „Weiterentwicklung […] aktueller Literatur mit fantastischem Einschlag“
werten könne, etwa von Harry Potter oder Twilight (Schweikart 2012: 5–6).
Entsprechend deuten sich sowohl Grenzen als auch Chancen an, wenn man auf
der Suche nach neuen Texten für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung den
Einsatz von Jugenddystopien erwägt.
Diesen Chancen wie Kritikpunkten genauer nachzugehen ist Ziel des folgenden
Aufsatzes, was exemplarisch anhand von Saci Lloyds Jugendbuch The Carbon
Diaries geschieht. Die Carbon Diaries sind insofern vielversprechend für einen an
Nachhaltigkeit interessierten Deutsch- oder Englischunterricht, als dass sie
typische Adoleszenzthemen mit der Klimathematik verbinden, wodurch sie
potenziell sowohl Leselust wecken als auch Diskussionsanlässe zur Klimaschutzthematik
schaffen. In ihrem assoziativ-umgangssprachlichen Schreibstil,
der an eine speziell jugendliche Wahrnehmungsweise gebunden ist und sich
durch handlungsreiche Alltagsnähe auszeichnet, wirken sie geeignet, um
SchülerInnen lebensnah an Aspekte des Klimawandels heranzuführen oder mit
ihnen über diese in ein vertiefendes Gespräch zu gelangen.
2. The Carbon Diaries: Kurzvorstellung
Die Carbon Diaries spielen in einem fiktiven London im Jahr 2015, in dem nach
einem großen Sturm im Jahr 2010 strikte Energiesparmaßnahmen von der
Regierung implementiert werden. In der Romanwelt ist Großbritannien das
erste Land innerhalb der EU, das eine derartige Rationierung eingeführt hat.
Die Bevölkerung erhält Energiekarten, um die Einhaltung der vorgeschriebenen
Grenzwerte zu kontrollieren. Mit Hilfe von in den Wohnungen installierten
‘Smartmetern‘ können sich die Figuren mit ihren Energiekarten über ihre
verbleibenden Energiebudgets pro Monat informieren. Bei Überschreitung der
Konten droht die automatische Abschaltung bestimmter Leistungen durch die
Smartmeter. Der Roman ist als Tagebuchroman aus der Ich-Perspektive Laura
Browns verfasst und umfasst in zwölf Kapiteln die Monate Januar bis
Dezember.
metaphorik.de 33/2023
132
Abgesehen von der Klimathematik lassen sich die Carbon Diaries als klassischer
Coming-of-Age-Roman einordnen: Lauras Perspektive ist die eines 16-jährigen
Mädchens einer durchschnittlichen Mittelklassefamilie, die vor der Einführung
der Energierationierung durchschnittlich gut funktioniert hat, wobei Laura ihre
Welt sehr genau und teilweise ironisierend beobachtet und wiedergibt (Farzin
2019: 188). Ein zentraler Konflikt der Handlung ist daher, dass Laura einerseits
ein normaler Teenager sein möchte, dass sie aber andererseits in einer stark vom
Klimawandel gezeichneten Welt lebt, was Einschränkungen mit sich bringt. Als
‘Komplikation‘ der Handlung lassen sich die Rationierungsmaßnahmen
identifizieren, die zu einer Gegenüberstellung zwischen Regierung und
Bevölkerung bzw. Energiesparern und Energieverschwendern führen (Hollerweger
s.a.: 14, 16). ‘Faktoren der Komplikation‘ sind „Umweltkatastrophen
resultierend aus der menschlichen Umweltzerstörung“ (ibid.: 16). Eine
‘Auflösung‘ erfolgt schließlich „in Form eines allgemeinen Bewusstseinswandels“,
der von einer Zunahme an „Zusammenhalt und Solidarität“
begleitet wird (ibid.: 16).6 Die Folgen der Klimakrise bestehen aber weiter fort.
3. Die Klimakrise in den Carbon Diaries und ihre Rolle in
jugenddystopischen Narrativen
Die Klimakrise in den Carbon Diaries wird vor allem als eine Reihe von
Extremwetterereignissen geschildert, die Großbritannien, Europa und die USA
erfassen. Jahreszeitenabhängig kommt es zu Stürmen, Stromausfällen, Kälte,
einer Hitzewelle, Wasserknappheit, Waldbränden, einem Hurrikan und
Überschwemmungen. Insgesamt ähneln die Folgen des Klimawandels im
Roman in weiten Teilen denjenigen in der Realität. Beispielsweise findet sich im
Juli-Kapitel ein Zeitungsartikel mit der Überschrift „Feuer verwüstet Algarve“
(Loyd 2021: 198)7 und im August werden es in Birmingham 43 °C (CD 207). Die
Krankenhäuser „sind alle total überfüllt […], um all die Leute aufnehmen zu
können, die in der Hitze zusammenbrechen“ (CD 207). Während im Juni
„[w]ochenlang kein Regen“ (CD 143) fällt, können im November „die
6 Für eine Besprechung der Carbon Diaries im BNE-Kontext siehe auch die sechste
Veranstaltung der Virtuellen Akademie Nachhaltigkeit der Universität Bremen zum Bereich
Literatur, Filme, eGames und Nachhaltigkeit, https://www.vabne.
de/index.php/de/veranstaltungen/25-fiktive-erfahrungsraeume (16.10.2021).
7 Im Folgenden unter der Sigle CD.
Stetter: Klimanarrative für den Literaturunterricht
133
Abwässerkanäle die Regenmassen nicht mehr aufnehmen“ (CD 292). Einen
Höhepunkt erreicht das Extremwetter, als im Dezember bei einem Sturm das
Themse-Sperrwerk überflutet wird: „Millionen Londoner [sind] vom Stromund
Telefonnetz abgeschnitten. […] In der gesamten Stadt sind die Straßen
unpassierbar und mit Müll übersät, Autos treiben herrenlos in den Fluten
herum…“ (CD 323). In sozial-politischer Hinsicht kommt es als Folge der Krise
zu Unruhen, Demonstrationen und gewaltsamen staatlichen Gegenaktionen.
Im Februar ist zunächst nur „die Rede von Plünderungen“ (CD 41) nach einem
Stromausfall, doch im August notiert Laura: „Die Polizei hat mit scharfer
Munition direkt auf die Menge geschossen“ (CD 211), was im Zusammenhang
mit fehlendem Wasser in einem Londoner Stadtteil steht. Ebenfalls wird
dargestellt, wie auf individueller Ebene Familien unter den Folgen der Krise
leiden und drohen auseinanderzubrechen. In Bezug auf Lauras persönliche
Entwicklung bedeutet die Klimakrise zum einen, dass sie sich mit
Umweltaktivismus auseinanderzusetzen beginnt, wobei sie allerdings eine
gewisse Reserviertheit behält. Zum anderen stiftet die Klimakrise für Laura
neue Herausforderungen und Bewährungssituationen, die zu ihrer sozialen
Entwicklung beitragen und sie im Verlauf des Romans erwachsener werden
lassen. Auf Letzteres deutet ihr Eingehen einer Liebesbeziehung mit ihrem
vormals besten Freund Adisa gegen Romanende hin sowie ihre schließlich
veränderte Beziehung gegenüber ihrer Schwester Kim.
Insgesamt setzt sich das dystopische Narrativ der Carbon Diaries aus einer Krise
zu Romanbeginn, einer allmählichen Zuspitzung der Krise und schließlich einer
ansatzweisen Lösung zusammen. Die Klimakrise bildet zunächst den Ausgangspunkt
und das Setting, das zu Romanbeginn etabliert wird und das zu
Belastungen und Einschränkungen in Lauras Leben führt. Daraufhin entfaltet
sich die Handlung, die sich vor dem Hintergrund und teilweise in
Auseinandersetzung mit der Klimakrise vollzieht, wobei sich bestimmte
Handlungselemente wie etwa Lauras Streben nach einer Liebesbeziehung mit
Ravi tendenziell auch ohne die Klimakrise ereignen könnten. Während das im
Roman erzählte Jahr voranschreitet, wechseln sich verschiedene Extremwettereignisse
ab und Laura führt ihr Alltagsleben so gut es geht weiter. Im
Verlauf der Zeit kommt es zu einer zunehmenden Anspannung der
Gesamtsituation, was sowohl aus verschärften Wetterereignissen und sozialen
Unruhen als auch aus Konflikten in Lauras sozialem Umfeld resultiert.
Insbesondere die Überflutung Londons, die ab November thematisiert wird
metaphorik.de 33/2023
134
und im Dezember eintritt, führt zu einer Eskalation der Krise. Eine ansatzweise
Lösung besteht im Roman dann darin, dass zumindest Lauras Schwester Kim
vor dem Sterben gerettet wird und sich Lauras Nachbarn solidarisieren, um
Kim zu helfen und gemeinsam gegen die Anführerin des Energie-
Schwarzmarkts vorzugehen. Dieser im Narrativ zu erkennende Dreischritt aus
Krise, zugespitzter Krise und Lösung ist auch allgemein charakteristisch für
dystopische Narrative.
Bei prototypischen Dystopien ist es allerdings meist eher ein dynamischer
Wertekonflikt, der statt der Klimakrise zur Entwicklung der Handlung führt.
Das dystopische Narrativ setzt sich in diesem Fall aus den Schritten Devianz,
Konfrontation und Lösung zusammen (Zebhauser 2019: 55–56). Indem der
prototypische Dystopie-Protagonist von den Werten der erzählten Welt
abweicht und mit der darin bestehenden Ordnung in Konflikt gerät, entsteht
Spannung und eine Zuspitzung der Situation, was schließlich in einen
Konfliktausgang – positiver, negativer oder ambivalenter Art – mündet
(ibid.: 53, 55). Vergleicht man dystopische Klimanarrative bzw. allgemeine
ökologische mit prototypischen Dystopien besteht demnach ein Unterschied
darin, dass es bei ökologischen Dystopien nicht um die Auseinandersetzung
mit kulturell-politischen Ordnungen geht, die rebellierend hinterfragt werden
könnten: „Eine eingetretene ökologische Katastrophe kann […] nicht subversiv
unterminiert werden.“ (ibid.: 61) Da in den Carbon Diaries allerdings kein
apokalypseähnlicher Zustand vorgeführt wird, sondern lediglich drastische
Extremwetterereignisse, wären dort noch potenziell alternative Handlungsoptionen
denkbar, etwa indem sich die Menschen für mehr Klimaschutz
einsetzen, was teilweise auch geschieht. Bereits an den Carbon Diaries wird
jedoch ablesbar, dass eine Konfrontation mit einem umweltdystopischen
Setting tendenziell weniger schnelle Veränderungen durch die Handlung der
darin lebenden Menschen zulässt, als es bei politisch-kulturellen Dystopien der
Fall ist. Erklärbar wird dies dadurch, dass im Fall der Klimakrise bestimmte
Prozesse bereits unumkehrbar ausgelöst wurden und das Auftreten der
entsprechenden Folgen nicht mehr verhindert werden kann. Deutlicher wird
diese Tendenz zur fehlenden Handlungsmöglichkeit in dystopischen
Klimanarrativen z.B. anhand von Sarah Raichs Jugendroman All that’s left. Dort
befindet sich die Welt bereits in einem derart zerstörten Zustand, dass es für die
Protagonistin Mariana nach dem Verlassen ihres sicheren Hauses in München
nur noch um das eigene Überleben und dasjenige ihrer Mitstreiter und nicht um
Stetter: Klimanarrative für den Literaturunterricht
135
Klimaschutz geht. Wie schon im Fall klassischer Utopien wird derart auch bei
dystopischen Klimanarrativen die Statik der erzählten Welt potenziell zum
Problem, weil sie die Entwicklung einer dynamischen Handlung erschwert.8
Eine plötzliche Besserung der Folgen der Klimakrise wäre unglaubwürdig, ein
fortwährendes Zeigen des dystopischen Settings allein konstituiert jedoch noch
keine Handlung.
Um dennoch eine Handlung entfalten zu können, wird daher in den Carbon
Diaries und anderen dystopischen Klimanarrativen auf weitere narrative
Muster zurückgegriffen, die mit den dystopischen Narrativen vermischt
werden. In den Carbon Diaries kommt es etwa zu einer Hybridisierung mit
einem Coming-of-Age-Narrativ, wie noch auszuführen sein wird, während
Sarah Raichs All that’s left ein jugendliches Überlebensnarrativ erzählt. Letztlich
neigen jugenddystopische Klimanarrative damit bereits strukturbedingt dazu,
die Klimakrise zumindest stellenweise in den Hintergrund treten zu lassen,
weil sich die Dynamik ihrer Handlung oftmals zumindest teilweise aus anderen
als aus Klimaschutz-Aspekten heraus ergibt. Die Carbon Diaries treten damit
tendenziell in eine Nähe zu anderen Jugenddystopien, die zwar gleichfalls
durch ihr dystopisches Setting implizit gesellschaftskritisch auftreten, aber
letztlich ein Coming-of-Age-Narrativ oder anderweitige narrative Muster
stärker in den Vordergrund rücken. Als populäres Beispiel können Suzanne
Collins Die Tribute von Panem dienen, bei denen sich die „Leserschaft der Lust
am (Probe-)Handeln und Selbst-Behaupten in einer wertebedrohenden Welt
hingeben kann, deren Relation zur Gegenwartsgesellschaft jedoch vergleichsweise
unterbetont ist“ (ibid.: 60). Gezeigt werden darin Jugendliche, die sich in
tödlich endenden Spielen bekämpfen müssen, wobei sich zwei der Jugendlichen
aus Liebe ihrer gegenseitigen Tötung entziehen. Dass die Leserschaft der
Tribute von Panem auch Gefallen an manchen jugenddystopischen Klimanarrativen
finden könnte, weil dort teilweise in ähnlicher Art ein Lusterleben
stimuliert wird, lässt sich zumindest vermuten. Betrachtet man die Rolle der
Klimakrise in jugenddystopischen Narrativen, ergibt sich folglich, dass durch
die Hybridisierung dystopischer mit anderen Narrativen das Thema
Klimaschutz darin tendenziell stellenweise verdrängt wird, was auf Grenzen
jugenddystopischer Klimanarrative für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung
hindeutet. Dennoch weisen jugenddystopische Klimanarrative auch
8 Zur einer Kritik an der Handlungsentwicklung in Utopien siehe James (2003: 222).
metaphorik.de 33/2023
136
spezifische Chancen auf, sodass im Folgenden ihre Chancen und Grenzen für
eine Bildung für nachhaltige Entwicklung primär mit Blick auf die Carbon
Diaries näher untersucht werden sollen, um schließlich exemplarische
didaktische Implikationen zu ziehen.
4. Chancen und Grenzen jugenddystopischer Klimanarrative
4.1 Chancen jugenddystopischer Klimanarrative: Vor-Augen-Stellen
der Gefahren der Klimakrise
Als „Hauptanliegen der Dystopie“ allgemein gilt ihre „Diagnose und Kritik der
jeweiligen Gegenwart“, wozu „schreckenerregende Bilder“ vorgestellt werden,
um „präventives Handeln“ zu initiieren (Seeber 2013: 195). Angestrebt wird ein
„Vor-Augen-Stellen mittels Techniken der Veranschaulichung und eine
Sprache, die das Visionäre betont“ (Vosskamp 2013: 17). Auch jugenddystopische
Klimanarrative folgen diesem Anliegen, indem sie mögliche
Auswirkungen der Klimakrise im Rahmen einer fiktiven Geschichte vorstellen
und damit greifbarer werden lassen. Zwar können die Folgen des Klimawandels
bereits in der Realität anhand teils drastischer Bilder und
wissenschaftlicher Studien und Prognosen eingesehen werden, doch eröffnen
jugenddystopische Klimanarrative einen weiteren und alternativen Zugang.
Dazu greifen sie auf bestimmte literarische Strategien zurück, die sich je nach
konkretem Roman unterscheiden und die potenziell zu einer gesteigerten
Wahrnehmung der Folgen der Krise führen. In den Carbon Diaries besteht
beispielsweise eine dieser Strategien in einem Montageverfahren bzw. in der
Verwendung von Multimodalität, sodass neben Lauras eigenen Tagebuchaufzeichnungen
auch Zeitungsartikel, Notfallmeldungen, E-Mails und
Zeichnungen in den Roman eingebunden werden. Durch diesen Rückgriff auf
fingierte Quellen entsteht der Eindruck von größerer Realitätsnähe und
Authentizität, wodurch LeserInnen sich leichter betroffen fühlen können (Boller
2018: 93, 97).
Bereits vor Lauras erstem eigenen Tagebucheintrag findet sich in den Carbon
Diaries eine Doppelseite mit einem Ausschnitt aus einem Artikel im Boulevardzeitungsstil,
worin die geplanten Rationierungsmaßnahmen zu Beginn des
Jahres 2015 behandelt werden, sowie ein Diagramm zu den Zerstörungen durch
einen großen Sturm im Jahr 2010 (CD 6–7). Angekündigt wird im Artikel, dass
Stetter: Klimanarrative für den Literaturunterricht
137
Großbritannien das erste Land innerhalb der EU sein wird, das eine Energierationierung
auf 60% über ein Energiekartensystem einführen wird. Auffällige
Überschriften und Zwischenüberschriften wie „Jetzt geht’s los, Leute!“,
„Regierung legt Datum fest“ und „Was bedeutet das?“ bereiten die
Bevölkerung auf drastische Veränderungen vor, die in Zukunft von allen ohne
persönlichen Entscheidungsspielraum zu befolgen sind. Passend zu dieser
Darstellung zeugen auch Lauras erste Tagebucheinträge im Januar vor allem
von einer persönlichen Belastung durch die neuen Maßnahmen, die eine
Ausnahmesituation bedeuten und denen sie sich nicht widersetzen darf.
Überdies wird Lauras Situation mit Ereignissen auf europäischer Ebene in
Beziehung gesetzt. Beispielsweise leidet Laura unter der Kälte bei sich zu
Hause, da selbst „für die eine Heizungsstunde […] die Schlafzimmertemperatur
auf 12 °C begrenzt“ (CD 22) ist, während gleichzeitig in Europa die
Schneestürme zugenommen haben (CD 23). Stromausfälle in London
korrespondieren mit dem Zusammenbruch der Stromversorgung in Italien,
während man „[i]n den Nachrichten […] sehen [konnte], wie das Licht im
Vatikan ausging“ (CD 23). Die Klimakrise erscheint demnach als ein auch weit
über Großbritannien hinausreichendes Phänomen, dem Laura ausgeliefert ist
und das potenziell in seiner Realitätsnähe auch die Leserschaft betreffen könnte
oder diese bereits in ähnlicher Weise betroffen hat.
Mit Blick auf den Romanverlauf lassen sich drei Hauptstationen identifizieren,
in denen sich Laura mit unterschiedlichen Rationierungsmaßnahmen und
Extremwetterereignissen konfrontiert sieht. Sie bestehen aus Kälte, Stromausfällen
und allgemeinen Einschränkungen zu Romanbeginn, aus Wasserknappheit
und Wasserrationierung in den Sommermonaten und aus der
Überflutung Londons im Dezember. Diese Stationen sind so angelegt, dass sie
sich klimaktisch steigern, insofern im Sommer im Vergleich zum Romanbeginn
die Gewalt zugenommen hat und im Dezember ein normaler Alltag durch die
Überflutung nicht mehr möglich ist. Ein Vor-Augen-Stellen der Beeinträchtigungen
zu Romanbeginn geschieht in den Carbon Diaries unter anderem
durch die ausführliche Aufzählung der Maßnahmen, z.B. wie folgt:
Autofahrten sind stark eingeschränkt, PC, Fernseher, DVD- und CDPlayer
dürfen eigentlich nicht länger als zwei Stunden am Tag laufen
[…] und und und … Fliegen geht gar nicht und Shoppen und
Verreisen und Ausgehen sind auch nicht viel besser (CD 14).
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Die Darstellung der Wasserknappheit im Sommer gestaltet sich zunächst
ähnlich, wird dann aber mit der Abschaltung des Wassers für Privathaushalte
und insbesondere nach der Abschaltung der ersatzweise eingerichteten
öffentlichen Wasserzapfstellen im Viertel Lewisham ernster, in dem Lauras
Freund Adisa wohnt. Laura berichtet: „Ich habe solche Angst wegen Adi. Ich
habe den ganzen Tag über versucht, ihn anzurufen, aber er ging nicht dran“
(CD 211). Es ist diese Rückbindung an eine zur Identifikation einladende
persönliche Perspektive, die viele der Szenarien des Romans und die in ihnen
transportierten Emotionen – etwa auch im Fall von Lauras Steckenbleiben in
der U-Bahn wegen eines Stromausfalls (CD 37–40) – veranschaulichen und
derart ein abstraktes Wissen über die Folgen der Klimakrise um eine gefühlsmäßige
Einsicht in ihre Tragweite erweitern.
Zudem nehmen die Probleme der Bevölkerung im Verlauf der erzählten Zeit
allmählich in ihrer Brisanz zu. Letztendlich entwickelt sich der Roman
dahingehend, dass an die Stelle des früheren Vor-Augen-Stellens des staatlich
erzwungenen Verzichts schließlich lebensbedrohliche Gefahren treten, was
zeigt, dass die Klimakrise wesentlichere Auswirkungen als etwa nur eine
begrenzte Verfügbarkeit von PC, Fernseher, Heizung und Flugreisen
verursacht. Zwar wird dadurch, dass die Rationierungsmaßnahmen gegen
Romanende in den Hintergrund treten, nicht mehr nach politischen Lösungsansätzen
im Sinne von kollektiven Einschränkungen gesucht. Gezeigt wird
dafür aber, dass das gemeinsame Überleben Priorität haben sollte. So resümiert
Lauras älterer Nachbar Arthur: „Genauso war es auch im Krieg. Ich war jeden
Tag einfach nur dankbar, noch am Leben zu sein“ (CD 341). Inwiefern
allerdings der durch diese Verschiebung entstehende partiell positive Schluss
zu Grenzen für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung führt, wird noch an
späterer Stelle zu erörtern sein.
Verglichen mit anderen jugenddystopischen Settings ergeben sich beispielsweise
Überschneidungen der Carbon Diaries mit dem Jugendroman Dry, in dem
in Südkalifornien für mehrere Tage die Wasserversorgung abgestellt wird, was
dort als Tap-Out bezeichnet wird. Ähnlich wie Laura in den Carbon Diaries die
Wasserabschaltung vergisst, woraufhin sie gezwungen ist, „die Zahnpasta
aus[zu]spucken“ und die „Zähne mit dem Handtuch ab[zu]wischen“ (CD 207),
stellt sich auch die 16-jährige Alyssa in Dry zu Beginn des Tap-Outs erfolglos
unter die Dusche. Dabei habe sie „sogar an den Tap-Out gedacht“, aber es
Stetter: Klimanarrative für den Literaturunterricht
139
„nicht hingekriegt, einen Duschkopf mit einem Wasserhahn in Verbindung zu
bringen“, weil sie „morgens […] noch auf Autopilot“ laufe (Shusterman/
Shusterman 2020: 45). Ausgehend von der Beobachtung, dass alltägliche Dinge
in Zeiten der Klimakrise nicht mehr als selbstverständlich gelten, entwickeln
viele aktuelle Jugenddystopien verschiedene inhaltliche Schwerpunkte, wobei
sie unterschiedliche literarische Strategien nutzen. Beispielsweise werden in
Dry im Vergleich zu den Carbon Diaries die sozial-gesellschaftlichen Auswirkungen
der Wasserabschaltung noch stärker hervorgehoben. Während
bereits in den Carbon Diaries stellenweise Unruhen und Gewalt ausbrechen,
zeigt Dry noch ausführlicher die Veränderung der Menschen im Zustand ihrer
Dehydration. Diese vergessen im Kampf um Wasser ihre Menschlichkeit und
werden damit zu „Wasserzombies“, wie die Protagonistin Jacqui ausführt: „Ich
habe gesehen, wie ein alter Mann zu Tode getrampelt wurde. Ich habe gesehen,
wie eine Mutter dem Kind einer anderen Wasser gestohlen hat. Ich habe sogar
gesehen, wie ein Mann ein Messer gezückt und kaltblütig einen Fremden
erstochen hat“ (ibid.: 147–148). Wesentliches Mittel, um in Dry die Auflösung
der früheren Ordnung und Normalität vorzuführen, ist Multiperspektivität.
Neben den vier jugendlichen Ich-Erzählern des Romans werden kurze
Snapshot-Kapitel mit weiteren Betroffenen eingeführt, die einen möglichst
umfassenden Blick auf die Gesellschaft im Tap-Out-Zustand anstreben.
Eine andere von einigen Klimadystopien genutzte Strategie ist die Etablierung
einer melancholischen Sichtweise auf die außerliterarisch-reale Gegenwart, die
als Kontrastfolie für die literarische Gegenwart fungiert. Beispielsweise erinnert
sich die 15-jährige Mariana aus All that’s left wiederholt an frühere Möglichkeiten
zu unbeschwertem Konsum und Partyleben: „Alle hatten Essen, 50
Fernsehkanäle, jeden Tag fünf heiße Duschen, wenn man wollte. Die Leute
lagen an Schwimmbecken und tranken ständig irgendwelche tollen Getränke,
solche mit Obst am Glas und Schirmchen“ (Raich 2021: 9–10). Letztlich geht es
aber in All that’s left ebenso wenig wie in den Carbon Diaries um die Verherrlichung
ungebremsten Konsums, sondern die Erinnerung an diesen wird
vielmehr als psychische Ressource eingesetzt, damit Mariana die dystopische
Gegenwart überhaupt noch ertragen kann. Nachdem sie bereits am Ende des
ersten Kapitels Suizidgedanken hatte, dient der Rückblick auf eine heilere
Vergangenheit – etwa auch durch die Lektüre von Tolkiens Der kleine Hobbit
(ibid.: 289) – dazu, den eigenen Lebensmut nicht zu verlieren.
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Demgegenüber noch stärker umweltorientiert lesen sich Rückblicke in Jostein
Gaarders 2084. Noras Welt, die im Vergleich zu den Carbon Diaries insbesondere
an der durch die Klimakrise bedrohten Tier- und Pflanzenwelt Anteil nehmen.
Dort ist es die von der Protagonistin Nora erträumte fiktive Nova, die sich in
der Zukunft frühere Naturbilder aus Noras Gegenwart anschaut: „Sie sieht
unbeschreiblich schöne Aufnahmen des wimmelnden Lebens um die großen
Korallenriffs. Sie sieht Korallen, Weichtiere, Krebse, Seegras, Schildkröten und
Fische in allen Farben des Regenbogens“ (Gaarder 2020: 36). Dass derartige
Ökosysteme bewahrt werden sollten, ist dabei unverkennbare Botschaft des
Romans. Wenngleich insbesondere 2084. Noras Welt die Klima- und
Umweltthematik zum Kerngeschehen erhebt, stellen doch zusammenfassend
betrachtet immer mehr der aktuellen Jugenddystopien mögliche Folgen der
Klimakrise in eindrücklicher Weise vor Augen. Darunter zählen die Carbon
Diaries zu denjenigen Romanen, die mit ihrer Authentizitätsfiktion, ihren
verschiedenen sich steigernden Szenarien und Lauras spezifischem Teenager-
Blick um die Gunst der Leserschaft werben.
4.2 Chancen jugenddystopischer Klimanarrative: Reflexion über
Klimaschutz und mögliche Klimaschutz-Aktionen
Nicht alle jugenddystopischen Romane, die den Klimawandel in ihrem Setting
aufgreifen, beschäftigen sich auch in zentraler Weise mit Klimaschutz auf der
Handlungsebene. Ähnlich wie „die Präsentation der Weltuntergangs-Szenerie
in herkömmlichen dystopischen Science-Fiction Filmen als bloße Staffage für
die […] Abenteuer und Erlebnisse des Protagonisten“ (Layh 2014: 181) dient,
fungiert auch in manchen Klimadystopien die geschädigte Umwelt tendenziell
eher als Austragungsort für zwischenmenschliche Konflikte, soziale
Dynamiken und als Raum der Bewährung oder des Erwachsenwerdens.
Dennoch finden sich auch solche jugenddystopischen Narrative, die
Reflexionen über Klimaschutz stärker in die Handlung integrieren und dazu
ansatzweise auf Strukturen prototypischer Dystopien rekurrieren, wie sich am
Beispiel der Carbon Diaries zeigen lässt. Prototypische Dystopie-Narrative
zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen die „Dynamisierung der Handlung
[…] über das zunehmende Abweichen einzelner Figuren von der […]
normierten Gesellschaftsordnung“ erfolgt, wobei diese Abweichung auch „erst
allmählich“ eintreten kann (Zebhauser 2019: 49, 52). Bezogen auf die Carbon
Stetter: Klimanarrative für den Literaturunterricht
141
Diaries lässt sich analysieren, wie Laura im Verlauf der Handlung allmählich
von einer Gesellschaft abweicht, die in Bezug auf den Klimawandel nur auf die
Sicherung eigener Konsumwünsche bedacht ist, sich ansonsten unpolitischpassiv
verhält und sich als Opfer der staatlich vorgegebenen Energierationierung
betrachtet. Anders gesagt kommt es im Verlauf der Handlung zu einer
vorsichtigen Politisierung Lauras, woraus Auseinandersetzungen mit dem
Staat resultieren, der im Vergleich zu prototypischen Dystopie-Narrativen in
modifizierter Weise als Antagonist Lauras und weiterer Jugendlicher auftritt.
Nimmt man zunächst die Ausgangssituation der Carbon Diaries in den Blick,
unterscheidet sich Laura durch ihre ambivalente Haltung zur staatlichen
Rationierung deutlich von Klimaaktivistinnen wie Greta Thunberg oder der
fiktiven Nora aus 2084. Noras Welt. Obwohl auch im weiteren Romanverlauf
Laura nicht das Engagement von Greta oder Nora erreichen wird und ihre
Entwicklung hin zu mehr Klimabewusstsein einem mäandernden Prozess
(Boller 2018: 104) gleicht, wird ihre explizite wie implizite Kritik an den
Einschränkungen gerade zu Romanbeginn offenkundig. An einer Stelle verfolgt
Laura eine Nachrichtensendung über die Klimabilanz von Lebensmitteln, in der
eine Mango und ein Apfel gegenübergestellt werden. Ihre sprachliche
Darstellung belegt unverkennbar ihren Missmut, wenn sie von der „reife[n]
Mango“ und dem „verschrumpelten Apfel“ schreibt bzw. von einem
„40-Minuten-im-Laderaum-eines-verdreckten-englischen-Lkws-Apfel“ und
schließlich die Bilanz zieht: „das Leben verliert […] immer mehr an Glamour“
(CD 11–12). Insgesamt verhält sich Laura zu Romanbeginn folglich durchaus
prüfend und begutachtend, jedoch ohne selbst mehr als nötig Verantwortung
zu übernehmen. Ihre eigene Haltung fasst sie treffend zusammen: „Ich meine,
ich mach mir schon Gedanken, aber ich will auch was vom Leben haben“
(CD 46).
Die Entwicklung von Protagonisten in prototypischen Dystopie-Narrativen
erfolgt meist vor dem Hintergrund einer totalitären Gesellschaft. In paradigmatischen
Dystopien „durchläuft“ der Protagonist „einen Prozess der
Erkenntnis und damit der Persönlichkeitsveränderung, der unweigerlich zur
Konfrontation mit der Staatsmacht führen muss“ (Layh 2014: 165). Beispielsweise
wird eine totale Überwachung des Individuums neben George Orwells
1984 erneut in Juli Zehs Corpus Delicti dargestellt, wenn dort der Staat den Gesundheitszustand
des Einzelnen rigide kontrolliert und zur Staatsangelegenheit
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erhebt (ibid.: 160). Demgegenüber zeichnet sich der Staat der Carbon Diaries
durch eine größere Mehrdeutigkeit und Ambivalenz aus. Betrachtet man
primär die Darstellung der staatlichen Rationierungsmaßnahmen zu Romanbeginn,
könnte man annehmen, der Hauptkonflikt des Romans beruhe auf einer
„Individuum-versus-Staat-Struktur“ (Morbach 2021: 44). An die Stelle von Zehs
Gesundheitsdiktatur würde eine Art Klimaschutzdiktatur treten, wobei dann
eine zentrale Frage des Romans wäre, „wie weit ein Staat kontrollierend in das
Leben seiner Bürger[I]nnen […] eingreifen darf“ (ibid.: 45). Tatsächlich wird
diese Thematik vom Roman eingangs aufgeworfen, wie Lauras Auseinandersetzung
mit der Rationierung belegt. Letztlich zielen die Carbon Diaries aber
nicht wie Corpus Delicti auf eine implizite Verteidigung der Freiheitsrechte
einzelner, sondern das Hauptproblem am dortigen Staat ist ein anderes: Dieser
schafft es trotz umfassender Maßnahmen nicht in überzeugender Weise auf die
Klimakrise zu reagieren, weshalb sich Jugendliche in anderweitigen Protestaktionen
jenseits staatlicher Organisationsformen verbinden.
Dass der Staat der Carbon Diaries die Jugendlichen mit ihren Forderungen nach
mehr Klimaschutz nicht hinreichend repräsentiert, wird ersichtlich, wenn
Lauras Band-Freundin Claire ihr von ihrer Teilnahme an einer Demonstration
am Flughafen von Heathrow berichtet. Für das derartige Engagement der
Jugendlichen zeigt die Polizei jedoch kein Verständnis. Laut Claire haben die
Polizisten angesichts der um ein Flugzeug versammelten und aneinander
geketteten Demonstranten begonnen, „Leute zu Boden zu werfen. Sie haben das
richtig mit System gemacht – zwei von ihnen hielten einen Demonstranten fest
und dann kam ein Feuerwehrmann und schnitt die Kette durch“ (CD 101).
Daraufhin wurden die Demonstranten zwölf Stunden ohne Essen, Wasser oder
die Möglichkeit zu telefonieren festgehalten. Eine Berichterstattung wurde
unterbunden (CD 102). Autoritäre Züge sind am Staat der Carbon Diaries
demnach unverkennbar. Im Vergleich zu vielen der totalitären Staaten von
prototypischen Dystopien fehlt dem Staat der Carbon Diaries jedoch der Wille
zur vollständigen Kontrolle der Bevölkerung über deren Ideologisierung
mittels einer Staatsideologie.9 Nicht das Vorführen der Gefahren totalitärer
Regime ist Gegenstand des Romans, sondern geschaffen wird in ihm vielmehr
eine solche Situation, in der Klimaschutzbestrebungen eines tendenziell
9 Zur Unterscheidung von totalitären und autoritären Staaten siehe Atchison/Shames (2019:
33).
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autoritären und problematischen Staates scheitern, was eine eigene
Positionierung Lauras erforderlich macht.
Generell lassen sich die Protesthaltung und -aktionen der Jugendlichen aus den
Carbon Diaries als subkulturell und an eine Hardcore/Punk-Szene rückgebunden
beschreiben. Weniger geht es darum, dass tatsächlich ein Mitspracherecht
bei politisch-staatlichen Entscheidungsprozessen erworben würde,
sondern die Jugendlichen wollen vor allem ihr Nichteinverständnis mit der
Gesellschaft und deren Klimapolitik für alle sichtbar und provokativ zum
Ausdruck bringen. Bezeichnend für ihre nach außen hin inszenierte Ablehnung
konventionellen Konsums ist insofern ein Flyer, den Claire für den ersten
Auftritt ihrer Band Ditry Angels entwirft. Auf diesem steht unter ihrem Bandnamen
der Slogan „Euer schönes Leben kotzt uns an!“, was Laura kommentiert
mit „Geil! Wir schauten uns mit leuchtenden Augen an“ (CD 126). Betrachtet
man spezifischer Lauras Entwicklung zu mehr Klimabewusstsein, besteht diese
vor allem in einer Öffnung für die im Roman dargestellte Jugendprotestbewegung,
wobei sie insbesondere durch Claire und die Hardcore-
Umweltmusikerin Mia Metziger motiviert wird. Im Verlauf ihres Kontakts zu
Claire und Mia Metziger baut Laura Ressentiments ab, die sie anfangs gegen
die Umweltbewegung hat. So habe Claire zu Romanbeginn laut Laura eine
„Phase als streng fundamentalistischer Öko“ hinter sich und sei „total militant“
gewesen (CD 14). Man habe „in ihrer Gegenwart nicht mal ein Snickers
auspacken [können], ohne dass sie einem eine Predigt über hungernde
Kakaobohnenfarmer hielt“ (CD 14). Claire, die sich von derartigen Vorurteilen
nicht abschrecken lässt, versucht hartnäckig Laura für die Umweltbewegung zu
gewinnen. Gewisse Spannungen resultieren, etwa wenn Laura Claire fragt:
„Warum muss bei dir immer alles politisch sein, Claire?“ (CD 48). Als Antwort
erhält sie: „Weil alles politisch ist, Laura“ (CD 48).
Beeindrucken lässt sich Laura überdies insbesondere von der Musikerin Mia
Metziger, die sie während ihres ersten Band-Auftritts bei einem gemeinsamen
Konzert kennenlernt. Als Mitglied der Hauptband darf Mia Metziger ein
Interview geben, bei dem auch Laura zuhört. Im Gegensatz zu dieser bewertet
Mia Metziger die Rationierung in England positiv und grenzt sie vom
unzureichenden Klimaschutz in ihrer Heimat den USA ab: „[I]ch bin wegen
dieser ganz neuen radikalen Rationierungsszene nach London gekommen. In
den USA ist es total ätzend – […] jeder weiß, dass die Ölleute immer noch das
metaphorik.de 33/2023
144
Sagen haben in Washington“ (CD 152). Was Mia an der Hardcore/Punk-Szene
fasziniert und zu dieser geführt hat, beschreibt sie mitreißend: „Es war […] der
Zorn, die Wut, diese Haltung ‚Ja, ich bin echt sauer, ich bin nicht so glücklich,
wie DU findest, dass ich sein sollte, es ist nicht alles in Ordnung […]!‘ Das hat
mir echt gefallen, in einer Band zu spielen, […] an etwas teilzuhaben“ (CD 153).
Dass Laura sich mit dieser Aussage identifiziert, wird im Text offenkundig,
wenn sie schreibt, dass sie Mias Erläuterung über die Wut als „echt gut“ (CD
153) bewertet. Später wird sie darauf zurückkommen, um Adisa davon zu
überzeugen, auf Mias Angebot einzugehen, an einer gemeinsamen Tournee
teilzunehmen (CD 189). Deutlich wird, dass Laura von Mia nachhaltig bewegt
ist und ihre frühere Aversion gegenüber der Jugendumweltszene entsprechend
revidiert hat.
4.3 Grenzen jugenddystopischer Klimanarrative: Hybridisierung und
Konkurrenz mit einem Coming-of-Age-Narrativ
Wenngleich die Carbon Diaries eine jugendliche Öko-Punkbewegung ebenso
wie Maßnahmen zur Emissionsreduktion darstellen und mögliche Folgen der
Klimakrise anschaulich vor Augen führen, nehmen darin typische Adoleszenzthemen
ebenfalls einen hohen Stellenwert ein. Während z.B. Mia Metziger erst
im Juni-Kapitel, also ungefähr in der Mitte des Romans, auftritt, finden sich
Anmerkungen zu Lauras Schwester Kim bereits im Januar. Entsprechend
kommt der Handlung um Kim herum insgesamt deutlich mehr Aufmerksamkeit
zu, was sich insbesondere gegen Romanende manifestiert. Gleiches gilt
für Lauras Eltern und deren Ehekrise, die den ganzen Roman durchzieht.
Während überdies z.B. die Maßnahmen zur Rationierung vor allem zu
Romanbeginn beschrieben werden, wird während des gesamten Romans von
Lauras Streben nach einer romantischen Liebesbeziehung erzählt. Zudem treten
noch diverse Nebenthemen und -figuren auf, etwa die Schule und schulische
Schwierigkeiten Lauras, Feminismus und die Rolle von Frauen, Partnersuche
und Partnervermittlung in Zeiten der Krise sowie Lauras Freund Kieran und
ihr Nachbar Arthur. Möchte man die Carbon Diaries im Rahmen einer Bildung
für nachhaltige Entwicklung einsetzen, ergeben sich demnach offensichtliche
Grenzen, insofern der Roman neben der Klimakrise vielseitige weitere Gegenstände
behandelt, die potenziell das Thema Klimaschutz verdrängen und in
Konkurrenz zu diesem treten.
Stetter: Klimanarrative für den Literaturunterricht
145
Nicht nur in Bezug auf die Carbon Diaries, sondern generell ist im Hinblick auf
die meisten Jugenddystopien zu beobachten, dass sie ein klassisches Comingof-
Age-Narrativ umsetzen (Heinze 2018: 31). Dabei folgen die Romane tendenziell
einem standardisierten Muster, wenn sie einen Protagonisten zeigen, der
üblicherweise zwischen zwölf und 18 Jahren alt ist und sich mit typischen
Adoleszenzthemen beschäftigt, wie etwa Identitätskonstruktion und Selbstwert,
Unabhängigkeit, Verantwortung und einer kritischen Sicht auf die
Erwachsenenwelt (ibid.: 30). Wiederfinden lassen sich tradierte Gegenstände
von Adoleszenzromanen, wozu die nachstehenden zählen: „[D]ie Ablösung
von den Eltern“, die „Ausbildung eigener Wertvorstellungen“, „das Erleben
erster sexueller Kontakte“ und „das Entwickeln eigener Sozialbeziehungen
(Peergroup)“ (Gansel 2016: 7). Während verschiedene jugenddystopische
Klimanarrative unterschiedliche Schwerpunkte setzen, ist in allen eine Liebesbeziehung
oder zumindest eine an eine Liebesbeziehung grenzende Freundschaft
ein unverzichtbares Element. Zwar mag in prototypischen Dystopien
Liebe ebenfalls eine Rolle spielen, doch steht sie dort weniger im Vordergrund,
da stattdessen soziale und politische Überlegungen überwiegen (Heinze
2018: 32). Auch unterscheiden sich die Liebesbeziehungen jugenddystopischer
Narrative von solchen in prototypischen Dystopien dadurch, dass sie Liebe und
Partnerschaft vor dem Hintergrund jugendspezifischer Entwicklungsprozesse
modellieren, wie sich unter anderem in den Carbon Diaries zeigt. Hier muss die
jugendliche Protagonistin bzw. konkret Laura erst lernen, welche Erwartungen
sie an einen zukünftigen Partner stellt und wie sich erste romantische Gefühle
und Schwärmerei von einer seriösen und tragfähigen Partnerschaft unterscheiden.
Wie augenfällig die Carbon Diaries in weiten Teilen einem Coming-of-Age-
Narrativ folgen, wird exemplarisch ablesbar, wenn man Lauras Verhältnis zum
Nachbarsjungen Ravi und ihrem besten Freund Adisa mit Darstellungen in
Wolfgang Herrndorfs Jugendroman Tschick vergleicht, der als prototypisches
Coming-of-Age-Narrativ gelten kann. In Tschick ist es der 14-jährige Protagonist
Maik Klingenberg, der auf einer Reise mit einem gestohlenen Auto einen
Entwicklungsprozess durchläuft und dadurch unter anderem ein anderes Verhältnis
zu Mädchen erwirbt. Während er zu Beginn des Romans hoffnungslos
in die Klassenschönheit Tatjana verliebt ist, lernt er während der Reise Isa
kennen, die sich für ihn zu interessieren beginnt, woraus sich eine realistischere
Beziehungsperspektive als mit Tatjana ergibt. Ähnlich ist in den Carbon Diaries
metaphorik.de 33/2023
146
Laura anfangs unglücklich in Ravi verliebt, kommt im Gegensatz zur
Konstellation in Tschick allerdings zwischenzeitlich mit ihm zusammen und
entwickelt schließlich eine Liebesbeziehung mit ihrem besten Freund Adisa.
Was Laura und Maik teilen ist, dass sie beide im Verlauf der Romane erst lernen,
wer für sie als möglicher Partner für eine längerfristige Beziehung in Frage
kommt. Ihre anfängliche Schwärmerei für Ravi bzw. Tatjana offenbart zunächst,
wie Laura bzw. Maik den ersehnten anderen auf typisch adoleszente Weise
idealisieren, ohne ihn wirklich zu kennen. So schreibt Maik in Tschick über
Tatjana: „Sie sieht super aus. Ihre Stimme ist auch super. Sie ist einfach
insgesamt super. So kann man sich das vorstellen“ (Herrndorf 2021: 23).
Vergleichbar oberflächlich erläutert Laura zu Ravi: „Und er ist total süß. […] Er
sagt nur ganz selten was. Es macht mich wahnsinnig, wenn so ein süßer Typ
den Mund nicht aufkriegt“ (CD 16). Gegen Ende der Romane ergibt sich dann
eine veränderte Sichtweise, was sich in Tschick zeigt, wenn Maiks Freund dessen
fehlendes Selbstbewusstsein korrigiert: „Aber du bist doch kein Langweiler
[…]. Und Isa mochte dich ja auch sofort. Weil sie nämlich nicht so doof ist, wie
sie aussieht. Und weil sie ein paar Eigenschaften hat, wenn du weißt, was ich
meine. Im Gegensatz zu Tatjana“ (ibid.: 213). Ähnlich wie Maik in Tschick wird
auch Laura in den Carbon Diaries daran erinnert, ihren eigenen Selbstwert nicht
zu vergessen, wenn Adisa sie unter Bezug auf Ravi ermahnt: „Na gut, aber denk
dran, du bist besser als er“ (CD 157).
Abgesehen von der jugendspezifischen Darstellung von Liebesbeziehungen
besteht eine weitere Besonderheit vieler jugenddystopischer Narrative in ihrem
positiven Ende. Während Umweltthemen in der Kinder- und Jugendliteratur
zwar neuerdings vor allem in Form von Dystopien aufgegriffen werden,
ergeben sich in ihnen häufig utopische Wendungen (Glasenapp 2013: 79, 83).
Zum Ausdruck kommen derart trotz dystopischer Grundausrichtung
„Sehnsüchte[] von einer schöneren und besseren und heileren Welt“ (ibid.: 83).
Letztere resultiert in den Carbon Diaries jedoch nicht daraus, dass der Staat
schließlich mit seinen Rationierungsmaßnahmen erfolgreich würde oder dass
die Jugendumweltszene um Claire und Mia Metziger herum mit konstruktiven
Lösungen zum Klimaschutz beitragen würde. Vielmehr bleibt der schlussendliche
Optimismus der Carbon Diaries durchaus vage, insofern relativ allgemein
die Bedeutung von Liebe und Solidarität herausgestellt wird. Zwar mag dies
unausgesprochen die Bereitschaft zu Verzicht und Einschränkungen
Stetter: Klimanarrative für den Literaturunterricht
147
einschließen, ausdrücklich rücken aber eher Themen privater Natur, d.h.
insbesondere die Rettung Kims vor einem eventuellen Cholera-Tod, in den
Vordergrund. Am ehesten ergeben sich Anknüpfungspunkte für eine Bildung
für nachhaltige Entwicklung noch, wenn man die egoistische Haltung der
Bevölkerung zu Romanbeginn mit deren Bereitschaft zur gegenseitigen Unterstützung
gegen Romanende kontrastiert. So beanstandet Laura etwa zu Beginn:
„Und die ganze Zeit über sagen die Leute Sätze wie ‚Das Auto verkaufe ich
nicht, schließlich habe ich hart dafür arbeiten müssen‘“ (CD 15). Demgegenüber
prognostiziert Lauras Nachbar Arthur gegen Romanende unter Bezug auf den
Zweiten Weltkrieg: „in gewisser Weise waren es überaus glückliche Zeiten –
alle hielten zusammen in dem Bewusstsein, etwas Gutes für das Land zu tun.
Und so wird es auch dieser Generation jetzt gehen“ (CD 290).
Tatsächlich ist nach dem Rückgang der Überflutung zu beobachten, wie Lauras
Nachbarn in einer gemeinsamen Aufräumaktion „hacken, schaufeln, wegräumen
und Sandsäcke schultern“ (CD 336). Überdies attackieren sie gemeinsam
den Jeep der Anführerin des Energie-Schwarzmarkts, was als Zeichen
gewertet werden kann, dass sie das illegale Umgehen der staatlichen
Rationierungsmaßnahmen fortan nicht mehr billigen. Offenkundig wird diese
neue Haltung, wenn eine Nachbarin Lauras gegenüber der Jeep-Besitzerin
fordert: „Jetzt pack entweder mit an oder verpiss dich!“ (CD 343). Letztlich
belegt aber gerade die Rettung Kims und die damit verbundene Kooperation
von Lauras an sich zerstrittenen Eltern, dass in den Carbon Diaries wie in
anderen Jugenddystopien auch zwar ein deutlicher Wille zu einem positiven
Ende vorliegt, dieses Ende durch seine persönlich-emotionalisierende
Komponente jedoch tendenziell die Notwendigkeit politischer Lösungen auf
(inter-)nationaler Ebene verdeckt.
Weitere Grenzen jugenddystopischer Umweltnarrative für eine Bildung für
nachhaltige Entwicklung liegen überdies neben einer Hybrisisierung mit einem
Coming-of-Age-Narrativ in einer Hybridisierung mit einem jugendspezifischen
Überlebens- bzw. Abenteuernarrativ, wie ein Ausblick auf Romane wie Die
Welt, von der ich träume, All that’s left oder Dry belegt. Wie Jugenddystopien
generell – etwa Die Tribute von Panem – neigen auch viele jugenddystopische
Umweltnarrative zu einem Abenteuercharakter, was Spannung entstehen lässt
und im Rahmen von Bewährungssituationen Identifikationsangebote stiftet.
Beispielsweise begibt sich in Die Welt, von der ich träume die zwölfjährige Samaa,
metaphorik.de 33/2023
148
die in einer dystopischen Wüstenlandschaft ohne Bäume lebt, auf eine Fußreise,
bei der sie sich verläuft. Durchhalten und Überleben wird ihre Priorität: „Das
einzig Wichtige ist, voranzukommen. Nach Hause zu kommen. Nur das. Und
glauben. Woran? An alles, was mich davon abhält durchzudrehen“ (Pavlenko
2021: 54). Drastischer noch gestaltet sich der Kampf Marianas in All that’s left,
die in einer dystopischen Umgebung verletzt und dehydriert daherkriecht: „Ich
ziehe mich über den Boden, den linken Ellenbogen, die Hand nach vorn, Körper
hinterherziehen. Und wieder von vorn. Für alles andere fehlt mir die Kraft“
(Raich 2021: 160). Vergleichbar zeugt Alyssas Entschluss in Dry von ihrem
ungebrochenen Überlebenswillen: „Selbst wenn wir das Gefühl haben, wir
können nicht mehr, laufen wir einfach weiter“ (Shusterman/Shusterman
2020: 401). Möchte man Umweltdystopien im Rahmen einer Bildung für
nachhaltige Entwicklung aufgreifen, ist folglich zu berücksichtigen, dass diese
durch ihre deutliche Hybridisierung mit Überlebens- oder Coming-of-Age-
Narrativen häufig starke Angebote zum identifikatorisch-lustbetonten Lesen
machen, was vom Thema Klimaschutz ablenken kann.
5. Exemplarische literaturdidaktische Perspektiven
Dystopische Narrative und Settings sind nicht nur Teil der Freizeitlektüre vieler
SchülerInnen, sondern darüber hinaus auch in Spielfilmen und
Computerspielen sehr beliebt (Abraham 2021: 6–7, 11). Das Aufgreifen eines
Romans wie der Carbon Diaries oder einer verwandten Klimadystopie im
Literaturunterricht bietet den SchülerInnen demnach zahlreiche Anknüpfungspunkte
an eigene Lese- und Medienerfahrungen. Zwar kann im Unterricht
„nicht nur das Schicksal der Held[I]nnen […] im Fokus stehen“ (ibid.: 11), doch
geht es auch „nicht darum […], den Schüler[I]nnen […] ihre Begeisterung für
dystopische Romane auszutreiben“ (Rank 2014: 9). Eine ausschließliche
Reduktion jugendliterarischer Klimanarrative auf Nachhaltigkeitsfragen würde
entsprechend den wohl eher immersiven Lesemodus vieler SchülerInnen zu
wenig beachten. Als Ausgangspunkt der Beschäftigung mit dystopischen
Texten allgemein wird empfohlen, „die positiven Urteile ernst [zu] nehmen und
einen unvoreingenommenen Austausch entsprechender Leseerfahrungen [zu]
arrangieren“, woraufhin im Anschluss „die Erweiterung dieser primären
Erfahrungen“ erfolgen kann (ibid.: 9). Sicherlich ist eine didaktische
Schwerpunktsetzung hinsichtlich der Klimathematik legitim und geboten,
Stetter: Klimanarrative für den Literaturunterricht
149
wenn eine Bildung für nachhaltige Entwicklung angestrebt wird. Gleichwohl
gilt es die Primärerfahrungen der SchülerInnen mit den dystopischen Texten
ernst zu nehmen und eine Balance anzustreben, die Coming-of-Age- bzw.
Abenteuer-Gehalten ebenfalls Raum gewährt, um der Leselust der
SchülerInnen, ihren entwicklungsspezifischen Bedarfen und nicht zuletzt den
Werken selbst gerecht zu werden.
Für eine primär nachhaltigkeitsorientierte Sequenz zu den Carbon Diaries ist
beispielsweise ein Zweischritt denkbar, der in einem ersten Schritt die
Darstellung der Klimakrise im Roman und darin vorgeführte Lösungsansätze
behandelt, um im zweiten Schritt zu Grenzen der Romandarstellung und
alternativen Lösungsansätzen überzugehen. Die verschiedenen Extremwetterereignisse
und sich in ihrer Drastik steigernden Szenarios des Romans
evozieren ganz automatisch Vorstellungen davon, wie es ist, wenn man wie
Laura von den Folgen der Klimakrise unmittelbar betroffen wird. Durch
textnahes Lesen mit anschließendem literarischen Gespräch oder passenden
Schreibaufträgen kann entsprechend der von Spinner benannte Aspekt
literarischen Lernens gefördert werden „[b]eim Lesen und Hören Vorstellungen
[zu] entwickeln“ (2006: 8). Herauszuarbeiten ist neben der genauen
Darstellungsweise der Situationen im Roman – z.B. durch dessen Multimodalität
– vor allem, wie Laura die Einschränkungen und Extremwetterereignisse
persönlich erfährt, wie sie darauf reagiert – auch im Vergleich zu
ihrer Band-Freundin Claire, ihren Eltern und ihrer Schwester Kim – und wie
sich ihre Einstellung durch ihre Beziehungen zu Claire und Mia Metziger
verändert. Laut Spinner ist ein Vorteil von Fiktionen, dass man mit ihnen
„Eigenes […] verarbeiten [kann], ohne dass anderen deutlich werden muss, wie
groß der subjektive Anteil jeweils ist“ (ibid.: 9). Dass die SchülerInnen sich über
Rationierungsmaßnahmen und Umweltengagement zunächst anhand von
Lauras Reaktionen austauschen können, gewährt ihnen insofern einen
Schutzraum, der ihnen erlaubt, vermittelt über ein Gespräch über Laura eigene
Haltungen zu reflektieren. Gleichfalls kann über die Auseinandersetzung mit
Laura und weiteren Figuren die z.B. vom Kernlehrplan NRW ausgewiesene
Kompetenz gefördert werden, „in literarischen Texten zentrale Figurenbeziehungen
und -merkmale […] textbezogen [zu] erläutern“ (KLP 2019: 26),
sodass sich eine Verbindung aus literarischem Lernen mit Zielen einer Bildung
für nachhaltige Entwicklung ergibt.
metaphorik.de 33/2023
150
Um im zweiten Schritt zu den vom Roman dargestellten Lösungsansätzen
Stellung zu nehmen – sowohl zu den staatlichen Rationierungsmaßnahmen als
auch zu den Aktionen um die Jugendprotestbewegung um Claire und Mia
Metziger herum – kann zunächst weiteres Wissen in Form von Internetrecherchen
oder durch die Hinzuziehung zusätzlicher Sachtexte und Grafiken
erarbeitet werden. Zentral scheint zum einen die Frage, was Jugendliche selbst
tun können, um zu mehr Klimaschutz beizutragen, da vor diesem Hintergrund
ein differenzierteres Urteil über Lauras Verhalten und der im Roman dargestellten
Jugendprotestbewegung möglich wird. Gleichzeitig erhalten die
SchülerInnen über die Erarbeitung von alternativen Möglichkeiten jugendlichen
Klimaengagements positive Perspektiven für eigenes Handeln. Zum
anderen sollte aber auch der Frage nachgegangen werden, welche Optionen der
Staat für mehr Klimaschutz hat. Wenn etwa am Ende der Carbon Diaries der Jeep
der Energieschwarzmarkt-Anführerin Tracey Leader von den Nachbarn
attackiert wird, ist offensichtlich, dass diese Handlung allein nicht reicht, um zu
einer langfristigen Lösung der Klimakrise zu gelangen. Die SchülerInnen
könnten diskutieren, was den Nachbarn darüber hinaus anzuraten ist und wie
viel Verantwortung dabei der Einzelne und wie viel der Staat übernehmen
sollte. Letztlich wird es im unterrichtlichen Umgang mit jugenddystopischen
Narrativen darum gehen, diese nicht nur als Warngeschichten zu lesen, sondern
diese über entsprechende Unterrichtsarrangements zu Möglichkeitserzählungen
werden zu lassen10, in dem Sinne, dass statt Resignation Strategien
zum Handeln – sowohl für den Einzelnen als auch für den Staat sowie
überstaatliche Kooperationen – eröffnet werden.
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Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht. Auf Spurensuche nach dem sprachdidaktischen Potenzial einer Metapher

Christian Hoiß

Ludwig-Maximilians-Universität München (christian.hoiss@lmu.de)

Abstract

Der ökologische Fußabdruck ist ein häufig verwendetes Hilfsmittel bei der Darstellung erdsystemischer Auswirkungen durch den Menschen. Er verdeutlicht, wie individuelle und kollektive Lebensstile die Erde langfristig beeinflussen, dient also als Messinstrument dafür, wie umweltverträglich oder -schädlich bestimmte kulturelle Praktiken sind. Der ökologische Fußabdruck ist im öffentlichen Diskurs zum allgemein anerkannten Indikator für nachhaltiges Handeln avanciert, der z.B. in Medien und Bildung rege aufgegriffen wird, um Reflexionsprozesse anzustoßen. Wie die rechnerische Komplexität des Instruments selbst bleibt auch die sprachliche Komplexität der Metapher des ökologischen Fußabdrucks in der Regel unreflektiert.
Das nur dem ersten Anschein nach einfache Bild verweist auf eine Vielzahl kognitiver Strukturen und normativer Implikationen. Neben einer Analyse der Metaphorik des ökologischen Fußabdrucks und einer kulturwissenschaftlichen Kritik zeigt der Beitrag Wege auf, wie in diesem Kontext sprachliche Lernprozesse initiiert werden können.


The ecological footprint is a frequently used tool in the representation of man-made effects on the Earth system. It illustrates how individual and collective lifestyles influence the Earth in the long term, thus serving as a measuring instrument for how environmentally compatible or harmful certain cultural practices are. The ecological footprint has become a generally recognized indicator for sustainable behaviour in public discourse which is actively picked up in the media and in education in order to initiate self-reflective processes. Like the mathematical complexity of the ecological footprint, the linguistic complexity of the metaphor does usually not receive any attention either. The only seemingly simple image points to a multitude of cognitive structures and normative implications. In addition to an analysis of the metaphorical content of the ecological footprint and a critique from the perspective of cultural studies, the article shows ways in which language learning processes can be initiated in this context.

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Seite 185

185
Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht.
Auf Spurensuche nach dem sprachdidaktischen Potenzial einer
Metapher
Christian Hoiß, Ludwig-Maximilians-Universität München
(christian.hoiss@lmu.de)
Abstract
Der ökologische Fußabdruck ist ein häufig verwendetes Hilfsmittel bei der Darstellung erdsystemischer
Auswirkungen durch den Menschen. Er verdeutlicht, wie individuelle und
kollektive Lebensstile die Erde langfristig beeinflussen, dient also als Messinstrument dafür,
wie umweltverträglich oder -schädlich bestimmte kulturelle Praktiken sind. Der ökologische
Fußabdruck ist im öffentlichen Diskurs zum allgemein anerkannten Indikator für nachhaltiges
Handeln avanciert, der z.B. in Medien und Bildung rege aufgegriffen wird, um Reflexionsprozesse
anzustoßen. Wie die rechnerische Komplexität des Instruments selbst bleibt auch die
sprachliche Komplexität der Metapher des ökologischen Fußabdrucks in der Regel unreflektiert.
Das nur dem ersten Anschein nach einfache Bild verweist auf eine Vielzahl kognitiver
Strukturen und normativer Implikationen. Neben einer Analyse der Metaphorik des ökologischen
Fußabdrucks und einer kulturwissenschaftlichen Kritik zeigt der Beitrag Wege auf, wie
in diesem Kontext sprachliche Lernprozesse initiiert werden können.
The ecological footprint is a frequently used tool in the representation of man-made effects on
the Earth system. It illustrates how individual and collective lifestyles influence the Earth in
the long term, thus serving as a measuring instrument for how environmentally compatible or
harmful certain cultural practices are. The ecological footprint has become a generally
recognized indicator for sustainable behaviour in public discourse which is actively picked up
in the media and in education in order to initiate self-reflective processes. Like the
mathematical complexity of the ecological footprint, the linguistic complexity of the metaphor
does usually not receive any attention either. The only seemingly simple image points to a
multitude of cognitive structures and normative implications. In addition to an analysis of the
metaphorical content of the ecological footprint and a critique from the perspective of cultural
studies, the article shows ways in which language learning processes can be initiated in this
context.
1. Einleitung
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde der ökologische Fußabdruck ein häufig
verwendetes Hilfsmittel bei der Darstellung erdsystemischer Auswirkungen
durch den Menschen. Er verbildlicht den langfristigen Einfluss individueller
und kollektiver Lebensstile auf die Erde, dient also als Messinstrument dafür,
wie umweltverträglich oder -schädlich bestimmte kulturelle Praxen sind (cf.
Wackernagel/Beyers 2010). Zugleich ist das Errechnen des ökologischen Fußabdrucks
selbst mittlerweile als kulturelle Praxis zu bezeichnen (cf. Girvan
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2018), denn im öffentlichen Diskurs ist er zu einem allgemein anerkannten
Indikator avanciert, der neben den Medien vor allem auch in der Bildung rege
aufgegriffen wird, um Reflexionsprozesse anzustoßen und Verhaltensweisen
zu regulieren (cf. u.a. Lambrechts/van Liedekerke 2014; McNichol/Davis/
O‘Brien 2011).
Dabei bleibt die Komplexität des Instruments jedoch in der Regel genauso
unberücksichtigt wie seine sprachliche Beschaffenheit; beides tritt oft zugunsten
(vermeintlich) leicht verständlicher Zahlen in den Hintergrund. Bei der
Feststellung eines bestimmten Verbrauchs wird beispielsweise von „vier
Erden“ pro Jahr gesprochen, wenn eine Person, Institution, Nation etc. so viel
Ressourcen verbraucht, dass man auf die ganze Weltbevölkerung gerechnet die
Ressourcen von vier Erden bräuchte, damit diese Bedürfnisse langfristig gestillt
werden und die Ökosysteme sich ausreichend erholen können (cf. Abbildung
2). In diesem Zusammenhang werden Chancen und Lernpotenziale im didaktischen
Kontext bislang nur vereinzelt aufgegriffen (cf. Kirchhoff/Mölter/Hoiß
2022). Gerade die sprachlichen Implikationen, die die Metapher des ökologischen
Fußabdrucks transportiert, bieten Anlass zu kritischer didaktischer
Reflexion.
Nach einer Begriffsbestimmung und der Beschreibung seiner naturwissenschaftlichen
Grundlagen (1) erfolgt daher im vorliegenden Beitrag eine Analyse
der Metapher des ökologischen Fußabdrucks (2). Die anschließende kulturwissenschaftliche
Kritik (3) mündet in einer Beschreibung des Potenzials des
Konzepts für das sprachliche Lernen (4). Der Beitrag endet mit einem Plädoyer
für ein neues deutschdidaktisches Forschungsparadigma, das neben konventionellen
Lernzielen auch eine tiefere Auseinandersetzung mit globalen kulturellen
Zusammenhängen im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung
(BNE) einfordert (5).
2. Der ökologische Fußabdruck: Grundlagen
Die globalen Umweltveränderungen durch den Menschen sind seit den 1950er
Jahren in allen Bereichen exponentiell gestiegen (cf. Steffen et al. 2015). Es
besteht eine deutliche Korrelation zwischen einer wachsenden Population der
Spezies Mensch, zunehmender menschlicher Aktivität (Düngereinsatz, Energieverbrauch,
Dammbau, Wasserverbrauch, Papierproduktion, Mobilität, Tourismus,
Transport etc.) und den globalen Veränderungen des Erdsystems
Hoiß: Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht
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(Konzentration atmosphärischen Kohlenstoffdioxids bzw. von Stickoxiden und
Methan, Übersäuerung der Meere, Verlust tropischen Regenwaldes etc.). Diese
Trends stehen in unmittelbarem Zusammenhang zum Aufkommen neuer
Lebensstile, sie haben also anthropogene Ursachen:
Die Explosion der Weltbevölkerung, globale Infrastrukturierung und
ökonomische Globalisierung sowie wohlfahrtsgesellschaftliche Konsumeskalation
gehen Hand in Hand mit dem Kollaps von Ökosystemen,
der Verschwendung von Ressourcen, dem Artensterben
und der Erderwärmung (Kersten 2014: 17).
Häufig wird daher in der Wissenschaft metaphorisch artikuliert, dass der Planet
unter Druck stehe (A Planet Under Pressure; cf. Steffen et al. 2004). Ein Instrument,
um diesen Druck des Menschen auf die Erdsysteme zu messen, ist der ökologische
Fußabdruck. Da er den Verbrauch natürlicher Ressourcen mit wissenschaftlichen
Methoden erhebt, wird er auch als Nachhaltigkeitsindikator verstanden.
Der Begriff stammt ursprünglich aus der Sozialbiologie und beschreibt
die ökologische Tragfähigkeit (ecological carrying capacity) bzw. Regenerationsfähigkeit
von Systemen bzw. Lebensräumen, misst also die größtmögliche Zahl
an Lebewesen, die auf unbestimmte Zeit in einem definierten Lebensraum
nachhaltig leben können und diesem Raum durch ihre Existenz keinen langfristigen
Schaden zufügen (cf. Hardin 1991).
Mathis Wackernagel und William Rees entwickelten daraus ein Rechenmodell,
mit dessen Hilfe sich die notwendige Land- und Wasserfläche errechnen lässt,
die man benötigt, um den Ressourcenverbrauch der Menschen sowie die daraus
entstehenden Schädigungen und Belastungen für die Ökosysteme zu kompensieren.
Weil nicht jede räumliche Einheit über die exakt gleiche Produktivität
(also Trag- und Regenerationsfähigkeit) verfügt, werden sowohl der jeweilige
Fußabdruck als auch die Biokapazität standardisiert in globalen Hektar (gha)
berechnet. Ein globales Hektar entspricht einem Hektar biologisch produktiver
Oberfläche (etwa Heiden, Wiesen, Wälder, Gewässer etc.), angepasst an die
weltweit durchschnittliche Produktivität (cf. Wackernagel et al. 2019). Die
Methode des ökologischen Fußabdrucks stellt also einen Versuch dar, die
Nachfrage der Menschen in Bezug auf die natürlichen Ressourcen – was dann
als Fußabdruck dargestellt wird – in Zahlen zu fassen und mit den vorhandenen
regenerativen Kapazitäten der Erde ins Verhältnis zu setzen (cf. Galli et al. 2007:
250).
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Seine Erfinder, Mathis Wackernagel und William Rees, haben das Konzept 1994
ausgearbeitet und seitdem hat es sich zu einem der weltweit führenden Messinstrumente
für den globalen Ressourcenverbrauch durch den Menschen entwickelt.
2003 wurde von Wackernagel (und Susan Burns) das Global Footprint
Network gegründet, ein NGO und Forschungseinrichtung, die neben aktuellen
Berechnungen jedes Jahr den Tag ermittelt, an dem rechnerisch die Jahresressourcen
der Erde für die aktuell lebende Zahl an Menschen aufgebraucht
sind. Der Tag ist als Earth Overshoot Day (dt.: „Erdübernutzungstag“) bekannt.
Das war im Jahr 2021 der 29. Juli, was bedeutet, dass die Menschheit an allen
restlichen Tagen des Jahres über ihre Verhältnisse gelebt hat. „Measure what
you treasure” ist daher das Motto der Forschungseinrichtung Global Footprint
Network, die das Konzept des ökologischen Fußabdrucks mit Daten unterfüttert
und als Open Source zur Verfügung stellt sowie international aktive Businessund
Politikberatung für Nachhaltigkeit und Klimaschutz betreibt.
Im Zentrum der Bemühungen des Global Footprint Networks steht die Frage, wie
viel der regenerativen Kapazität des Planeten durch menschliche Aktivität
beansprucht wird. So werden Aussagen generiert, die den kollektiven oder
individuellen Verbrauch mit einer bestimmten Anzahl an ‚Erden‘ ins Verhältnis
setzt. Was vom Prinzip her einfach klingt, ist in der genauen Bestimmung sehr
komplex. Die zugrundeliegenden volkswirtschaftlichen und umweltwissenschaftlichen
Parameter sowie die notwendigen statistischen Erhebungen werden
für die landläufig verwendeten sogenannten Fußabdruckrechner enorm
vereinfacht, was als didaktisches Verfahren der Informationsreduktion zu
werten ist, zugleich aber ungemein voraussetzungsreich ist (cf. Kirchhoff/
Mölter/Hoiß 2022). In den Rechnern – Abbildung 1 zeigt einen Ausschnitt aus
dem Fußabdruckrechner des Global Footprint Networks (cf. York University
Ecological Footprint Initiative/Global Footprint Network 2022) – werden von
den Nutzer:innen unterschiedliche Bereiche des Lebens beleuchtet (z.B. Ernährung,
Mobilität, Wohnen). Fragen wie „Wie oft essen Sie tierische Produkte?“
werden über mehrstufige Antwortskalen (z.B. zwischen „nie“ und „sehr
oft“) beantwortet und schließlich individuell quantifiziert, sodass man am Ende
erfährt, wie hoch der eigene Verbrauch in globalen Hektar ist oder wie viele
Erden man bräuchte, wenn alle Menschen so lebten wie man selbst (cf.
Abbildung 2).
Hoiß: Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht
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Abb. 1: Ausschnitt aus dem Fußabdruckrechner des Global Footprint Networks (Creative
Commons Lizenz)
Abb. 2: Mögliches Ergebnis nach Beantwortung der Fragen im Fußabdruckrechner des
Global Footprint Networks (Creative Commons Lizenz)
Im pädagogisch-didaktischen Kontext ist jedoch durchaus kritisch zu betrachten,
dass die diversen Fußabdruckrechner vor allem auf eine individuelle Verhaltensänderung
oder -regulierung abzielen. So erfolgt auch der schulische
Einsatz der Rechner oft noch nach der umweltpsychologisch und politisch
naiven Vorstellung, das bloße Wissen über die Höhe des eigenen Ressourcenverbrauchs
führe zu nachhaltigen Veränderungen beim Individuum und
dass diese Veränderungen große Auswirkungen auf Phänomene wie den
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Klimawandel haben. Diese einseitige Beanspruchung des Individuums für
globale Probleme lässt jedoch außer Acht, dass insbesondere auf politischstruktureller
Ebene Veränderungen notwendig wären, auf die gerade im
Unterricht näher einzugehen wäre. Auch Jana Tereick sieht darin eine starke
Tendenz, ethisch-moralische Verantwortung beim Individuum anzusiedeln,
etwa indem man den eigenen Abdruck verbessert. Zudem erkennt sie im
ökologischen Fußabdruck vor allem einen Handlungsappell an das Individuum,
das einen weniger tiefen Fußabdruck hinterlassen und diesen durch Kompensationsleistungen
ausgleichen solle (cf. 2016: 361).
Zugleich ist festzuhalten, dass diese kulturelle Praxis des Errechnens des
individuellen Fußabdrucks nicht dem Grundanliegen der Erfinder des ökologischen
Fußabdrucks entspringt. Denn zum einen wurde das Instrument des
ökologischen Fußabdrucks geschaffen, um vor allem für Regierungen, Firmen
und andere Organisationen eine wissenschaftlich fundierte und nachvollziehbare
Aussage darüber treffen zu können, wie hoch und wie (wenig) nachhaltig
ihr Ressourcenverbrauch in verschiedenen Bereichen und im Vergleich
z.B. zu anderen Ländern ist. Zum anderen legen seine Erfinder großen Wert
darauf, Vorwürfe zu entschärfen, dass sie mit ihrer Methode Menschen eine
bestimmte Art des Lebens (z.B. eine asketischere) vorschreiben möchten und
bekräftigen, dass ihr Instrument „keine vorgefertigte Moral“ (Wackernagel/
Beyers 2010: 12) habe. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich
hinter den Anliegen eines guten und erfüllten Lebens für alle normative
Implikationen verbergen, sodass der ökologische Fußabdruck auch als Wertevehikel
fungiert, da er nach bestimmten kognitiven Schemata funktioniert, die
normativ aufgeladen sind (z.B. DRUCK IST NEGATIV, KEIN bzw. WENIGER DRUCK IST
POSITIV; cf. Kapitel 2.4).
3. Analyse der Metapher des ökologischen Fußabdrucks
Die Metapher des ökologischen Fußabdrucks ist im Sprachgebrauch und der
Kommunikation über globale Umweltfragen kein Einzelfall. Metaphorische
Ausdrücke wie der Treibhauseffekt, Kipppunkte, der fortschreitende Klimawandel
oder Klimaschutz bzw. Klimarettung prägen und strukturieren den Diskurs und
die Imagination der Menschen über die ansonsten nicht sinnfälligen Phänomene
(cf. Grassinger 2018). Jana Tereick zeichnet dies in ihrer Arbeit zur
multimodalen Diskursanalyse des Klimawandels (2016) eindrücklich nach. Im
Hoiß: Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht
191
Kontext der Klimadiskurse können mithilfe von Metaphern bestimmte Aspekte
des Diskurses besonders beleuchtet werden, wodurch komplexe Kausalitäten
veranschaulicht werden (z.B. dass die Erdatmosphäre ein Treibhaus ist).
Zugleich können mithilfe von Metaphern aber auch normative Aussagen mit
appellativem Charakter gemacht werden (z.B. über die Verantwortung des
Menschen in der Metapher der Klimarettung). Dass Metaphern eine fokussierende
Funktion haben, steht in direktem Zusammenhang mit ihrem narrativen
Potenzial: Sie werden gerne weitererzählt und das macht sie zum bevorzugten
Mittel der Umweltkommunikation (cf. Tereick 2016: 313).
Die beschriebenen Zusammenhänge beziehen sich auf die Grundlagen der
kognitiven Linguistik, wie sie von Lakoff und Johnson 1980 unter dem Titel
Metaphors we live by formuliert wurden. Dementsprechend wird die Verwendung
von Metaphern weniger auf einer Wortebene, sondern einer kognitivstrukturellen
Ebene gesehen, die sowohl unser Denken als auch unser Handeln
durchdringt (cf. Lakoff/Johnson 2000: 11):
Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken als
auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch. Konzepte,
die unser Denken strukturieren, sind nicht auf den intellektuellen
Bereich begrenzt. Sie lenken auch unser nichtreflektiertes Alltagshandeln
bis in die prosaischsten Einzelheiten. Unsere Konzepte strukturieren
das, was wir wahrnehmen, wie wir uns in der Welt bewegen
und wie wir uns auf andere Menschen beziehen. Folglich spielt unser
Konzeptsystem bei der Definition unserer Alltagsrealitäten eine
zentrale Rolle (ibid.).
Dies gilt in besonderem Maße für die Versprachlichung von klimabezogenen
Phänomenen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit und globalen Emergenz für die
menschlichen Sinne nicht wahrnehmbar sind. Metaphern finden daher im
Reden über den Klimawandel besonders rege Verwendung (cf. Grassinger 2018,
14; auch Harré/Brockmeier/Mühlhäusler 1999) und eignen sich so auch als
Ausgangspunkt für die Erschließung naturwissenschaftlicher Bildungsangebote
im Kontext des Klimawandels (cf. Niebert/Gropengiesser 2013 und
2015).
Definitorisch befindet sich die Metapher an der „Schnittstelle zwischen kognitiven
und ästhetischen Zugangsweisen zur Welt“ (Gansen 2010: 417). Darauf
aufbauend und mit Bezug auf Lakoff und Johnson handelt es sich nach Rudolf
Schmitt dann um eine Metapher, wenn
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a. ein Wort/eine Redewendung in einem strengen Sinn in dem für
die Sprechäußerung relevanten Kontext mehr als nur eine
wörtliche Bedeutung hat; und
b. die wörtliche Bedeutung einem prägnanten Bedeutungsbereich
(Quellbereich) entstammt,
c. jedoch auf einen zweiten, oft abstrakteren Bereich (Zielbereich)
übertragen wird (Schmitt 2003: 5).
Bei der Wortkombination ökologischer Fußabdruck trifft Kriterium (a) offensichtlich
zu: Die wörtliche Bedeutung der Lexeme ökologisch und Fußabdruck
ergibt keinen Sinn und verweist auf einen semantischen Zusammenhang, der
deutlich über die Bedeutung der Einzelkomponenten hinausreicht (cf. Einleitung).
Doch gerade die Verbindung des Quellbereichs (b) und Zielbereichs (c)
stellt sich im Detail durchaus als Problem (auch im Verstehensprozess der
Schüler:innen) dar, nicht zuletzt aufgrund der komplexen Wortzusammensetzung:
Die folgende Analyse der Metaphorik des ökologischen Fußabdrucks dient
daher als Grundlage für die spätere kulturwissenschaftliche Kritik und die
Impulse für das sprachliche Lernen.
3.1 Ökologisch
Beim ökologischen Fußabdruck ist der Mensch als Verursacher semantisch
,verborgen‘.1 Zwar symbolisieren Fußspuren, die sich semantisch eigentlich
vom Fußabdruck noch einmal unterscheiden, die physische Präsenz des
Menschen (cf. Böhmer 2021: 207), doch die verursachende Person ist in der
Metapher bereits nicht mehr präsent. Der Abdruck steht also nur noch für deren
Abwesenheit bzw. macht ihre vergangene Anwesenheit sichtbar. Im Kontext
des ökologischen Fußabdrucks ist dies jedoch doppelt problematisch. Zum einen
ist die reale Belastung auf die Erde durch den Menschen nach wie vor vorhanden
und die menschliche Aktivität keine flüchtige Tätigkeit. Zum anderen
verzerrt das Adjektivattribut ökologisch semantisch gesehen das Verhältnis
1 Kognitive Mechanismen, die dafür sorgen, dass bestimmte Aspekte oder Facetten im
metaphorischen Ausdruck besonders hervorgehoben oder ausgeblendet werden, werden
nach Lakoff und Johnson als Beleuchten und Verbergen (highlighting und hiding; cf. 2000: 18-21)
bezeichnet (s. dazu auch Meer; Scheitza/Visser i.d.H.).
Hoiß: Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht
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zwischen schädigender und geschädigter Instanz, denn im Grunde handelt es
sich um einen menschlichen Fußabdruck, der für Schäden in und an der Ökosphäre
steht. Nicht die Ökosphäre hinterlässt den Fußabdruck, sondern der
Mensch hinterlässt ihn in der Ökosphäre.2
3.2 Fuß
Der Fuß kann metaphorisch für die Wanderung durchs Leben, das Leben selbst,
für den Menschen als pars pro toto (von Kopf bis Fuß, mit beiden Füßen im Leben
stehen), für die Freiheit (auf freien Fuß gesetzt werden), aber auch für Macht
(jemandem den Fuß auf den Nacken setzen, jemandem auf die Füße treten), Gewalt
(mit jemandem auf Kriegsfuß stehen) und Unterwerfung (jemandem zu Füßen fallen
oder die Füße waschen) stehen (cf. Zwipp 2019). Der Aspekt des Unterwerfens
und Gefügigmachens offenbart sich unter anderem auch in metaphorischen
Ausdrücken wie dem Betreten eines Grundstückes oder von Land ganz
allgemein; es ist als machtbeanspruchender Akt zu werten, der sprachlich durch
den Fuß realisiert wird.
Bei der Metapher des ökologischen Fußabdrucks changiert die Bedeutung des
Fußes zwischen mehreren Orientierungsmetaphern im Sinne von Lakoff und
Johnson (cf. 2000: 22-30):
 KONTROLLE UND MACHT AUSÜBEN IST OBEN vs. KONTROLLE UND MACHT
AUSGESETZT SEIN IST UNTEN: Diese Orientierungsmetapher wirkt im
ökologischen Fußabdruck auf zweifache Weise. Der Fuß steht für die Macht
des Menschen über die Erde. Als Kontrolle ausübende Instanz steht der
Mensch daher oben, die Erde als kontrollierte und unterworfene Instanz
befindet sich unter ihm. Das Ausüben der menschlichen Macht findet sich
auf einer zweiten Ebene auch im Instrumentarium des Fußabdruckrechners,
denn durch den Prozess des Vermessens der gesamten global verfügbaren
natürlichen Ressourcen durch den Menschen und für die Zwecke des
Menschen wird die Natur in menschliche Metriken eingeebnet und deren
systemimmanenter Logik unterworfen.
2 Diese Logik rekurriert auf die im ökologischen Fußabdruck angelegte Dichotomie
zwischen Mensch (Kultur) und Umwelt (Natur), eine künstliche Trennung, die in der
Vergangenheit vielfach kritisiert wurde. Denn der Mensch ist immer auch ein natürliches
Wesen und als solches Teil der Natur, der Umwelt oder der Ökosphäre.
metaphorik.de 33/2023
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 MEHR IST OBEN vs. WENIGER IST UNTEN: Diese Orientierungsmetapher enthält
auch eine ethisch-moralische Wertigkeit mit anthropozentrischer Prägung:
Der Mensch und seine Bedürfnisse sind wichtiger als der Rest der Welt.
 GESUNDSEIN IST OBEN vs. VERFALL UND ERKRANKUNG IST UNTEN: Dem Bild des
auftretenden Fußes ist eine Vitalität zu eigen, der zufolge eine vor Kraft
strotzende Menschheit schwungvoll voranschreiten kann und von oben die
Abdrücke setzt. Die vom Fuß stark beeinträchtigte und geschädigte Erde
befindet sich unter dem Fuß.
Darüber hinaus ist der Fuß auch metonymisch als pars pro toto zu verstehen. So
steht ein Teil des menschlichen Körpers, hier der Fuß, für den gesamten Menschen,
ja in bestimmten Kontexten sogar für die gesamte Menschheit. In diesem
Kontext ist darauf hinzuweisen, dass die Metonymie im Gegensatz zur Metapher
dann verwendet wird, wenn sich eine Entität auf eine andere bezieht, diese
also „für eine andere Entität steht“ (Lakoff/Johnson 2000: 47). Dies ändert jedoch
nichts an der Tatsache, dass der ökologische Fußabdruck als Gesamtbild als
Metapher einzuordnen ist.
3.3 Abdruck
Im Sinne von Lakoff und Johnson lässt sich der ökologische Fußabdruck – als
Metapher für alle Effekte individuellen oder kollektiven menschlichen Handelns
– als ontologische Metapher kategorisieren: „Wenn Dinge nicht eindeutig
Einzelgebilde sind oder scharfe Grenzen haben, dann kategorisieren wir sie so,
als ob sie diese Eigenschaften besäßen, z.B. Gebirge, Nachbarschaft, Hecke
usw.“ (Lakoff/Johnson 2000: 35). Konzeptuell müssten die Menschen so verfahren,
denn die von ihnen gesteckten Ziele könnten bezeichnenderweise nur
dann erreicht werden, wenn konzeptuelle Entitäten geschaffen werden, die von
einer Oberfläche eingegrenzt oder begrenzt sind (cf. ibid.). Der ökologische Fußabdruck
setzt künstliche Grenzen für nicht wahrnehmbare globale menschliche
Aktivitäten, die sich in der Metapher des Abdrucks eben deutlich sichtbar
machen lassen. Im Fußabdruck wird schließlich die Raumorientierung mit dem
Fuß – und damit mit der menschlichen Erfahrung mit dem eigenen Körper –
kombiniert. Folgende konzeptuelle Akzente lassen sich hierbei erkennen:
 Gefäßmetapher: Menschen betrachten eine Vielzahl an Objekten als Gefäße
mit einer Innen- und einer Außenseite. Man geht beispielsweise in ein Haus
hinein, steht im Wald oder wandert durch ein Gebirge (cf. Lakoff/Johnson
Hoiß: Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht
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2000: 39f.). Auch vom Menschen umgrenzte Gebiete wie Landflächen sind
metaphorisch gedacht als Gefäß zu verstehen (z.B. „In Deutschland gibt es
viele Straßen.“). Der ökologische Fußabdruck enthält eine solche Gefäßmetapher,
die ontologisch betrachtet einer Innen-Außen-Orientierung folgt.
Der Fußabdruck ist durch eine klar definierte Oberfläche gekennzeichnet,
er geht aber auch in die Tiefe, hat also ein Volumen und ist damit als Gefäß
vorstellbar. Interessanterweise scheinen wir den ökologischen Fußabdruck
aber nicht als in die Tiefe gehenden Abdruck zu konzeptualisieren, sondern
als sich vergrößernde oder verkleinernde Landfläche (z.B. „Tipps, wie Du
Deinen Fußabdruck verringern kannst“) oder in Einzelfällen gar als in die
Höhe gehende Fläche (z.B. „Klima-Fußabdruck der Superreichen 30-mal
höher als mit Pariser Abkommen verträglich“ (Oxfam Deutschland 2021:
o.S.)). Derartige Abgrenzungen sind immer „Akt[e] des Quantifizierens“
(Lakoff/Johnson 2000: 40) und korrelieren mit den vorangestellten
Ausführungen mit Blick auf die Erfinder des ökologischen Fußabdrucks, die
darin allem voran ein Instrument zur Vermessung der natürlichen
Ressourcen sehen.
 Die an sich statische Gefäßmetapher erhält im Fußabdruck jedoch eine
dynamische Komponente, die mit der (natürlich nicht mehr sichtbaren, aber
a priori notwendigerweise vorhanden gewesenen) Bewegung des Fußes zu
tun hat. Als relationale Kraft geht der Druck des Fußes in eine bestimmte
Richtung und kreiert über die Berührung mit der Erde erst den Abdruck.
Da der Abdruck jedoch erst nach Verlassen des Fußes von der Oberfläche
des Fußabdrucks sichtbar wird, beinhaltet die Metapher des Fußabdrucks
immer auch eine gewisse Flüchtigkeit mit Blick auf die verursachende
Person, steht also für deren Ab- und Anwesenheit gleichermaßen. Der
Fußabdruck erscheint dabei ähnlich sichtbar wie die Fußspur, weniger flüchtig
als der Schatten aber intensiver als beispielsweise die Fährte.3
3 Mit der Ursache-Wirkungs-Relation der Spur setzt sich vor allem Lutz Danneberg
auseinander; die folgenden Erkenntnisse erscheinen auch mit Blick auf den Fußabdruck als
relevant (cf. im Weiteren Danneberg 2012). So sei die Spur ein relationaler Ausdruck mit drei
Merkmalen: Intentionalität („Spuren kann man setzen, aber man kann auch Spuren unbeabsichtigt
hinterlassen“ (ebd.: 163)), situative Sichtbarkeit („Das, wovon eine Spur kündet,
kann ebenfalls sichtbar sein, aber zumindest nicht dann, wenn man es aus Spuren erschließen
will; das ist der Aspekt der fehlenden Präsenz. […] Von der situativen Sichtbarkeit ist die
Präsenz zu unterscheiden; das, wovon eine Spur eine Spur ist, kann anwesend sein, ist aber
nicht sichtbar […]“ (ebd.: 164)) sowie eine Referenz auf den Ursprung („Es gibt ein Etwas, das
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 Natur als Ressource: Die Metapher des ökologischen Fußabdrucks folgt
darüber hinaus einer Strukturmetapher (cf. Lakoff/Johnson 2000: 75-83)
nach dem Schema Natur ist eine materielle Ressource. Mitgedacht ist dabei,
dass sie immer nur als Ressource für den Menschen gesehen wird, nicht aber
für andere Lebewesen. Entsprechend zielt das Konzept des ökologischen
Fußabdrucks darauf ab, „unsere ökologischen Grundlagen abzusichern und
vernünftig zu managen. Nicht zuletzt, um den ökologischen Bankrott im 21.
Jahrhundert zu verhindern“ (Wackernagel/Beyers 2010: 12). Damit wird
Natur im Rahmen einer buchhalterischen Logik als materielle Substanz
imaginiert, die (entsprechend der Maßgaben der Erfinder des ökologischen
Fußabdrucks) sehr präzise quantifiziert werden kann, einen gewissen Wert
enthält (z.B. gemessen in globalen Hektar), und beständig gebraucht, verbraucht
oder aufgebraucht wird. Ihr Manager ist der Mensch.4
 Der Mensch ist aktiv, die Natur ist passiv: Entsprechend lässt sich eine Strukturmetapher
nach dem Schema Der Mensch ist aktiv, die Natur ist passiv
erkennen. Der Mensch fungiert hier als kausale Kraft, sowohl was seine
Wirkung auf die Erde anbelangt, aber auch hinsichtlich der Berechnung des
Fußabdrucks und womöglich dadurch ausgelöster Verhaltensveränderungen.
Die Natur ist nur passive Projektionsfläche für menschliche
Interessen. Der Akt des Verbrauchens findet sich im Akt des Betretens mit
dem Fuß wieder; hier findet sich schließlich ein kausaler Zusammenhang
zwischen dem sich bewegenden menschlichen Fuß und den dadurch
erzeugten Schäden an der Natur, die der Abdruck verbildlicht.
Leibmetaphorik: In der passiven Darstellung der Natur lässt sich außerdem eine
verkappte Leibmetaphorik entdecken, die ideengeschichtlich einer langen
Tradition folgt. Die oben beschriebene Dynamik beim Erzeugen des Fußabdrucks
kann als männlich konnotiertes aktives Eindringen in eine weiblich
konnotierte passive Natur (oder „Mutter Natur“) gelesen werden. Die extraktivistischen
Bemühungen des Menschen werden dabei oft – so auch in der Metapher
des ökologischen Fußabdrucks – als nicht zu hinterfragende Gegebenheit
angesehen. Der Satz Machet euch die Erde untertan! im Alten Testament (Gen 1,28)
die Spur hinterlassen hat. Das erklärt zusätzlich, weshalb es keinen Sinn zu machen scheint,
von der Spur als Spur seiner selbst zu sprechen […].“ (ebd.: 164)).
4 Zur Kritik eines narzisstischen und imperialistischen Anthropozentrismus cf. Hoiß (2019:
214ff.) sowie Crist (2013).
Hoiß: Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht
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wurde nicht selten mantraartig in diese Richtung uminterpretiert. In der Vergangenheit
wurden dazu oft noch Vorstellungen einer gierigen (Stief-)Mutter
bemüht, die ihre Kinder verhungern lässt und Schätze verbirgt (cf. Bredekamp
1984). Da die „Menschenkinder“ aber ihre Ressourcen (z.B. Kohle oder Erze aus
dem Erdreich) benötigen, sind sie dazu gezwungen, die Natur aktiv zu schädigen;
daher rühren auch zahlreiche Beschreibungen und Abbildungen der
Natur in Menschengestalt mit zerschlissenen Kleidern (cf. ebd.). So betrachtet
muss der ökologische Fußabdruck als Euphemismus bezeichnet werden, da er
zwar mit naturwissenschaftlicher Präzision die Schäden an der Natur beziffert,
in seiner konzeptuellen Beschaffenheit Natur aber nur als passive Substanz
denkt und den Menschen als eindringende und zerstörerische Kraft nicht beim
Namen nennt, sondern als Verwalter inszeniert.
3.4 Druck
Die eingangs skizzierten Grundlagen des ökologischen Fußabdrucks lassen
keinen Zweifel daran, dass die beschriebenen sozioökonomischen und erdsystemischen
Trends anthropogene Ursachen haben. Ein dreiviertel Jahrhundert
nach Beginn der Großen Beschleunigung in den 1950er Jahren erhöht sich
der exponentiell steigende Druck des Menschen auf die Erdsysteme. Diese
Trends sind letztlich das, was das ökonomische Modell des ökologischen
Fußabdrucks messbar und sichtbar machen will.
Die Metapher des Abdrucks enthält dabei sowohl als lexikalischen als auch als
semantischen Kern von (Fuß-)Abdruck den Wortstamm Druck, ohne den,
ausgelöst vom Fuß, der Abdruck nicht zustande käme. Die dahinterstehende
Kausalität, dass der Fuß beim Auftreten Druck auf die Oberfläche erzeugt, der
dann begleitet von Verdichtung und Verdrängung der Erde zu einem Abdruck
führen, ist gleichermaßen als Metonymie zu sehen. Denn der Druck des Fußes
steht für die zunehmende weltweite Aktivität der Menschheit oder eines
einzelnen Menschen. Die Formulierung der ökologische Fußabdruck ist jedoch als
metaphorisches Konzept anzusehen.
Konzeptuell beinhaltet Druck eine Strukturmetapher nach dem Schema Druck
ist negativ, kein Druck ist positiv. Um diesen negativen Zustand zu beseitigen,
bedarf es also Gegenmaßnahmen, die diesen Druck weniger werden lassen. In
den Klimadiskursen paart sich dieser erdsystemische Druck mit einem zeitlichen
und existenziellen Druck: Da viele globale Problemstellungen wie die
metaphorik.de 33/2023
198
Klimakrise oder der Verlust der Biodiversität zeitsensitiv sind und einer
schnellen Lösung bedürfen, verwendet man andere Metaphern wie das sich
schließende Fenster der Gelegenheit (window of opportunity) oder eine Fünf-vor-
Zwölf-Rhetorik, im Rahmen derer man betonen will, dass man kaum noch Zeit
hat, um eine Lösung zu finden. Zugleich implizieren alle Bilder ein für den
Menschen existenzielles Problem: Wenn der Druck zu hoch wird, kollabieren
darunter die Erdsysteme, die den Menschen bislang getragen haben und
gefährden seine Existenz. Das ist letztlich das Ereignis, das durch den Management-
Ansatz in den Instrumentarien des Global Footprint Networks verhindert
werden soll.
4. Kulturwissenschaftliche Kritik am ökologischen Fußabdruck
Die Komplexität des Instruments bleibt in der öffentlichen Diskussion in der
Regel unberücksichtigt und tritt oft zugunsten einer vermeintlich leicht zu
dechiffrierenden Metaphorik sowie leicht verständlicher Zahlen in den Hintergrund.
Dies führt dazu, dass vielfach die Grundidee zu beobachten ist, der
ökologische Fußabdruck müsse nachhaltiger, grüner oder umweltverträglicher
sein. Entsprechend der Gefäßmetapher, aber auch rechnerisch muss der ökologische
Fußabdruck aber einfach nur kleiner werden. Der ökologische Fußabdruck ist
zudem kein direkter Indikator für eine nachhaltige Lebensweise, sondern die
Folge von derzeit in den meisten Ländern nicht-nachhaltigen Lebensweisen. Je
nachhaltiger diese Lebensweisen wären, umso kleiner wäre der globale Fußabdruck.
Die grünen Blätter in Grafiken wie in Abbildung 3 finden sich zwar
äußerst häufig in medialen Darstellungen, sind aber mit Blick auf die zugrunde
liegenden Umweltschäden irreführend. Da das Auslegen des Fußabdrucks mit
grünen Blättern als Symbol für einen nachhaltigen Lebensstil verstanden wird,
beschönigt man die Realität. Nur die grau hinterlegten Icons deuten den Ist-
Zustand in Ansätzen an: der ökologische Fußabdruck der Gegenwart setzt sich
maßgeblich aus Mobilität, Überfischung, Konsum etc. zusammen. Folglich sind
die grünen Blätter als verklärendes Zerrbild zu werten (cf. Kirchhoff/Mölter/
Hoiß 2022: 362f.).
Hoiß: Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht
199
Abb. 3: Cover einer Publikation des Global Footprint Networks
Anhand des Untertitels „Managing our Biocapacity Budget“ kann zudem noch
etwas anderes exemplarisch aufgezeigt werden: In ihrer Analyse des ökologischen
Fußabdrucks als Metapher spricht Anita Girvan davon, dass die
Metapher in ihren Grundzügen bereits an Hybris grenze. Sie suggeriere letztlich
die Möglichkeit einer exakten Kalkulation und einer präzisen Verwaltung der
Natur durch den Menschen (cf. Girvan 2018: 3). Eine eigene Agency oder ein
Eigenwert jenseits ökonomischer Logiken werden der Natur nicht zugesprochen
(cf. Kapitel 2.2 und 2.3). Diese anthropozentrische Grundhaltung
sowie die dem Konzept inhärente Kosten-Nutzen-Logik machen deutlich, dass
der ökologische Fußabdruck keine wertneutrale Berechnungsinstanz ist, wenngleich
er in der öffentlichen Wahrnehmung genau so gesehen wird. Seit seiner
metaphorik.de 33/2023
200
Entstehung wurde und wird er von politischen Institutionen, Firmen, NGOs,
den Medien etc. weitgehend unkritisch als Schlüsselwort im Kontext von
Klimaschutzfragen verwendet (cf. Girvan 2018: 3), um vermeintlich genaue
Aussagen darüber zu treffen, wie groß die Effekte unseres (individuellen und
kollektiven) Lebensstils auf die Ressourcen der Erde sind. Als Instrument gänzlich
unhinterfragt ist er zu einem Indikator für umweltbewusstes Leben, nachhaltiges
Wirtschaften, verantwortungsvolles Handeln geworden (cf. Kirchhoff/
Mölter/Hoiß 2022: 363f.). Als gesellschaftliche Leitmetapher prägt er unsere
Vorstellung von nachhaltiger Lebensweise im 21. Jahrhundert wesentlich mit
(cf. Tereick 2016: 207-215).5
Doch die zuvor dargestellte Analyse der Metapher des ökologischen Fußabdrucks
legt offen, dass das Konzept des ökologischen Fußabdrucks auf einer
Denkhaltung fußt, die zur Prämisse hat, dass der Mensch im Rahmen seiner
kulturellen Praktiken den natürlichen Raum nach eigenem Ermessen glätten
kann, d.h. für seine Zwecke verfügbar, vermessbar, kontrollierbar machen kann
(cf. Deleuze/Guattari 2006). Dabei sind Zahlen in der modernen Welt das Mittel
der Wahl, um die Natur der Kultur zu unterwerfen. Die Verfügbarkeit des
Menschen über die Natur basiert dabei historisch betrachtet auf mehreren
Faktoren, wobei zwei ganz besonders hervorstechen:
Zunächst bereitet die in der westlichen Ideengeschichte entwickelte und bis
heute dominierende Dichotomie zwischen Natur (vom Menschen unberührt)
und Kultur (vom Menschen geschaffen) den Weg dafür, den menschlichen
Anliegen mehr Raum zu erkämpfen und die oft bedrohliche Natur weitgehend
kontrollieren und einschränken zu wollen. Anders als in Kulturen, in denen der
Mensch als Teil der Natur gedacht wurde, bewirkte die Gegenüberstellung
zwischen Natur und Kultur, dass die Beherrschung der Natur im Zuge der
technologischen Entwicklung und dem Aufkommen der empirischen Wissenschaften
als Kulturaufgabe gesehen wurde. Von der Natur gesetzte Grenzen
galt und gilt es auch heute noch zu überwinden (etwa die Überquerung von
Gebirgen, Flussströmen und Ozeanen oder die Bewegung in der Luft, im All
5 Diskursanalytisch lässt sich sogar nachweisen, dass in den frühen 2000er Jahren der Begriff
des ökologischen Fußabdrucks zunehmend im öffentlichen Diskurs in Erscheinung tritt und
sogar andere benachbarte Konzepte aus dem Klimabereich wie das Treibhaus zurückdrängt (cf.
Tereick 2016: 181ff.).
Hoiß: Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht
201
und unter Wasser), Gefahren zu limitieren, Risiken zu minimieren, die Vorhersage
von Ungewissem durch Modellierungen zu präzisieren. Nicht zuletzt deswegen
ist unsere Sprache auch heute noch stark von mentalen Konzepten
geprägt, die von einer unbeherrschbaren Naturgewalt ausgehen.
Zugleich ermöglichte die zunehmende technologische Entwicklung dem
Menschen eine sich selbst beschleunigende räumliche Ausweitung:
Die Dynamik von Neuzeit und Moderne entsteht durch den Aufbruch
in neue Räume. Den gegebenen Räumen entfliehen, um neue
zu entdecken, das ist das Programm. [...] Die Entdeckung der ‚Neuen
Welt‘ ist dafür ebenso ein Beispiel wie die astronomischen Erkundungen
des Weltraums (Schroer 2006: 22f.).
Die Menschen breiteten sich nicht nur kollektiv betrachtet auf der ganzen Erde
aus, auch jede einzelne Person konnte zunehmend mehr Raum einnehmen (auf
andere Kontinente, auf und unter dem Meer, unter und durch die Erde, in und
durch die Luft, in und durch das Weltall), im Kleinen neue Räume betreten
(etwa im mikroskopisch sichtbaren oder im Nano-Bereich) oder neu erschaffene
Räume für sich nutzen (etwa virtuelle bzw. digitale Räume). Mit Blick auf den
ökologischen Fußabdruck bedeutet Raum einnehmen (symbolisiert durch die
Oberfläche) aber zugleich Druck ausüben (symbolisiert durch den Fuß). Als ein
potenzieller Zugang zur Welt ermöglicht der ökologische Fußabdruck zwar eine
kognitive Bewältigung des menschlichen Einflusses auf die globale Umwelt.
Doch bei seiner Inanspruchnahme gilt es immer mitzudenken, dass er eine
Perspektive schafft, die problematische Denkmuster aufruft und potenziell
verfestigt (cf. Kapitel 2.2, 2.3 und 3).
5. Sprachliches Lernen mit dem ökologischen Fußabdruck
Sprachreflexiver Unterricht hilft dabei zu lernen, dass Modelle wie der
ökologische Fußabdruck vereinfachte Zugänge zur Welt darstellen, weil sie
lediglich auf eine bestimmte Facette der Welt fokussieren und andere
ausblenden (highlighting und hiding; cf. Kapitel 2.1). Die hier vorgebrachten
sprachdidaktischen Überlegungen zielen daher weniger darauf ab, mit Kindern
und Jugendlichen eine Vorstellung vom Konzept des ökologischen Fußabdrucks
zu entwickeln, sondern seine sprachlich-konzeptuellen Grundlagen
kritisch hinterfragen zu lernen und dabei ein erweitertes Metaphernverständnis
zu schulen. Zudem können sie Anreiz für andere Fächer sein, in denen der
metaphorik.de 33/2023
202
ökologische Fußabdruck thematisiert wird, seine sprachlich-konzeptuellen Grundlagen
kritisch zu beleuchten.
Die folgenden Überlegungen rekurrieren auf ein Metaphernverständnis, das
die Metapher nicht als Mittel der Wirkung, der Rhetorik, des Stils, der poetischen
Sprache verkürzt. Vielmehr zielen sie darauf ab, ein Bewusstsein für die
wechselseitigen Zusammenhänge zwischen Denken und Sprache zu schaffen
(cf. z.B. Katthage 2004 und 2006) und dabei die Reduktion der Metapher als
reine textanalytische Kategorie zu überwinden, etwa indem sie als ein im
alltäglichen Sprachgebrauch übliches konzeptuelles Muster erkannt wird (cf.
Dube/Kammler 2017: 202).6 Wie die Analyse der Metapher des ökologischen
Fußabdrucks zuvor zeigen konnte, handelt es sich bei Metaphern im Sinne der
kognitiven Linguistik um komplexe Gebilde, die nicht als reine Substitutionsfiguren
(wie bei Quintilian) zu verstehen sind, sondern deren Bestandteile selbst
miteinander interagieren. Daher gilt es auch im Unterricht, „das Potential der
Metaphernkommunikation“ (Katthage 2006: 3) zu nutzen. Auch für das Lernen
mit und an Metaphern gilt, was Hans Blumenberg als allgemeine Anforderung
formulierte: „Einer Analyse muss es ja darauf ankommen, die logische ‚Verlegenheit‘
zu ermitteln, für die die Metapher einspringt[.]“ (Blumenberg 2013:
13f.).
Die Spurensuche nach dem sprachdidaktischen Potenzial der Metapher des
ökologischen Fußabdrucks fördert relevante Impulse für die schulische Sprachreflexion
zutage (cf. auch Spieß 2015: 324). Im Zuge dessen können Schüler:
innen unter anderem
 eine wesentliche Funktion von Metaphern kennenlernen, überkomplexe
Zusammenhänge und lebensweltliche Problemstellungen in ein sprachliches
Bild zu fassen und damit Komplexität verständlich zu machen,
6 Die Kritik am verkürzten Verständnis von Metaphern und ihre unzureichende Erschließung
im Deutschunterricht ist umfangreich: Die Marginalisierung auf Teilkompetenzen
wie dem Erkennen von stilistisch-rhetorischen Mitteln und der Deutung sprachlicher Bilder
greife nach Ansicht Katthages (2004, 2006) deutlich zu kurz. Das reduktionistische Verständnis
äußere sich in der anhaltenden Praxis im Literaturunterricht, die Komplexität von Metaphern
mit katalogartigen Etikettierungen einzufangen, die nach dem Muster Bild steht für konkreten
Inhalt funktioniere (cf. Katthage 2009: 21ff.). Lessing-Sattari legt hierbei auch den Verdacht
nahe, dass dieser Substitutionspraxis eine bewahrpädagogische Tendenz zugrunde liege (cf.
2017: 12), die „vor der chaotisierenden Wirkung der poietischen Metapher“ (Biebuyck 1998:
308) schützen solle und zugleich einer besseren Handhabbarkeit im Deutschunterricht diene.
Hoiß: Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht
203
 zugleich die Grenzen metaphorischen Sprachgebrauchs erfahren, indem sie
erkennen, dass jede Metapher nur einen speziellen Blick auf die Welt
eröffnet und andere ausblendet,
 einen Zusammenhang zwischen Denken und Sprache verstehen, indem sie
die sprachlich-konzeptuellen Grundlagen der Metapher des ökologischen
Fußabdrucks nachverfolgen und relevante Kategorien der kognitiven
Linguistik lernen und anwenden,
 anhand von Textbeispielen (z.B. aus Wackernagel/Beyers 2010) verschiedene
Konzepte nachverfolgen, die unser Denken strukturieren (z.B. Orientierungsmetaphern,
Gefäßmetaphern als Beispiel für ontologische Metaphern
etc.), und auf der Grundlage dessen den Gebrauch von konkreten
Sprachbildern wie dem ökologischen Fußabdruck kritisch reflektieren,
 den Gebrauch von Metaphern in Diskursen erkennen, sie einordnen und
bewerten und so ein kritisches Diskursbewusstsein fördern und
 Freude an der Arbeit mit Sprache verspüren.
Darüber hinaus kann Metaphernverstehen als problementdeckender Prozess (cf.
Zabka 2012: 47) oder als Problemlösen (cf. Lessing-Sattari 2017) angesehen
werden. Mit Bezug auf Dietrich Dörner und Joachim Funke sieht Marie Lessing-
Sattari vor allem in den Kategorien Komplexität, Vernetztheit, Dynamik,
Intransparenz und Vielzieligkeit Möglichkeiten, Prozesse beim Verstehen von
Metaphern zu beschreiben und anzuregen (cf. 2017: 199ff.). Besonders ist dabei,
dass Metaphern eben nicht nur als Stützen, sondern auch als Probleme im Verstehensprozess
begriffen werden. Schüler:innen, denen zum Beispiel der Begriff
des ökologischen Fußabdrucks nicht geläufig ist, dürften zunächst genau
solchen Verstehensproblemen begegnen, da er in seiner Kombination eben
nicht logisch erschließbar ist (cf. Kapitel 2) und zudem voraussetzungsreiche
Denkschemata aufruft.
Um diesem Problem konstruktiv zu begegnen, kann im Unterricht gemeinsam
versucht werden, Vorstellungen von dieser Metapher zu entwickeln. Dies kann
über eigene Zeichnungen der Schüler:innen oder von der Lehrperson mitgebrachte
Beispiele geschehen, die dann unterschiedliche Aspekte sowie benachbarte
Sprachbilder beleuchten (z.B. Grafiken, die den ökologischen Fußabdruck
als Schaden zeigen oder als grüne Fläche wie in Abbildung 4; Karikaturen, die
den Erdball mit oder ohne den Menschen als Verursacher zeigen; das Bild eines
Fußes, der auf eine Blume tritt, oder von Fußspuren im Sand etc.). Im Anschluss
metaphorik.de 33/2023
204
verbalisieren die Schüler:innen diese visuellen Darstellungen und gebrauchen
dabei entsprechendes Fachvokabular.
Des Weiteren kann man mit Schüler:innen ein sprachliches Alternativenbewusstsein
fördern, etwa indem man dem ökologischen Fußabdruck metaphorische
Konkurrenzmodelle (wie beispielsweise der CO₂-Fußabdruck, der
ökologische Rucksack, der ökologische Handabdruck) gegenüberstellt und
deren Bildlichkeit vergleichen lässt. Der CO₂-Fußabdruck etwa ist im Gegensatz
zum ökologischen Fußabdruck eindimensional und bezieht sich lediglich auf
den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid sowie andere klimaschädliche Gase durch
menschliche Aktivität. Der ökologische Rucksack bilanziert alle Ressourcen, die
für Herstellung, Transport, Nutzung und Entsorgung eines Produktes benötigt
werden. Die Metaphorik ruft aber andere Schemata auf als der Fußabdruck,
zum Beispiel hängt die Last hier physisch und moralisch an den Schultern des
Menschen. Der ökologische Handabdruck wiederum bezeichnet Möglichkeiten für
positive Effekte menschlichen Handelns auf die Ökosysteme. Hier ist der Vergleich
der Hand- und Fußmetaphorik reizvoll und aufschlussreich, zumal diese
eine Veränderung des Körperteils die Anlage der gesamten Metapher verändert.
Daneben können auch noch Unterschiede zur Fußspur, zum Fußstapfen oder zur
Fährte besprochen werden.
6. Metaphernverstehen und sprachliche Welterschließung im
21. Jahrhundert
Bildung regt zur Weltbegegnung an. Dazu gehört notwendigerweise auch ein
Nachdenken über sprachliche Weltbeziehungen und Weltbilder, wobei diese
nicht einfach bereits etablierte Weltverhältnisse reproduzieren, sondern immer
auch selbst die Welt eröffnen und erschließen. Die sprachliche Beziehung des
Menschen zur Welt ist also keine Einbahnstraße. Menschen nehmen die Welt
nicht einfach nur wahr und reagieren in passiver Weise auf sie, sondern sie
konzeptualisieren sie zugleich auf interaktive und dynamische Weise (cf. Hoiß
2020: 148).
Wie der vorliegende Beitrag zeigen konnte, spielen Metaphern im Prozess der
Weltwahrnehmung und Weltaushandlung im Allgemeinen und im Kontext
von Klima-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsdiskursen im Speziellen eine wesentliche
Rolle. Zu einem reflektierten Umgang mit der Welt gehört auch ein aktives
Hoiß: Der ökologische Fußabdruck im Deutschunterricht
205
Erkennen und Durchdenken von sprachlichen Strukturen und Bildern inklusive
der kognitiven Strukturen, auf denen sie gründen, und der normativen
Implikationen, die sie enthalten. Ein Nachdenken über Sprache und ihre Funktionen
und Leistungen, über den individuellen wie kollektiven Sprachgebrauch
bzw. über das eigene und allgemeine kommunikativ-diskursive Verhalten ist
Teil einer solchen Weltbegegnung. Damit schließt der vorliegende Beitrag an
eine bildungstheoretisch fundierte Deutschdidaktik an, die es als ureigenste
Aufgabe von Schule ansieht, „einer neuen Generation die Welt, in die sie eintritt
und die sie für die Spanne ihres Lebens bewohnen und formen wird, zu
erschließen“ (Ivo 1999: 1).
In Anbetracht dieser Aufgabe hat der Sprachunterricht im 21. Jahrhundert zwei
elementare Herausforderungen zu bewältigen: Es gilt zum einen zu klären,
welche Rolle die Sprache bzw. das Sprechen über die Welt angesichts der
radikal veränderten Weltbeziehungen eines Großteils der Weltbevölkerung in
der heutigen Zeit einnimmt. Gemeint sind hier globale Phänomene wie der
Klimawandel, das Artensterben oder der exzessive Ressourcenverbrauch, der
sich in der Rodung von Urwäldern, der Überfischung der Meere oder der Überdüngung
der Böden äußert und letztlich auch in der Metapher des ökologischen
Fußabdrucks wiederfindet. Zum anderen ist eine intensive Debatte über die
Rolle des Deutschunterrichts selbst und, eng damit verbunden, über die Rolle
der Lehrpersonen angesichts der globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
anzuregen (cf. Hoiß 2020: 149).
Eine Vision für einen Deutschunterricht, der sich diesen Fragen stellt, kann in
einer fachdidaktischen BNE-Forschung liegen. Bildung für nachhaltige Entwicklung
(kurz: BNE) greift als Bildungskonzept die skizzierten globalen
Phänomene aus einer pädagogischen Perspektive heraus auf und beschreibt die
damit verbundenen Lehr- und Lernprozesse als Querschnittsaufgabe für den
gesamten Bildungsbereich. Im holistischen Ansatz verbirgt sich jedoch ein
blinder Fleck: die genuin fachdidaktische Bearbeitung BNE-typischer Fragestellungen.
Anders als der gegenwärtige BNE-Diskurs nahelegt, kann es nicht
darum gehen, mehr oder weniger fachfremde Inhalte lediglich in ein Fach
einzubinden. Vielmehr liegt die Initiative bei den Fächern selbst, die ein
intrinsisches (Forschungs-)Interesse an der Verknüpfung ihres Faches mit BNE
entwickeln können. Insofern ist der vorliegende Beitrag zugleich Beispiel und
Plädoyer für eine fachdidaktische BNE-Forschung, die im Bewusstsein um eine
metaphorik.de 33/2023
206
sprachliche Gestaltungsfähigkeit im Zusammenhang mit unseren kulturellen,
gesellschaftlichen und politischen Beziehungen ein elementares Ziel deutschdidaktischen
Handelns sieht.
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GRÜN-OHR HASE – Green Clean – KLIMAPOSITIV – Metaphern und Narrative der Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung auf Instagram1

Dorothee Meer

Ruhr-Universität Bochum (Dorothee.Meer@rub.de)

Abstract

Im vorliegenden Beitrag zur Bearbeitung von Fragen der Lebensmittelwerbung auf Instagram geht es darum, auf der Basis einer empirischen Studie zu 200 Instagramposts von vier Accounts des Lebensmittelbereichs der Frage nachzugehen, welches Potenzial die Befunde dieser Studie für die Behandlung von Fragen der Nachhaltigkeit im Deutschunterricht (vorrangig der Jahrgangstufe 9) eröffnen. Zum einen ermöglicht die Konzentration auf Fragen der multimodalen Konstruktion nachhaltiger Werbewelten dabei analytische Erkenntnisse hinsichtlich einer Textsorte aus dem Lebensbereich der Schüler*innen (Instagramposts). Zum andern unterstützt die Analyse sowohl die Fähigkeit der Schüler*innen zur kritischen Kommentierung als auch die Entwicklung von fachspezifischen Handlungskompetenzen.

Based on an empiric study evaluating 200 Instagram posts of four accounts in the food sector targeting questions of food advertising, this article focuses on the potential of the study’s findings when addressing aspects of sustainability in German lessons (primarily in grade 9). It becomes clear that the focus on the multimodal construction of sustainable advertising worlds enables analytical skills toward texts from the students’ sphere of life (Instagram posts). Furthermore, the analysis facilitates both the students' ability to critically comment as well as to develop action skills.

 

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Jahrgang: 

Seite 211

211
GRÜN-OHR HASE – Green Clean – KLIMAPOSITIV –
Metaphern und Narrative der Nachhaltigkeit in der
Lebensmittelwerbung auf Instagram1
Dorothee Meer, Ruhr-Universität Bochum (Dorothee.Meer@rub.de)
Abstract
Im vorliegenden Beitrag zur Bearbeitung von Fragen der Lebensmittelwerbung auf Instagram
geht es darum, auf der Basis einer empirischen Studie zu 200 Instagramposts von vier
Accounts des Lebensmittelbereichs der Frage nachzugehen, welches Potenzial die Befunde
dieser Studie für die Behandlung von Fragen der Nachhaltigkeit im Deutschunterricht
(vorrangig der Jahrgangstufe 9) eröffnen. Zum einen ermöglicht die Konzentration auf Fragen
der multimodalen Konstruktion nachhaltiger Werbewelten dabei analytische Erkenntnisse
hinsichtlich einer Textsorte aus dem Lebensbereich der Schüler*innen (Instagramposts). Zum
andern unterstützt die Analyse sowohl die Fähigkeit der Schüler*innen zur kritischen
Kommentierung als auch die Entwicklung von fachspezifischen Handlungskompetenzen.
Based on an empiric study evaluating 200 Instagram posts of four accounts in the food sector
targeting questions of food advertising, this article focuses on the potential of the study’s
findings when addressing aspects of sustainability in German lessons (primarily in grade 9).
It becomes clear that the focus on the multimodal construction of sustainable advertising
worlds enables analytical skills toward texts from the students’ sphere of life (Instagram
posts). Furthermore, the analysis facilitates both the students' ability to critically comment as
well as to develop action skills.
1. Einleitung
Das Sprechen über Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit hat sich in der
deutschen Öffentlichkeit seit August 2018, dem Beginn des Protests der schwedischen
Schülerin Greta Thunberg, und den sich hieran ab Dezember 2018 auch
in Deutschland anschließenden Schüler*innenprotesten massiv vervielfacht.
Dies ist nicht der Ort, um ausführlich über die Gründe nachzudenken, wie aus
den Aktivitäten einer (damals) Fünfzehnjährigen ein diskursives Ereignis mit
weltweiten Auswirkungen werden konnte. Dennoch ist es für die folgenden
Überlegungen entscheidend, im Blick zu behalten, was es aus diskursanalytischer
und hieran anschließend aus deutschdidaktischer Sicht bedeutet, dass
1 Mein besonderer Dank gilt meiner Mitherausgeberin Judith Visser für ihre sorgsamen und
unterstützenden Rückmeldungen.
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
212
das Sprechen über Nachhaltigkeit in der medialen Öffentlichkeit der Bundesrepublik
Deutschland inzwischen allgegenwärtig ist.2
Aus der Perspektive des schulischen Sprachunterrichts im Allgemeinen und
des Deutschunterrichts im Speziellen3 sind dabei für den vorliegenden Beitrag
folgende Aspekte entscheidend:
- Der Klimawandel betrifft Schüler*innen biographisch und perspektivisch
besonders. Dies hat das höchstinstanzliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts
(BVG) laut der Pressemitteilung vom 29.04.2021 explizit bestätigt.
In diesem weisen die Richter*innen darauf hin, dass es die Aufgabe der
nationalen Klimaschutzziele der Bundesregierung sein muss, die Interessen
der jüngeren Generation, die in besonderem Maße von den Folgen des
Klimawandels betroffen sind und sein werden, durch spezifische und
vorausplanende Maßnahmen legislativ mitzuberücksichtigen und damit in
besonderem Maße zu schützen.4
- In Verbindung mit den vorliegenden Diagnosen und Prognosen des Weltklimarats
(s. IPCC 2021) besteht somit ein spezifischer Druck, möglichst
schnell konkrete Handlungsperspektiven zu entwickeln. Allerdings wäre es
in diesem Zusammenhang sicherlich unangemessen, wenn der schulische
Unterricht Schüler*innen suggerieren würde, dass sie als diejenigen, die
biografisch den Klimawandel nicht verursacht haben können, nun die
Verantwortung für die Entwicklung von nachhaltigen Handlungskonzepten
tragen. Vielmehr geht es darum, den Blick mit den Schüler*innen
gemeinsam aus fachspezifischer Perspektive auf die Frage zu lenken,
welche Rolle der sprachlichen und bildlichen Verarbeitung von Themen der
Nachhaltigkeit als Teil des gesellschaftlichen und des eigenen Handelns
zukommt (siehe dazu auch Bartosch i.d.H.).
2 Hiermit soll nicht behauptet werden, dass sich diese diskursive Explosion zwangsläufig
auch positiv verändernd auf ökologisch relevante gesellschaftliche Praktiken ausgewirkt hat.
3 Auch wenn ich mich mit meinen Überlegungen über weite Strecken dieses Beitrags
vorrangig auf das Fach Deutsch beziehe, so spricht jedoch einiges dafür, den thematisierten
Gegenstandsbereich der Werbung sowohl aufgrund seiner universellen Relevanz als auch
aufgrund seiner starken Bildorientierung für den Fremdsprachenunterricht nutzbar zu
machen. S. dazu Scheitza/Visser i.d.H.
4 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE...
bvg21-031.html (23.02. 2022).
metaphorik.de 33/2023
213
- Dabei müssen sich die sprachlichen Fächer (wie andere Fächer auch) die
Frage stellen, welchen spezifischen Beitrag sie leisten können, um Fragen
der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (im Weiteren BNE) an bestehende
curriculare Aufgaben anzuschließen bzw. in vorliegende thematische
Schwerpunkte zu integrieren. Diese Notwendigkeit wird für das Fach
Deutsch unter anderem auch dadurch unterstrichen, dass die fachbezogenen
Kernlehrpläne für die Sekundarstufe I (in NRW) dem Bereich BNE
den Status einer Querschnittsaufgabe zuweisen (vgl. MSW-NRW 2019: 10).
Die auf diese Annahmen aufbauenden curricularen und materialgestützten
Voraussetzungen sind im Fach Deutsch allerdings nur in Teilen günstig:
Konkrete Ansatzpunkte für die Behandlung der Querschnittsaufgabe BNE
werden inhaltlich-curricular in den Kernlehrplänen der Sekundarstufe I für das
Fach Deutsch an Gymnasien/Gesamtschulen (in NRW) nicht ausdifferenziert
(vgl. MSW-NRW 2019). Die thematischen Schwerpunkte für die Sekundarstufe
II (vgl. MSW-NRW 2014) ebenso wie die Vorschläge für das Zentralabitur (MSBNRW
o.J.) deuten nicht auf konkrete Ansatzpunkte zur Behandlung des
Themas hin.
Im Orientierungsrahmen für den Lernbereich globale Entwicklung der KMK
(KMK/BMZ 2016: 129-155) werden Fragen der Werbung zwar als anschlussfähig
erwähnt, weitere Ausführungen für das Fach Deutsch finden sich dort
bezogen auf Aspekte der ökologischen Nachhaltigkeit jedoch nicht. Und bezogen
auf vorliegende Unterrichtsmaterialien werden im Rahmen der vom
Bundesministerium für Umwelt (BMU) entwickelten Materialien deutschunterrichtsaffine
Themen der ökologischen Nachhaltigkeit nur implizit angesprochen.
5 Aus dieser Perspektive scheint es dringend geboten, zum einen nach
konkreten curricularen Ansatzpunkten zu schauen, die eine Integration von
Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit problemlos ermöglichen, zum anderen
kommt damit jedoch zusätzlich die durch dieses Heft anmoderierte Notwendigkeit
in den Blick, Unterrichtsmaterialen zu entwickeln, die die Potenziale des
sprachlichen Unterrichts für die Bearbeitung von Themen der ökologischen
Nachhaltigkeit berücksichtigen.
5 Vgl. dazu die Bildungsmaterialien des BMUs (https://www.schule-der-zukunft.nrw.de
/fileadmin/user_upload/Schule-der-Zukunft/Materialsammlung/downloads/klima_de_
gesamt.pdf; 28.03.2022).
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
214
Bezogen auf den schulischen Deutschunterricht bieten sich unterschiedliche
kanonische Textsorten wie beispielsweise die Erörterung, die Argumentation
oder die (politische) Rede an. Auch im Zusammenhang mit spezifischen
Medienformaten wie Blogs, Posts, Tweets oder YouTube-Videos kann das
Thema analytisch und produktionsorientiert integriert behandelt werden. Das
gleiche gilt für literarische Gattungen wie den Roman (vgl. Bartosch, Stetter und
Susteck i.d.H.), für die literarisch-poetische Verarbeitung von Idyllen (vgl.
Susteck i.d.H.) oder für Songtexte (vgl. Scheitza/Visser i.d.H.), um nur einige
Beispiele zu nennen.
Dennoch scheint sich das Thema Werbung bzw. die Analyse werbender
Textsorten, um die es in diesem Beitrag im Weiteren aus empirischer Sicht
gehen soll, aus mehreren Gründen besonders anzubieten. Werbung ist für das
Fach Deutsch in Jahrgangsstufe 9 fest verankert (MSW-NRW 2019: 38). Darüber
hinaus sind die Gegenstände werbender Textsorten6 – wie im Weiteren auch
aus analytischer Sicht gezeigt werden soll – unmittelbar an Fragen eines nachhaltigen
Lebensstils gekoppelt, da Werbung zwangsläufig auf Formen der
Konsumsteigerung ausgerichtet ist (vgl. Janich 2013: 47) und diese wiederum
zwingend mit Fragen der (nicht) nachhaltigen Herstellung, Verbreitung, Konsumption
und Entsorgung von Produkten verbunden ist.
Bezogen auf den Aspekt der Handlungsorientierung sind werbende Textsorten
darüber hinaus deshalb besonders relevant, weil Werbung in den letzten 20
Jahren kontinuierlich dazu übergegangen ist, unter Verweis auf die ‘Nachhaltigkeit‘
von Produkten zum „Kaufen von Dingen“ anzuhalten (Belz/Bilharz
2005). Damit wird der Handlung des Kaufens im Rahmen von Werbetexten
diskursiv der Status einer Nachhaltigkeitsstrategie zugesprochen, die es (nicht
nur) mit Schüler*innen zu thematisieren lohnt (vgl. Kapitel 2).
Keineswegs irrelevant ist dabei, dass werbende Textsorten aufgrund ihrer unmittelbaren,
alltagsweltlichen Bedeutung für Jugendliche konstant aktuell sind
(vgl. dazu bereits Rastner 1998: 29). In der Folge bedarf es keiner aufwendigen
didaktischen Integration werbender Textsorten in die Welt der Schüler*innen;
6 Die Kategorie des Textes wird in diesem Beitrag in ihrer multimodal erweiterten Bedeutung
im Anschluss an Fix (2008) und Stöckl (2016) genutzt und beinhaltet neben dominant
sprachlichen Texten auch Textsorten wie z. B. Instagramposts, Werbespots oder Printanzeigen,
die als funktionale Kombination aus sprachlichen und bildlichen Elementen beschrieben
werden müssen (vgl. auch Meer/Pick 2019).
metaphorik.de 33/2023
215
sie sind genuiner Bestandteil ihrer Welt. Zusätzlich betreffen werbende Textsorten
Lehrende und Lernende gleichermaßen und damit handelt es sich um
einen lebensweltlichen Bereich, mit dem die Lehrenden aus nachhaltiger
Perspektive keineswegs (zwingend) souveräner umgehen (können) als ihre
jugendlichen Schüler*innen; aus emanzipatorischer Sicht eigentlich ein didaktischer
Glücksfall für das gemeinsame (und damit symmetrische) Nachdenken
über Diagnosen und deren Konsequenzen.
Vor dem Hintergrund dieser Vorüberlegungen wird es im folgenden zweiten
Kapitel zunächst aus gegenstandsorientierter Sicht darum gehen, Fragen des
Zusammenhangs zwischen (Lebensmittel-)Werbung und nachhaltigem Handeln
in den Blick zu nehmen.7 Auf der Suche nach für den Deutschunterricht
spezifischen, didaktisch relevanten Analysekategorien soll hieran anschließend
im dritten Kapitel die Kategorie des Greenwashings problematisiert werden,
die sich nur auf den ersten Blick problemlos für eine Operationalisierung im
Sprach- bzw. Deutschunterricht eignet. Aufbauend auf diese kritische Kommentierung
geht es im vierten Kapitel darum, anhand einer kleinen empirischen
Studie aus dem Bereich der Bewerbung von Lebensmitteln auf Instagram
unter Bezug auf die für den Sprach- und Deutschunterricht relevanten Kategorien
der Metapher (vgl. dazu auch Scheitza/Visser i.d.H.) und des Narrativs
(vgl. dazu Meer 2023; Susteck i.d.H.) der Frage nachzugehen, wie Nachhaltigkeit
im Rahmen dieser Werbepraktiken konstruiert wird und welche
konkreten Handlungsaspekte diesen Konstruktionen inhärent sind. Im fünften
Kapitel sollen die Befunde der Studie abschließend genutzt werden, um
konkrete Ansatzpunkte für den schulischen Deutschunterricht nachzuzeichnen,
die es erlauben, analytisch und handlungsorientiert in sprachlichen
Fächern aktiv werden zu können.
2. Das Thema ‚Nachhaltigkeit‘ im Rahmen des sprachlichen
Unterrichts am Beispiel der Lebensmittelwerbung
Schaut man sich zunächst einmal die in der Philologie verbreitete (Selbst-)Einschätzung
an, dass die philologischen Teildisziplinen bzw. die sprachlichen
Fächer anders als die naturwissenschaftlich und/oder technisch ausgerichteten
7 S. dazu auch die Unterrichtsreihe für den sozialwissenschaftlichen Unterricht in den
Materialien des BMU „Lebensmittel: Ist das Bio?“ (BMU 2016)
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
216
MINT-Fächer nicht für Fragen der Nachhaltigkeit zuständig seien, so steht diese
Annahme in einem groben Gegensatz zur Tatsache, dass es kein Problem im
Bereich der Nachhaltigkeit gibt, das nicht (auch) kommunikativ, und das
bedeutet unter Einsatz von sprachlichen und bildlichen Elementen, konstituiert,
verhandelt oder diskutiert wird. Dies gilt nicht nur für den Bereich des medialen
und politischen Sprechens und der Werbung, sondern auch für Fragen des
ästhetisch-literarischen Umgangs mit Nachhaltigkeit.
Doch selbst wenn man dies anerkennt und die immer auch interdisziplinäre
Dimension des Umgangs mit Fragen der Nachhaltigkeit im schulischen Unterricht
nicht als prinzipielles Hindernis begreift, wird gerade im sprachlichen
Unterricht bei der Behandlung von Fragen der diskursiven Konstruktion von
Nachhaltigkeit sehr deutlich, dass dieses Thema in besonderem Maße belastet
ist durch einen potenziellen Kontrast zwischen moralisch-ethischen Aspekten
und dem normativen Auftrag der Schule, Schüler*innen unabhängig von ihrer
Herkunft (u.a. den finanziellen Möglichkeiten ihres Elternhauses) und den
Überzeugungen ihrer Herkunftsfamilien (u.a. deren politischen Ansichten)
Zugang zu den Inhalten des Unterrichts zu ermöglichen. An dieser Stelle tut
sich der geowissenschaftliche und der naturwissenschaftliche Unterricht zu
Fragen der Nachhaltigkeit vor dem Hintergrund der Vielzahl gesicherter
Erkenntnisse zum Klimawandel bzw. dem Verlust an Biodiversität nachvollziehbar
leichter als der sprachliche. Letzterer kommt durch die ihm inhärenten
gesellschaftspolitischen und weltanschaulichen Komponenten deutlich schneller
in die Situation, sich mit unterschiedlichen diskursiven Positionen und den
darin enthaltenen ethisch-moralischen Fragen der Nachhaltigkeit auseinandersetzen
zu müssen.
Diese Feststellung ist umso entscheidender, wenn man die Ansicht vertritt, dass
es gerade im Zusammenhang mit Fragen der Nachhaltigkeit von Bedeutung ist,
ins Handeln zu kommen (vgl. dazu aus tendenziell kritischer Perspektive
Bartosch i.d.H.). Hier sind unterrichtspraktische Projekte beispielsweise aus
dem Bereich des (Urban) Gardenings in vielen Fällen konfliktärmer umzusetzen.
Will man hingegen in sprachlichen Fächern über die Auswirkungen von
bestimmten Formen des Konsumverhaltens oder der Ernährung sprechen, läuft
man immer auch Gefahr, konkrete Lebensstile (nicht nur der Schüler*innen,
sondern vor allem auch ihrer Eltern) zu attackieren. Hier scheint es aus der
Perspektive eines kommunikations- und diskursanalytischen Ansatzes kaum
metaphorik.de 33/2023
217
eine Position zu geben, die nicht mindestens zwei Seiten hat. Hinzu kommt,
dass Schüler*innen in vielen Bereichen nur begrenzt Einfluss auf die Gestaltung
des Lebensstils in ihrem Elternhaus nehmen können und es darüber hinaus
nicht darum geht, den Jugendlichen zu suggerieren, dass sie individuell in der
Lage wären, den Klimawandel aufzuhalten.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen richtet sich der Blick im Rahmen
dieses Beitrags nicht zufällig auf Fragen der (Lebensmittel-)Werbung, einen
Bereich, der in der gesamten Nachhaltigkeitsdiskussion bezogen auf die Relevanz
des Konsumverhaltens vor allem der reichen Industrieländer von schwer
zu bestreitender Relevanz ist. Aus der Perspektive des sprachlichen Unterrichts
ist dieses Thema über die bereits genannten Aspekte hinaus auch deshalb
besonders geeignet, als Anschlussstelle für die Beschäftigung mit nachhaltigkeitsrelevanten
Themen zu fungieren, weil die Relevanz von Fragen des individuellen
Konsums nicht von außen an das Thema herangetragen werden muss,
sondern diesem inhärent ist. Damit handelt es sich um eine Schnittstelle
zwischen individuellem und gesellschaftlichem Handeln und auch dieser
Zusammenhang muss nicht künstlich konstruiert werden, wie dies ansonsten
häufig bei dem Versuch der Herstellung lebensweltlicher Bezüge im schulischen
Unterricht zu beobachten ist. Darüber hinaus lassen sich unter Bezug
auf werbende Textsorten problemlos Fragestellungen generieren, die potenziell
im Entscheidungsbereich der Jugendlichen selbst liegen. Zwar haben diese nur
geringen Einfluss auf die finanziellen Möglichkeiten, das Kaufverhalten und
den Ernährungsstil ihrer Eltern, aber dennoch treffen Jugendliche gerade im
Zusammenhang mit Fragen des Konsums und im Bereich ihrer Ernährung eine
Vielzahl von Entscheidungen, die nicht zwingend deckungsgleich mit den
Vorgaben ihrer Herkunftsfamilien sind.
Bezieht man diese Vorüberlegungen nun auf die für den schulischen (Sprach-)
Unterricht relevanten Ebenen des Erkennens, Bewertens und Handelns (vgl.
dazu KMK/BMZ 2016: 159-162; Oomen-Welke 2013: 355; Scheitza/Visser
i.d.H.), so ergibt sich auf der Ebene des Erkennens zunächst einmal die Frage,
anhand welcher Analysekategorien es möglich ist, Aspekte der Nachhaltigkeit
im Zusammenhang mit werbenden Textsorten zu fassen.8 Schaut man sich die
8 Auf Fragen des Bewertens und Handels komme ich im 5. Kapitel dieses Beitrags zurück.
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
218
Unterrichtsmaterialien des BMU für das Fach Deutsch an (Umwelt-im-
Unterricht.de), so wird nur aus sehr allgemeiner Sicht auf den Zusammenhang
zwischen dem Fach und Fragen der Nachhaltigkeit referiert, indem
beispielsweise unter Bezug auf das Weihnachtsfest die Relevanz von Konsum
für das eigene Wohlbefinden (vgl. BMU 2018) oder aber des Essens von Fleisch
für den Klimawandel thematisiert wird (vgl. BMU 2019). Erweitert man den
Blick zusätzlich auf andere Anbieter*innen von Bildungsmaterialen (vgl.
exemplarisch den Bildungsserver des WDR Quarks.de 21.06.2019), so scheint
sich am ehesten die Kategorie des Greenwashings für die Nutzung im
Deutschunterricht anzubieten, die jedoch gerade aus analytischer Perspektive
grundlegende Probleme mit sich bringt (siehe dazu auch Quarks.de selbst).
Diese sollen im nächsten Kapitel bezogen auf den Deutschunterricht genauer
betrachtet werden.
3. Greenwashing oder eine Frage der Kommunikation von
Glaubwürdigkeit
Am 29. Januar 2022 berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) über
Russell Reynolds, der 9500 Vorstände und Mitarbeiter in 11 Ländern dazu
befragt hat, wie sie die deutliche Tendenz beurteilen, mit Aspekten aus dem
Bereich der Nachhaltigkeit zu werben bzw. PR zu betreiben. Bezogen auf die
deutschen Befragten stellt sich hierbei heraus, dass „46 Prozent der befragten
deutschen Vorstände“ angeben, „dass Nachhaltigkeitsmaßnahmen aus Marketingerwägungen
getroffen werden“, um als „gesellschaftlich verantwortlich
angesehen zu werden und sich über ein Nachhaltigkeitsimage vom Wettbewerb
abzusetzen“, aber lediglich „15 Prozent der Vorstände […] für zusätzliche
Wertschätzung“ auf Nachhaltigkeit setzen (FAZ.net, 29.01.2022, 11.50 Uhr).
Diese ersten und selektiven Befunde machen deutlich, dass die Frage nach der
Relation zwischen nachhaltigem Gebrauchswertversprechen und praktizierter
Nachhaltigkeit mehr als angemessen und relevant ist.9
Nun ist diese Feststellung bezogen auf den sprachlichen Unterricht im Allgemeinen
und den Deutschunterricht im Speziellen allerdings mit dem Problem
9 Diese Annahme wird auch durch Belz und Bilharz (2005) bestätigt, die bereits 2005 darauf
hingewiesen haben, dass es einen Markt für Nachhaltigkeit gibt, insgesamt aber empirisch
selektiv und in der Folge sehr optimistisch davon ausgingen, dass dieser Markt auch problemlos
faktische Nachhaltigkeitseffekte erzeugen würde.
metaphorik.de 33/2023
219
verknüpft, dass sich die durch die Befragung angedeutete Differenz zwischen
Anspruch und Wirklichkeit philologisch nicht einfach an der Oberfläche von
Texten (seien sie werbend oder nicht) ablesen lässt. Dieses Problem wird durch
die Kategorie des Greenwashings aber nur scheinbar gelöst. Angesteuert wird
mit dieser Kategorie die Glaubwürdigkeit eines Gebrauchswertversprechens.
Die Frage, die sich jedoch im Anschluss an die Annahme der Relevanz von
Formen des Greenwashings stellt, liegt in der Messbarkeit bzw. Überprüfbarkeit
der Differenz zwischen nachhaltigem Gebrauchswertversprechen und
‘tatsächlicher‘ Nachhaltigkeit.
Abb. 1: Eigene Zusammenstellung von Verpackungen, Instagramposts oder Werbespots
Schaut man sich in diesem Zusammenhang die in Abbildung 1 zu sehenden
Zufallsbefunde vorliegender Werbeformate bzw. implizit werbender Verpackungen
an, so zeigt sich, dass sich hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der
anhand dieser Beispiele vermittelten nachhaltigen Botschaften Fragen auf
mindestens vier Ebenen stellen:
- Ist die Verpackung des beworbenen Produkts tatsächlich ökologisch nachhaltig
und dem untergeordnet, ist sie überhaupt notwendig?
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
220
- Ist der Produktions- bzw. Gewinnungsprozess des konkreten Produkts ökologisch
nachhaltig?
- Kann das Produkt selbst als ökologisch nachhaltig eingeschätzt werden?
- Ist das Produkt selbst eigentlich notwendig und wenn ja, wofür?
Insgesamt referieren diese Aspekte auf eine fachlich gemischte Expertise, die
teils sicherlich auch unter Einsatz des eigenen alltagsweltlichen Wissens beurteilt
werden kann, sich teils aber auch dem Zugriff des ‘gesunden Menschenverstands‘
entzieht und einer interdisziplinären Perspektive oder komplexen
Recherchearbeit bedarf. So lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen,
dass die Plastikverpackung des Katjes-Produkts nicht klimaneutral ist, aber
vielleicht sind es die veganen Grün-Ohr Hasen in dieser Verpackung trotzdem.
Unter Bezug auf dieses Einzelbeispiel kann man festhalten, dass sich der Begriff
des Greenwashings häufig als eine Mischung aus mehr oder weniger begründeten
Vermutungen und politischen Vorwürfen erweist und sich somit nur
begrenzt für den analytischen Einsatz im Sprach- oder Deutschunterricht eignet.
Brauchbar ist er lediglich an Stellen, die unmittelbar nachvollziehbar sind
oder in Fällen, in denen Schüler*innen in Form von eigenen Internetrecherchen
Studien finden können, die nachweisen, dass werbende Firmen sich nicht dem
eigenen Verkaufsversprechen angemessen verhalten.
Sucht man nun also weiter nach genuin sprachlichen und bildlichen Analysekategorien,
die einen Zugang zu Fragen der Nachhaltigkeit im sprachlichen
Unterricht ermöglichen, so bieten sich eher andere Ansatzpunkte an, Fragen der
Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit dem Thema Werbung zu behandeln:
- Phänomenologisch primär besteht ein erster Ansatzpunkt im kritischen
Nachdenken über den Zusammenhang zwischen Fragen der Gestaltung
von Verpackungen (vgl. dazu Schmitz 2011), ihrer werbenden Funktion und
der Nachhaltigkeit verpackter Produkte. Stöckl weist in diesem Zusammenhang
auf die Einführung von Marken im 19. Jahrhundert hin und ihre
bindende Funktion für Fragen der Produktvermarktung (vgl. 2013: 246).
Diese Feststellung kann im Gespräch mit Schüler*innen dahingehend ausgeweitet
werden, dass die Kombination aus verteilungspraktischen, hygienischen
und werbepraktischen Aspekten im Laufe des 20. Jahrhunderts
dazu geführt hat, dass Produkte heute flächendeckend (häufig mehrfach)
verpackt sind und der Verpackung selbst dabei nahezu durchgängig eine
(vielleicht sogar nur) werbende Funktion zukommt.
metaphorik.de 33/2023
221
- Dabei sind ergänzende Hinweise auf die zunehmende Industrialisierung
des Lebensmittelhandels in Deutschland in den 1950er Jahren geeignet (vgl.
Langer 2013), bei Schüler*innen ausgehend von der Erkenntnis der historischen
Bedingtheit unseres Lebensmittelverkaufs ein Nachdenken über
den eigenen Umgang mit (verpackten) Waren auszulösen. Dabei kann es im
Gespräch darum gehen, Verbindungen zwischen dem zwingend markenaffinen
Charakter des aktuellen Verpackungssystems, der Frage des Preises
von Produkten und den eigenen Möglichkeiten eines flexiblen Umgangs mit
diesem System im Blick zu behalten. Schüler*innen zu suggerieren, sie
könnten sich den Zwängen des aktuellen Vermarktungssystems einfach
entziehen, ist dabei ebenso lebensweltfremd wie unehrlich, da erwachsene
Lehrende den gleichen (sich nur altersspezifisch unterscheidenden) Zwängen
unterliegen. Gleichzeitig kann gerade eine solche Perspektive die Aufmerksamkeit
auf die Ambivalenz aller Nachhaltigkeitsfragen zwischen notwendigen
politischen Veränderungen und eigenen Verhaltensweisen
lenken.
- Im Kernbereich des sprachlichen Unterrichts sollte jedoch das „Wie“ der
sprach-bildlichen Konstruktion von Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit
Werbebotschaften stehen. Die Basis eines solchen Ansatzes besteht in der
grundlegenden Erkenntnis, dass Werbung nur in ihrer sprach-bildlichen
Konstruiertheit multimodal erfasst werden kann (vgl. Stöckl 1998, 2011,
2013, 2016; Meer/Pick 2019; Meer/Och 2020). Auf diese Annahme
aufbauend müsste es darum gehen, typische Formen der Konstruktion von
Nachhaltigkeit in werbenden (Sprache-Bild-)Texten zu analysieren. Hierauf
werde ich im folgenden Kapitel exemplarisch am Beispiel der Lebensmittelwerbung
auf Instagram zurückkommen. Aus analytischer Sicht ist entscheidend,
dass ein solcher Zugriff über die werbende Konstruktion von
Glaubwürdigkeit eher ein Nachdenken über den Zusammenhang von
Werbung und Nachhaltigkeit eröffnet, aber häufig keine eindeutige Diagnose
hinsichtlich der Annahme von Greenwashing-Strategien ermöglicht.
Letzteres kann – wie oben bereits angedeutet – lediglich punktuell in Form
von Internetrecherchen von den Schüler*innen selbst durchgeführt werden.
Insgesamt geht es bezogen auf den schulischen Sprach- und Deutschunterricht
aus fächerspezifischer Perspektive somit darum, analyserelevante Aspekte des
werbenden Umgangs mit Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt zu stellen, die für
Schüler*innen argumentativ beurteilbar und/oder recherchierbar sind. Dabei
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
222
greifen die genannten Ansatzpunkte durchgängig Aspekte auf, die curricular
bereits verankert sind und insoweit im Kern bestehende und insoweit unproblematische
Anschlussmöglichkeiten an den aktuellen Deutschunterricht bieten.
Dabei besteht das Ziel darin, ein Konzept zu entwickeln, mit dem die Analyseund
Diskussionskompetenz der Schüler*innen gestärkt wird und nicht die
umweltpolitische Einstellung der Lehrenden im Zentrum der Aufmerksamkeit
steht.
Aufbauend auf diese ersten allgemeinen Überlegungen bezüglich der Verankerung
von Fragen der nachhaltigen Entwicklung am Beispiel des Themas der
(Lebensmittel-)Werbung soll nun im nächsten Schritt – zunächst aus vorrangig
fachwissenschaftlicher Perspektive – eine (kleine) empirische Studie vorgestellt
werden, die im Rahmen des sprachlichen Unterrichts (speziell hier im Rahmen
des Deutschunterrichts) genutzt werden kann.
4. Metaphern und Narrative im Rahmen von Werbung für
vegetarische/vegane Produkte auf Instagram
Ausgangspunkt der Studie bildet ein analytischer Zugriff auf Instagramposts
von vier unterschiedlichen Firmen bzw. Produktzweigen aus dem Lebensmittelbereich:
Konkret sollen zum einen Daten von zwei traditionellen Unternehmen
untersucht werden, die in den letzten Jahren einen nachhaltigen
Firmenzweig bzw. eine vegane Produktlinie entwickelt haben, konkret die
Nestle-Tochter Garden Gourmet und der vegane Zweig von Rügenwalder Mühle.
Zum anderen werden Posts von zwei vergleichsweise jungen Firmen untersucht,
die gezielt mit dem Anspruch vollwertiger bzw. veganer Ausrichtung auf
den Markt gegangen sind, Denns Biomarkt (gegründet 2003) und Veganz
(gegründet 2011). Mit dieser Auswahl soll gerade nicht suggeriert werden, dass
die traditionellen Unternehmen und die von ihnen vertretenen Marken Greenwashing
betreiben, während es die anderen ‘ehrlich meinen‘. Vielmehr geht es
um die Frage, wie die Wahrnehmung von Nachhaltigkeit der eigenen Produkte
im Rahmen der vier Instagram-Accounts diskursiv erzeugt wird und welche
sprachlichen und bildlichen Mittel eingesetzt werden, um Glaubwürdigkeit zu
erzeugen.10
10 Zur Kommunikation von Glaubwürdigkeit in der Werbung vgl. auch Meer/Staubach
(2019).
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Grundlage der qualitativen Befunde bildet ein Korpus bestehend aus 200
Instagramposts, die alle am 31.10.2021 heruntergeladen wurden, wobei von
jeder der genannten vier Firmen jeweils die ersten 50 Posts gespeichert und
analysiert wurden.11
4.1 Zur werbenden Spezifik des Umgangs mit Nachhaltigkeit
Die linguistische Werbeforschung war lange Zeit auf den Bereich der Printwerbung
fokussiert und in vorliegenden Konzepten des Deutschunterrichts wie
aber auch in einer Vielzahl von Sprachbüchern finden sich auch heute noch
deutliche Hinweise auf diese Gegenstandsreduktion. Entscheidend für die
Behandlung des Themas „Werbung und Nachhaltigkeit“ ist aber nicht nur, dass
Printanzeigen vor allem für Jugendliche heute nur noch von untergeordneter
Bedeutung sind, sondern zusätzlich, dass sich die Art der Ausgestaltung
konkreter Werbebotschaften seit der Jahrtausendwende substanziell verändert
hat. Textsorten, die nicht mehr enthalten als werbende Botschaften, die man im
schulischen Deutschunterricht mit der AIDA-Formel analysieren kann (vgl.
dazu Janich 2013: 37f.), sind im Rahmen komplexer Hybridisierungsprozesse
immer stärker in den Hintergrund getreten. Stattdessen haben sich neue
(hybride) Texte durchgesetzt, in deren Rahmen werbende und nicht explizit
werbende Textsorten und Textsortenelemente nebeneinander und miteinander
vermischt auftreten (vgl. Meer 2021). Zu diesen Formen der Vermischung
kamen mit dem Einzug der sozialen Netzwerke seit den 2010er Jahren
zusätzlich eine Vielzahl medialer Hybridbildungen, in deren Rahmen Tutorials
und Websites, Videos und Posts, Printanzeigen und Bannerwerbung, Zeitschriften
und Rezeptbücher, TV-Formate und Werbespots u.v.a. gemeinsam
‘werbende Universen‘ bzw. textuelle Netzwerke erzeugen, die sich rhizomartig
in alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt haben (vgl. dazu Meer 2022).
11 Bezogen auf die folgende Analyse ist herauszustellen, dass es sich bei Garden Gourmet,
Rügenwalder Mühle und Veganz um vegetarische bzw. vegane Produktlinien handelt,
während Denns Biomarkt biologisch-vollwertige Produkte vermarktet, was bedeutet, dass
sich dort auch Hinweise auf Fleischprodukte (aus nachhaltiger Tierhaltung) finden. Aus
Gründen der Vergleichbarkeit werden im Weiteren aber ausschließlich Posts analysiert, die
sich auf vegetarische und vegane Produkte beziehen.
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
224
Für das im Folgenden analysierte Korpus, in dessen Rahmen Fragen der Nachhaltigkeit
kommunikativ kontinuierlich aktualisiert werden, ist entscheidend,
dass keineswegs durchgängig oberflächlich werbende Verfahren genutzt
werden, wie der folgende Post von Rügenwalder Mühle paradigmatisch
verdeutlicht:
Abb. 2: Politik oder Werbung, https://www.instagram.com/p/CTxFvsUovLp/ (26.03.2022)
Ohne diesen für das analysierte Korpus keineswegs untypischen Post genauer
zu analysieren, wird deutlich, dass Fragen der (Produkt-)Werbung in diesem
Post auf das Firmenlogo und den Produktnamen beschränkt bleiben. Auch
wenn, mit Janich formuliert, der ‘Zweck‘ der hier realisierten Handlungen
schon aufgrund der medialen Umgebung der Posts als werbend beschrieben
werden kann, stehen im Mittelpunkt der konkret sprachlich und bildlich
realisierten ‘Mittel‘ deutlich informative und politisch ausgerichtete
Teilhandlungen, die im Bereich des Nachhaltigkeitsdiskurses anzusiedeln sind
(s. Janich 2013: 215f.).
An diese Vorbemerkungen anschließend wird es nun darum gehen, zentrale
Analysebefunde zusammenzutragen, die sich auf die Nutzung metaphorischer
und narrativer Prozesse der Konstruktion von Nachhaltigkeit in den analysierten
Accounts ergeben.
metaphorik.de 33/2023
225
4.2 Zum Einsatz von Metaphern und Narrativen im Rahmen von
Werbung mit Nachhaltigkeit
4.2.1 Metaphorische Prozesse der Konstruktion von Nachhaltigkeit
Vor dem Hintergrund der vorliegenden Fokussierung auf den Aspekt der
sprach-bildlichen Konstruktion von Nachhaltigkeit ist der kognitionstheoretische
Metaphernzugang von Lakoff und Johnson (1980) von besonderem
Interesse für die weiteren Überlegungen (vgl. dazu auch Hoiss und Scheitza/
Visser i.d.H.). In ihrem Buch Metaphors we live by gehen Lakoff und Johnson
davon aus, dass kognitive Metaphern (ebenso wie Metonymien) nicht ästhetisch-
theoretisches Beiwerk sind, sondern einen entscheidenden Beitrag zu
unserer Wahrnehmung von Wirklichkeit leisten (vgl. 1980: 85).
Spieß greift diese Annahme auf und weist unter Bezug auf die beiden Autoren
darauf hin, dass metaphorische Konzepte die Möglichkeit bieten, „Erfahrungen
des einen Bereichs partiell mit Hilfe von Begriffen von Erfahrungen eines
anderen Bereichs verständlich zu machen bzw. zu strukturieren“ (Spieß 2011:
205): Zwei voneinander unabhängige Erfahrungsbereiche, ein Quellbereich und
ein Zielbereich, können in Form von Projektions- bzw. Übertragungsprozessen
miteinander verknüpft werden (vgl. Lakoff/Johnson 1980: 10, 14; Spieß 2017:
98; Schmitt 2018: 3). Allerdings weist Spieß in Abgrenzung zu Lakoff und
Johnson zurecht darauf hin, dass derartige Projektions- und Übertragungsprozesse
nicht immer unidirektional vom Quellbereich zum Zielbereich verlaufen,
sondern dass vielfach ein komplexes Wechselspiel zwischen den beiden
Bereichen zu beobachten ist (vgl. 2017: 98).
Diese Überlegungen sollen im Folgenden genutzt werden, um sie im Sinne eines
weiten Verständnisses von metaphorischen und metonymischen Projektionsprozessen
auf multimodale Texte anwenden zu können.12 Dies soll anhand des
folgenden Posts von Garden Gourmet exemplarisch verdeutlicht werden:
12 Ob es sinnvoll ist, im Rahmen solcher komplexer Projektionsprozesse noch von Metaphern
und Metonymien im Sinne von Lakoff und Johnson zu sprechen, muss an anderer Stelle
geklärt werden. In jedem Fall handelt es sich um ein weites Verständnis von metaphorischen
und metonymischen Projektions- bzw. Übertragungsprozessen.
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226
Abb. 3: Post vom 23.06.2021 vom Instagram-Account von Garden Gourmet,
https://www.instagram.com/p/CQcmLS8KqZ3/ (13.02.2022)
Der in Abbildung 3 vorliegende Post von Garden Gourmet wurde am Tag des
Spiels der deutschen Fußballnationalmannschaft im Rahmen der Europameisterschaft
2021 morgens gesendet. Hätte ein*e User*in ihn am Tag des Spiels
auf seinem*ihrem Smartphone betrachtet (und hierbei somit zunächst einmal
nur die linke Seite der Abbildung erblickt), so hätte er*sie mit großer Wahrscheinlichkeit
zunächst die Pizza wahrgenommen, die im visual emphasis
(Meer/Pick 2019: 67) in der Mitte zu sehen ist. Ob der einem Fußballfeld
gleichende Hintergrund auf dieser ersten Wahrnehmungsebene (vgl. Schmitz
2011) bereits gesehen worden wäre, kann nicht mit Sicherheit entschieden
werden. Sollte dies allerdings aufgrund einer ersten schnellen oder einer nur
oberflächlichen Lektüre der Fall gewesen sein, so wäre es bereits hier zu einem
ersten metaphorischen Projektionsprozess im Sinne von Lakoff und Johnson
gekommen, bei dem ein Zusammenhang zwischen dem Quellbereich ERNÄHRUNG
(„Pizza“) und dem Zielbereich FUßBALL („Fußballfeld“) hergestellt
worden wäre.
metaphorik.de 33/2023
227
Analysiert man diesen Übertragungsprozess nun jedoch im Detail, so ließen
sich aus Perspektive der Wahrnehmungsabfolge einige weitere mögliche
Zwischenschritte erfassen. So kann ein Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen
Pizza und der Headline „Bereit für Hunger“, die den oberen Teil
der abgebildeten Pizza schneidet, hergestellt werden. Die hierbei ausgelöste
(pragmatische) Assoziation zwischen Pizza und Hunger stellt eine Projektion
dar, mit der das Nahrungsmittel der Pizza hin zu einem körperlich wahrnehmbaren
Gefühl, dem Hunger, erfolgt. Da „Pizza“ und „Hunger“ jedoch der
gleichen Domäne (ERNÄHRUNG) angehören, würde es sich hierbei um einen
metonymischen Projektionsprozess handeln (vgl. Lakoff/Johnson 1980: 35-40).
Wie bereits weiter oben angemerkt, könnte auch dieser metonymische Prozess
genau umgekehrt vom Gefühl des Hungers hin zur Pizza beschrieben werden.
Eine Fortsetzung der Betrachtung des Posts vorausgesetzt, könnte die Wahrnehmung
der vorhergehenden Metonymie im nächsten Schritt durch eine
weitere Projektion ergänzt werden, die sich daraus ergibt, dass das Lexem
Hunger durch die genutzten Versalien und die Aufspaltung in die Silben HUN
und GER (verstärkt durch die Abbildung der Landesflaggen von Ungarn und
Deutschland) vom Gefühl des Hungers hin zu den Länderkürzeln verschoben
wird. Damit würde die metaphorische Gesamtbedeutung von ‘Hunger
während des anstehenden Fußballspiels‘ erzeugt. Auch hier würde die Umkehrung
des Projektionsprozesses die Gesamtbedeutung der Metapher hervorbringen,
die als sich gegenseitig unterstützendes Wechselspiel zwischen den
beiden genannten Domänen HUNGER und FUSSBALLSPIEL erst entsteht.
Abgeschlossen wäre diese intensive Lektüre des ersten Teils des Posts, wenn
Rezipient*innen jetzt in einem dritten Projektionsprozess ausgehend von dem
angekündigten Fußballspiel zwischen Ungarn und Deutschland die Handlungsaufforderung
von Garden Gourmet zur Kenntnis nähmen, die abgebildete
Pizza während des Spiels zu probieren. Spätestens jetzt wird auch das als
Hintergrund abgebildete Fußballfeld und der ikonisch genutzte Fußball wahrgenommen.
Schaut man sich die beschriebenen Verschiebungsprozesse zusammenfassend
an, so wird hier der Zusammenhang zwischen Fußball, Hunger
und Pizza (von Garden Gourmet) deutlich in den Mittelpunkt gestellt und
damit die Alltäglichkeit bzw. die Alltagsorientierung der dargestellten Projektionsverfahren
hervorgehoben.
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
228
Diese Überlegungen sollen nun genutzt werden, um einige für das analysierte
Korpus besonders auffällige und rekurrente metaphorische und metonymische
Projektionsverfahren beispielgestützt zu verdeutlichen.
VEGANE ERNÄHRUNG IST LEISTUNGSFÄHIGKEIT und VEGANE ERNÄHRUNG IST
NACHHALTIGKEIT
Während bei der vorherigen Analyse nur das Bild und die sprachlichen
Bestandteile des Feeds betrachtet wurden, sollen im Weiteren auch die
sprachlichen Elemente der Caption berücksichtigt werden. Hierbei ist relevant,
dass die Caption von Rezipient*innen in der Regel erst dann erlesen wird, wenn
das Bildelement Interesse erzeugt hat.
Abb. 4: Veganer Käseersatz, https://www.instagram.com/p/CT2ciGnM5S9/ (20.03.2022)
Betrachtet man aus einer solchen Perspektive den Post in Abbildung 4 unter
Berücksichtigung der Caption, so fällt auf, dass im Anschluss an die Wahrnehmung
der Tomaten, der selbst gemachten Brote und des verpackten veganen
Käses von Veganz die User*innen in der Caption erfahren, dass sich der
Verzehr veganer Lebensmittel vor allem für aktive und damit leistungsfähige
Menschen anbietet („Ausflug an den See“, „mehrtägige Wanderungen“, Verlinkung
mit der Outdoorfirma „Campz“). Dass diese Hinweise unmittelbar auf
das weiter unten analysierte Narrativ „vegane Ernährung macht aktive Menschen
noch leistungsfähiger“ referiert, soll hier zunächst nur erwähnt werden.
metaphorik.de 33/2023
229
Insgesamt wird im Zusammenspiel zwischen bildlichen und sprachlichen Teilelementen,
zwischen dem Foto und der Caption, in Form einer metaphorischen
Verschiebung der abgebildeten veganen Produkte die Metapher VEGANE
ERNÄHRUNG IST LEISTUNGSFÄHIGKEIT konstruiert, die einen unmittelbaren
Zusammenhang zwischen veganer Ernährung, der Firma Veganz und dem
Aspekt der Leistungsfähigkeit entstehen lässt. Dieser erste metaphorische
Projektionsprozess ist insoweit entscheidend, als er auf die verbreitete Vorstellung
reagiert, das Fleisch die Voraussetzung für (körperliche) Leistung sei.
Auf dieses metaphorisch realisierte Argument aufbauend wird im betrachteten
Post in der Caption nun in einem zweiten Schritt explizit der Zusammenhang
zwischen veganer Ernährung (von Veganz) und Nachhaltigkeit formuliert:
„Und klar – das geht selbstverständlich auch nachhaltig und vegan“. Diese Feststellung
weist die über das Foto bereits wahrgenommenen Tomaten (‘unverarbeitete
Rohkost‘), die selbstgemachten Brote und den veganen Käseersatz nun
zusätzlich als vegan und deshalb als nachhaltig aus. Die dabei genutzten
semantischen Merkmale ‘selbstgemacht‘ (Schnitten mit Vollwertbrot), ‘vollwertig/
bio‘ (Tomaten und veganer Käse), ‘gesund‘ und ‘vegan (mit Veganz)‘ sind
somit Teil des konstruierten metaphorischen Gesamtkomplexes VEGANE
ERNÄHRUNG (von Veganz) IST NACHHALTIGKEIT. Dabei besteht die Wirkung der
Metapher gerade darin, dass die Übereinstimmung der Domänen ERNÄHRUNG
und NACHHALTIGKEIT erst konstruiert werden muss, um jenseits einer konkreten
Marke (hier „Veganz“) kontinuierlich präsupponiert werden zu können.
An dieser Stelle ist bezogen auf den Aspekt der behaupteten Nachhaltigkeit
entscheidend, dass die beiden analysierten metaphorischen Übertragungsprozesse
vom Bereich der Ernährung auf die Bereiche Leistungsfähigkeit und
Nachhaltigkeit die Aufmerksamkeit auf einen nachhaltigen, aktiven Lebensstil
lenken, dabei jedoch die Tatsache aus dem Blick verlieren, dass der vegane Käse
von Veganz nur in einer Plastikverpackung erworben werden kann.
Diese Feststellung verweist im Anschluss an Lakoff und Johnson (1980) auf
zwei Begleiterscheinungen metaphorischer Prozesse, die sie als highlighting und
hiding bezeichnen (vgl. Lakoff/Johnson 1980: 10-13). Unter dem Aspekt des
highlightings fassen die Autoren Effekte metaphorischer Prozesse zusammen,
die durch die Metapher besonders in den Mittelpunkt gerückt werden,
während sie unter hiding das Zurückdrängen anderer Aspekte verstehen.
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
230
Übertragen auf den Post in Abbildung 4 hat die vorhergehende Analyse unterstrichen,
dass im Rahmen des metaphorischen Komplexes VEGANE ERNÄHRUNG
IST LEISTUNGSFÄHIGKEIT/NACHHALTIGKEIT die Leistungsfähigkeit und Nachhaltigkeit
in den Mittelpunkt gerückt wird, gleichzeitig jedoch der Aspekt der
(Plastik-)Verpackung des veganen Käses als wohl nicht-nachhaltige Begleiterscheinung
des Produkts in den Hintergrund tritt.
Dass diese Diagnose des Zurückdrängens des Aspekts der Verpackung in den
untersuchten Accounts den Normalfall darstellt, soll auch im nächsten Schritt
anhand der bildlich realisierten Metonymie des ‘Selbst-Machens veganer
Speisen‘ belegt werden.
VEGANE ERNÄHRUNG IST (NACHHALTIG) SELBST HERGESTELLT
Auch die beiden folgenden Posts arbeiten auf für das analysierte Korpus
typische Weise bildlich und sprachlich mit der Annahme, dass es sich um
unverpackte Produkte (Highlighting) handelt und verdecken hierbei (Hiding),
dass die abgebildeten Produkte in Gänze bzw. in ihren Teilelementen verpackt
gekauft werden müssen:
Abb. 5a: Vegane Bratwurst, https://www.instagram.com/p/CSZktO4qYAF/ (20.03.2022)
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231
Abb. 5b: Kürbis-Orangen-Konfitüre, https://www.instagram.com/p/CUm_nBDKHdf/
(20.03.2022)
In beiden Posts wird durch die Abbildung der fertigen und angerichteten Mahlzeiten
der Eindruck erweckt, die dargestellten Lebensmittel seien das Ergebnis
nachhaltiger Prozesse der ausschließlich selbst durchgeführten Verarbeitung
vollwertiger Lebensmittel. ‘Verdeckt‘, d.h. nicht gezeigt, werden hierbei
vielfältige Aspekte, die vom Ort des Anbaus der genutzten Lebensmittel
(frische Ananas, Orangen, Paprika) über deren Lieferketten auf den Tisch der
Verbraucher*innen (Kürbis, Ananas, Orangensaft, Paprika) bis hin zu den
Verpackungen (Würstchen, Orangensaft, Dosenananas, Dips) reichen.
Damit kommt den präsentierten Bildelementen die Funktion zu, als Endprodukte
pars pro toto und damit metonymisch den Nachweis zu erbringen, dass
die angebotenen Speisen der werbenden Firmen vorrangig selbst hergestellt
würden und insoweit unverpackt zu kaufen wären. Dieses Verständnis von
Nachhaltigkeit ruft typische Konzepte (und wie wir weiter unten sehen werden
‘Narrative‘) des traditionellen ‘Selbermachens von Speisen‘ auf und vermittelt
der Darstellung dadurch an Glaubwürdigkeit.
Damit verweisen die analysierten Posts auf das Bestreben, die Vollwertigkeit
und Nachhaltigkeit der Produkte in den Mittelpunkt zu rücken und damit
weniger nachhaltige Prozesse nicht in den Blick zu nehmen. Ausgehend von
dieser Feststellung sollen nun im folgenden Teilkapitel Narrative herausgearMeer:
Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
232
beitet werden, die gezielt Formen metaphorischer und metonymischer Übertragungsprozesse
nutzen, um den Aspekt der Nachhaltigkeit zusätzlich zu
fokussieren.
4.2.2 Narrative von Nachhaltigkeit
Im Bisherigen wurde bereits an zwei Stellen darauf hingewiesen, dass die
untersuchten metaphorischen bzw. metonymischen Prozesse zusätzlich eine
narrative Komponente beinhalten, indem beispielsweise der metaphorische
Komplex SELBSTGEMACHTE SPEISEN SIND NACHHALTIGKEIT darauf abzielt,
traditionelle Konzepte des Kochens als nachhaltige Praxis per se zu etablieren.
Die damit verbundene argumentative Komponente der Möglichkeit einer Verbesserung
der Welt durch eine ‘vegetarisch/vegane‘, ‘selbst gemachte‘, ‘vollwertige‘,
‘gesündere‘ und damit ‘nachhaltigere‘ Ernährung von X (X = jeweilige
Firma) soll nun in einem zweiten Schritt mit dem Begriff des Narrativs aufgegriffen
werden. Hierbei geht es darum, die bereits vorgelegten Analysen
durch die Betrachtung weiterer handlungsorientiert aufgeladener Verfahren
der narrativen Konstruktion von Nachhaltigkeit zu erweitern.
Leitend ist hierbei ein Narrativbegriff, mit dem auf sprachliche, sprach-bildliche
und bildliche Komplexe referiert wird, in deren Rahmen mindestens ein relevantes
Oppositionspaar (z.B. früher vs. heute, selbstgemacht vs. industriell produziert, un-
/verpackt oder nicht nachhaltig vs. nachhaltig, um nur einige der bereits angesprochenen
Gegensatzpaare zu nennen) in Form einer Handlungsentwicklung aufgegriffen
wird. Im Rahmen dieser Handlungskomponente werden die jeweiligen
Gegensatzpaare von handelnden Akteur*innen unter Nutzung einer oder mehrerer
metaphorischer bzw. metonymischer Projektionsprozesse semantisch und/oder
pragmatisch aufgelöst (vgl. Meer 2023). Entscheidend ist dabei aus theoretischer
Sicht, dass der genutzte Narrativbegriff nicht mit erzählenden Textsorten, also
Narrationen bzw. Erzählungen gleichgesetzt werden kann. Zwar können Narrative
im hier definierten Sinn zu Erzählungen ausgeweitet werden, sie können
jedoch auch im Rahmen von anderen Textsorten beispielsweise aus dem
Bereich der politischen Rede, des Sachtextes oder eben der Werbung genutzt
werden, um ein komplexes Bild typischer Handlungsentwicklungen entstehen
zu lassen.
metaphorik.de 33/2023
233
Diese Definition von Narrativ, die die vorliegenden diskursanalytischen
Bezugnahmen auf Metapherntheorien (vgl. Spieß 2017) und argumentationstheoretische
Toposanalysen (vgl. Wengeler 2017, 2021; Kienpointner 2017)
durch die funktionale Perspektivierung auf die Konstruktion von Handlungsentwicklungen
in der Zeit ergänzt, soll im Weiteren materialgestützt anhand unterschiedlicher
Narrative im Zusammenhang mit der diskursiv behaupteten Nachhaltigkeit
der Ernährung vegetarischer und veganer Produkte im Rahmen des
analysierten Korpus verdeutlicht werden.
Narrativ „Vegane Ernährung setzt Traditionelles auch in Zukunft nachhaltig
fort“
An vielen Stellen des untersuchten Korpus lässt sich die Tendenz erkennen, den
Eindruck der Kontinuität veganer Ernährung mit bereits traditionell vertrauten
Gewohnheiten fortsetzen zu können. Dies zeigt sich vor allem dort, wo traditionelle
Fleisch- oder Fischprodukte unter Nutzung narrativer Elemente vegan
neu wahrgenommen werden sollen, wie sich an dem in Abbildung 6 gezeigten
Post von Gourmet Garden zu veganen Schaschlik-Spießen verdeutlichen lässt:
Abb. 6: Vegane Schaschlik-Spieße von Garden Gourmet,
https://www.instagram.com/p/CR8g4tHqaQu/ (20.03.2022)
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
234
Entscheidend für die narrative Konstruktion veganer Nachhaltigkeit ist im vorliegenden
Post sowohl aus bildlicher als auch aus sprachlicher Perspektive, dass
traditionelle Gewohnheiten (bildlich: Schaschlik-Spieße; sprachlich: „Toast
Hawaii“) aufgegriffen werden und als traditionelle Form der Ernährung in die
vegane Gegenwart überführt werden. Akteur*innen dieser Transformation sind
einerseits Garden Gourmet mit ihrer Idee und dem Angebot veganer Bratwürstchen
und andererseits jede*r Konsument*in, die*der sich auf die vorgeschlagene
Praxis der Herstellung der Schaschlik-Spieße einlässt. Aus zeitlicher Perspektive
wird hiermit zwar einerseits der Aspekt der Kontinuität ‚liebgewonnener‘
Gewohnheiten (Schaschlik-Spieße und/oder Toast Hawaii) in den
Mittelpunkt gestellt, andererseits wird aber auch die Attraktivität der Veränderung
(früher vs. heute) fokussiert, mit der vegane Ernährung sprachlich und
bildlich als für die Gegenwart angemessenes Verhalten konstruiert wird.
Hierauf verweist zusätzlich zur bildlichen Darstellung der Spieße der ebenfalls
bildlich dargestellte Dip in Kombination mit dem sprachlichen Hinweis auf
BBQ-Sauce und Ketchup, die als schon immer vegan begriffen werden sollen.
Der Handlungsaspekt des Posts, der sich aus dem erzählenswerten Neuigkeitswert
der veganen Spieße ergibt, wird hingegen vorrangig sprachlich über die
Zubereitungsanweisung in der Caption und die Verweise auf vegane Ernährung
in den Hashtags unterstrichen: Dabei hebt die Zubereitung der Spieße die
Einfachheit der Überwindung der Oppositionspaare zwischen ‘früher‘ vs. ‘heute‘
und ‘vegan‘ vs. ‘karnivor‘ hervor, während die Hashtags (bspw. #easyvegan,
#veganmealideas) die Konzepte der veganen Zukunft (bei Beibehaltung des
traditionell Vertrauten) unterstreichen.
Als Ort der Umsetzung dieses Narrativs kommt die Praxis des Grillens im
Garten in den Blick. Diese Praxis wird sowohl durch den unbehandelten Holztisch
neben einem Grill vor grünem Hintergrund als auch durch das Kontextwissen
der BBQ-affinen Konsument*innengruppe aufgerufen. Unauffällig aber
strategisch hoch relevant ist zusätzlich die Abbildung von zwei Wassergläsern
im Gegensatz zu den erwartbaren, aber bildlich nicht realisierten Bierflaschen
auf dem unbehandelten Holztisch. Insgesamt greift der Post damit neben dem
Traditions-Narrativ ein weiteres auf, mit dem darauf verwiesen wird, dass
Veganer*innen auf nichts (Traditionelles) verzichten müssen. Bezogen auf
Fragen der Ernte, Herstellung und Verpackung der notwendigen Produkte
metaphorik.de 33/2023
235
wird – wie weiter oben bereits mehrfach thematisiert – auch hier auf Überlegungen
zur Lieferkette von Ananas u. a. verzichtet, während bildlich erneut kontrafaktisch
die Annahme von unverpackter Ernährung erzeugt wird.
Das analysierte Narrativ bestätigt (mit kleinen Abweichungen) auch der
folgende Post in Abbildung 7. Der vegane Thunfischersatz von Veganz in Abbildung
8 setzt traditionelle Kaufgewohnheiten von Thunfisch in der vertrauten
Konservendose für die Zukunft fort. Denn obwohl das Produkt noch nicht bei
allen Anbieter*innen „an Bord gegangen“ ist (s. Caption), ist es über die
Zufriedenheitsbefragung der Nutzer*innen auf Zukunft ausgerichtet und damit
in der Lage, die Differenz zwischen ‘Fisch‘ und ‘veganem Ersatz‘ zu nivellieren.
Abb. 7: Tunfischersatz von Veganz, https://www.instagram.com/p/CTzxbC7jOMd/
(22.03.2022)
Insgesamt beziehen sich damit sowohl der Post 5a als auch Posts 6 und 7 aus
zeitlicher Perspektive auf die Kontinuität zwischen traditioneller (teils) karnivorer
im Gegensatz zu veganer/vegetarischer Ernährung und realisieren über
unterschiedliche Bezüge auf Entwicklungen in der Zeit (=Handlung) ihre metaphorisch
realisierte Synthese einer nachhaltigen Ernährung ohne qualitative
Verluste auf der Ebene des Genusses. Hierbei wird ein weiteres, weiter oben
bereits angesprochenes und für das analysierte Gesamtkorpus relevantes
Narrativ aufgerufen, dem zufolge Vegetarier*innen und Veganer*innen bezogen
auf ihren Genuss auf nichts verzichten müssen.
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
236
Während damit in diesem Abschnitt die Kontinuität von Ernährungsgewohnheiten
hin zu nachhaltigen neuen Praktiken thematisiert wurde,
referiert das im Folgenden betrachtete Narrativ der „Weltrettung durch vegane
Ernährung“ dominant auf den Aspekt der „Einfachheit von Veränderung“.
Narrativ „Einfachheit der (marktwirtschaftlichen) Weltrettung durch vegane
Ernährung“
In den folgenden Posts geht es narrativ vorrangig darum, die Notwendigkeit
nachhaltiger Veränderungen in Form von Brüchen mit traditionellen Verhaltensweisen
zu fokussieren.
Abb. 8: Käseersatz von Veganz, https://www.instagram.com/p/CTudiAJMx4q/
(22.03.2022)
Während das Feedelement des Veganz-Posts in Abbildung 8 die Möglichkeit
einer einfachen (tendenziell mediterranen) Ernährung ergänzt durch eine vermeintliche
Papierverpackung des veganen Käseersatzes Der Genussige Kräuter
darstellt, steht im sprachlichen Text explizit die Handlung der Weltrettung im
Mittelpunkt. Damit wird die Einfachheit der Speise metaphorisch auf die
Einfachheit der Rettung der Welt projiziert. Als Agent*innen dieser Aktivität
kommen hier erneut die werbende Firma (Veganz) und die Konsument*innen
in den Blick. Zusätzlich zu den bisherigen Beobachtungen wird in diesem
Beispiel explizit deutlich, dass Nachhaltigkeit marktwirtschaftlich gedacht wird
metaphorik.de 33/2023
237
als das Ergebnis einer interaktiven Beziehung zwischen unterschiedlichen
Firmen und den Verbraucher*innen, die die Welt durch ihr Konsumverhalten
‘weltrettend‘ verändern können.
Relevant für das in Abbildung 8 dominante Narrativ der Einfachheit der
(marktwirtschaftlich ermöglichten) Weltrettung ist zum einen die Tatsache,
dass der bildlich avisierte Ort der Handlung zwar potenziell jede (deutsche)
Küche darstellt, gleichzeitig wird das Handeln in diesen Küchen narrativ zum
globalen Handeln: zum einen durch die Zubereitung einer mediterranen Vorspeise,
zum anderen durch die in der Caption sprachlich realisierte semantische
Zuschreibung der globalen Weltrettung durch individuelles und lokales Ernährungsverhalten.
Anders als im vorhergehenden Traditions-Narrativ ist es für
das hier analysierte Narrativ aus temporaler Perspektive entscheidend, dass
implizit ein Bruch mit der Vergangenheit vollzogen wird, da nur die Gegenwart
und Zukunft thematisiert werden, um die Radikalität der notwendigen Veränderungen
zu betonen. In diesem Zusammenhang stellt der sprachliche Text
bezogen auf die Handlungsentwicklung heraus, dass durch den Kauf eines
veganen Produkts ab jetzt und für die (nahe) Zukunft die Welt zu einem
schöneren und sichereren Ort wird, da der vegane Käse Der Genussige Kräuter
die Tierwelt und den Regenwald durch Verzicht auf Soja und Palmöl schützt.
Mit dieser narrativen Inszenierung wird vor allem die Opposition zwischen
lokalem Handeln und globaler Wirkung aufgelöst, wobei auch der individuelle
Mehrwert des Genusses (trotz veganer Ernährung) hierbei potenziell verkaufsrelevant
ist.13
Das hier analysierte Narrativ der Weltrettung durch vegane Ernährung wird im
Gesamtkorpus unter Nutzung unterschiedlicher Strategien aufgegriffen. Während
im vorhergehenden Post die Relevanz individuellen Handelns dominant
13 Zum Mehrwert der Wortbildungen Genussiger Kräuter siehe auch die normabweichenden
Wortbildungsprozesse sowohl von genussig als auch von Kräuter. Im Fall des Adjektivs
genussig handelt es sich um eine (mehrfach erklärbare, aber in jedem Fall) regelwidrige
Wortbildung: entweder um die Kombination von nussig (Adj.) mit dem Verbalpräfix ge- oder
um die Kombination des Nomens Genuss mit der Adjektivsuffix -ig. Beide Varianten machen
semantisch und pragmatisch auf unterschiedliche Art und Weise Sinn, sind jedoch jede für
sich ungrammatisch. Im Fall von Kräuter handelt es sich um den Wegfall des Bestimmungswortes
-käse (von Kräuterkäse). Auch hier liegt eine semantisch und pragmatisch sinnvolle
Wortform vor, da das Produkt ja gerade kein (karnivorer) Käse ist, aber auch diese Eliminierung
des Bestimmungsworts ist ungrammatisch (vgl. Boettcher 2009: 189).
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
238
gesetzt wurde, setzt der folgende Post vor allem auf Information über ökologische
Probleme der Gegenwart, ohne dass auf den ersten Blick überhaupt geworben
wird (s. dazu auch Abbildung 2).
Abb. 9: Gefährdete Biotope, https://www.instagram.com/p/CUxS2Skq35L/ (22.03.2022)
Auch wenn in diesem Post sowohl bildlich (Darstellung eines idyllischen Biotops)
14 als auch sprachlich (Hinweis auf den Verlust der Artenvielfalt und die
Gefährdung von Gewässern und Feuchtbiotopen) vor allem Informationen
angekündigt werden, so ist der werbende Charakter des Posts sowohl aufgrund
seiner Platzierung auf dem Instagram Account von Denns Biomarkt als auch
durch die appellative Funktion, sich in der Werbezeitschrift Kreo weiter zu
informieren, unstrittig. So handelt es sich bei der von Denns Biomarkt herausgegebenen
kostenlos ausliegenden Werbezeitschrift Kreo wie bei Werbezeitschriften
anderer Verkaufsketten auch um ein spezifisches Zusammenspiel
zwischen (unterhaltenden) Informationen, die über grundlegende (hier: ökologische)
Themen informieren und gleichzeitig für Produkte der eigenen Kette
werben.
Im Mittelpunkt der Caption steht eine angekündigte Information über ökologische
Gefahren, wobei der argumentative Rückschluss, dass die Rettung von
Gewässern und Biotopen durch den Einkauf in einem Denns Biomarkt erfolgen
14 Zum Aspekt der Relevanz von Idyllen und der Gefahr deren Verlusts vgl. Susteck i.d.H.
metaphorik.de 33/2023
239
kann und soll, sowohl pragmatisch („Nehmt euch eure Ausgabe kostenlos in
eurem Biomarkt mit“) als auch logisch zwingend ist, zumal, wenn man ohnehin
schon im Biomarkt ist. Auch wenn hierbei das Narrativ der Weltrettung nicht
explizit angesprochen wird, so ist ein entsprechendes, weltrettendes Handeln
durch den Kauf von Bioprodukten dennoch zwingend angelegt. Damit ist der
Zusammenhang zwischen Information und Werbung narrativ konstitutiv.
Diese Art der werbenden Konstruktion der individuellen Möglichkeit der Weltrettung
durch ein spezifisches Ernährungsverhalten findet sich aber auch in
einer Vielzahl weiterer Posts, die das Narrativ der Weltrettung mit anderen
(teils bereits erwähnten) Narrativen verknüpft. So wird im folgenden Post, der
ebenfalls auf die Werbezeitschrift Kreo Bezug nimmt, eine Kombination aus
dem Narrativ der Weltrettung, dem Narrativ des Traditionellen und dem
analysierten metonymischen Komplex SELBST MACHEN IST NACHHALTIGKEIT
vorgenommen, die hier zu einem Narrativ ausgebaut wird.
Abb. 10: Gutes von gestern, https://www.instagram.com/p/CVXmG_nqhEt/ (22.02.2022)
Während die Perspektive der Weltrettung durch eine Veränderung unseres
Ernährungsverhaltens auch hier nur indirekt angesprochen wird, so wird sie
doch durch die Aktualisierung der Oppositionspaare früher vs. heute, Lebensmittelüberfluss
(Zero Waste statt Wegwerfgesellschaft) vs. Lebensmittelknappheit
auch aus semantischer Sicht zwingend präsupponiert. Die angebotene (metaphorische)
Lösung für die Wertschätzung von Lebensmitteln liegt in der
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
240
Orientierung an Traditionellem („GUTES VON GESTERN“) in Form von
„Omas Rezepten“, die sich erneut in der Kreo finden. Was somit jenseits der
genutzten Narrative auf eine für das untersuchte Korpus charakteristische
Weise in den Blick kommt, ist die kontinuierliche Kopplung von konkreten
Informationen an andere mediale Orte, hier eines Instagramposts an eine Zeitschrift
bzw. eines Instagramposts an ein Rezept. Durch diese Art der Verknüpfung
entsteht der Eindruck eines durchorganisiert nachhaltigen Universums,
ohne dass für Rezipient*innen noch unmittelbar wahrnehmbar ist, bei welchen
Elementen dieses Universums es sich eigentlich um Werbung handelt (Meer
2021, 2022).
Allerdings steht keineswegs bei allen Narrativen die Weltrettung im Mittelpunkt
der werbenden Aufmerksamkeit. Vielmehr reagiert auch eine Vielzahl
von beobachtbaren Narrativen auf Vorwürfe bzw. Vorurteile, die genuiner Teil
des Nachhaltigkeitsdiskurses sind. Aus dieser Perspektive sollen nun abschließend
das Narrativ des „Genusses ohne schlechtes Gewissen“ und das
Narrativ der „Leistungsfähigkeit trotz veganer Ernährung“ aufgegriffen
werden.
Narrativ des „Genusses ohne schlechtes Gewissen“
Der Aspekt des ‚Genusses‘ ist weiter oben bereits im Zusammenhang mit der
Produktbezeichnung für den veganen Käseersatz „Der Genussige Kräuter“
angesprochen worden. Aber auch über diese Produktbenennung hinaus kommt
ihm im Rahmen des analysierten Korpus aus der Perspektive des „Genusses
ohne schlechtes Gewissen“ eine hohe Bedeutung zu, wie der folgende Post
exemplarisch verdeutlicht:
metaphorik.de 33/2023
241
Abb. 11: Wasserverbrauch und die Herstellung von Fleischprodukten,
https://www.instagram.com/p/CUU3P8FKs90/ (01.04.2022)
Der in Abbildung 11 zu sehende Post stellt zunächst einmal optisch durch den
sprachlichen Text unterstrichen erneut die Seite der Information (hier zu Fragen
der nachhaltigen Ernährung) in den Mittelpunkt. Im Gegensatz zum vorhergehenden
Post wird die Information (hier zum Wasserverbrauch bei der Herstellung
von Fleischpattys) genutzt, um argumentativ hieraus in der Caption
abzuleiten, dass es fleischlose Ernährung ermöglicht, „[m]it gutem Gewissen
[zu] genießen“. Wie weiter oben bereits aus temporaler Perspektive gezeigt,
wird hier als weiterer Grund für fleischlose Ernährung deren Relevanz für die
Zukunft betont. Damit referiert das vorliegende Narrativ auf den Vorwurf der
Genussfeindlichkeit nachhaltiger Konzepte und entkräftigt die häufig unterstellten
negativen Auswirkungen von Nachhaltigkeit für die Zukunft (s. dazu
Schonert 2021: 39-43). Anders als von Vertreter*innen der Nachhaltigkeitsbewegung
perspektiviert, ist die von den untersuchten Firmen versprochene Zukunft
dabei allerdings durchgängig käuflich zu erwerben.
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
242
Narrativ der „Körperlichen Leistungsfähigkeit trotz veganer Ernährung“
Auf eine ähnliche Mischung aus informativen und argumentativen Aspekten
setzt auch das Narrativ der „körperlichen Leistungsfähigkeit trotz veganer
Ernährung“, das der folgende Post nutzt:
Abb. 12: Vegane Ernährung und Profisport, https://www.instagram.com/p/CRysjTBqq-E/
(31.10.2021; nicht mehr online)
Auch hier tritt Garden Gourmet als Akteur*in mit Expertise auf und reagiert auf
die Einschätzung, dass körperliche Höchstleistungen bei veganer Ernährung
nicht möglich sei, indem Spitzensportler*innen wie Djokovic, Williams und
Tyson als Gegenbeleg angeführt werden.
Auch wenn mit den bisherigen Ausführungen nur einige wenige Narrative
herausgestellt werden konnten, so ist doch deutlich geworden, dass im Rahmen
der hier avisierten ‘nachhaltigen Werbewelt‘ sowohl Narrative als aber auch
denen inhärente metaphorische bzw. metonymische Prozesse wiederkehrend
genutzt werden, um die Vorstellung einer durch Ernährung käuflich zu erwerbenden
nachhaltigen Welt zu evozieren. Vor dem Hintergrund dieser Befunde
soll es nun im letzten Kapitel darum gehen, einige sich aus den dargestellten
theoretischen und empirischen Ergebnissen ergebende didaktische Anschlussüberlegungen
zu skizzieren.
metaphorik.de 33/2023
243
5. Didaktische Anschlussüberlegungen zu Fragen der
Nachhaltigkeit am Beispiel von Lebensmittelwerbung
Bisher sollte anhand der dargestellten empirischen Befunde deutlich werden,
dass auf der Grundlage von rekurrent genutzten Narrativen und Metaphern
das Bild einer tendenziell kohärenten Werbewelt entsteht, das es Konsument*
innen in Aussicht stellt, durch den Kauf von Produkten nachhaltig handelnd
aktiv zu werden. Mit Blick auf die Anforderung des schulischen Sprachund
Deutschunterrichts geht es nun darum, Schüler*innen darin zu unterstützen,
analytische Kompetenzen ergänzt durch eigene Konzepte der Entwicklung
von kritisch-reflexiven Anschlusshandlungen im Bereich nachhaltiger
Ernährung zu entwickeln. Da sich die Bezugnahme auf Metaphern/Metonymien
und Narrative im Rahmen der empirischen Analyse als sinnvoll erwiesen
hat, sollen diese Kategorien auch im Weiteren für den Deutschunterricht
genutzt werden.
Schüler*innen könnten beispielsweise im Rahmen einer Unterrichtsreihe zum
Thema Werbung in der 9. Klasse folgende Teilaspekte erarbeiten:
- Sie könnten ausgehend von einer Analyse typischer Metaphern/Metonymien
in Instagramposts aus dem Lebensmittelbereich im Anschluss an
Lakoff und Johnsons Konzepte des highlightings und des hidings herausarbeiten,
welche Aspekte von Nachhaltigkeit in den Posts fokussiert werden
und welche in den Hintergrund treten. Hieran anschließend kann die Frage
diskutiert werden, in welcher Relation ihre Beobachtungen zu Fragen der
Glaubwürdigkeit von nachhaltigen Botschaften stehen.
- Hierbei könnte ihnen deutlich werden, dass der Aspekt der Verpackung der
beworbenen Produkte nahezu nie in den Mittelpunkt der (metaphorischen)
Aufmerksamkeit tritt, ihnen aber dennoch der Eindruck vermittelt wird,
sich nachhaltig und gesund zu ernähren.
- Weiter könnte ihnen auffallen, dass im Rahmen der analysierten Werbeposts
der Eindruck vermittelt wird, dass durch den Kauf von Produkten
eine nachhaltigere Welt entsteht. Ein solches Gebrauchswertversprechen
könnte im Gespräch anschließend diskutiert werden.
- Anhand der referierten Idee von Narrativen könnten Schüler*innen zusätzlich
darüber nachdenken, welche Verbindungen es zwischen den analysierten
Werbetexten und anderen Textsorten wie Songs, Gedichten oder Romanen
gibt.
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
244
- Über diese erwähnten Aspekte hinaus können im Unterrichtsgespräch
weitere werbetypische Aspekte, die in der hier skizzierten Studie nicht
fokussiert wurden, deutlich werden. Zu nennen sind hier z. B. der Einsatz
der Farben ‘grün‘ und ‘braun‘ und spezifische Zusammenspiel zwischen
sprachlichen und bildlichen Elementen. Hier wäre im Einzelfall zu klären,
ob es einen Zusammenhang zwischen diesen Beobachtungen und dem
Versuch gibt, ein Produkt als ‘nachhaltig‘ zu vermarkten.
Insgesamt geht es im Rahmen des Sprach- bzw. Deutschunterrichts aus den zu
Beginn dieses Beitrags diskutierten Gründen somit durchgängig nicht darum,
den Schüler*innen Bekenntnisse hinsichtlich ihres Willens zu Besserung zu
entlocken, sondern vielmehr darum, sie zur Reflexion ihres Umfelds und ihres
eigenen Umgangs mit Fragen der Nachhaltigkeit anzuregen.
Die damit verbundene notwendige Zurückhaltung von Lehrenden gilt ebenso
für den Bereich des Handelns. So sollte die avisierte Handlungsebene unbedingt
fachspezifisch und schulaffin sein (vgl. dazu Bartosch i.d.H.) und es sollte
auf der Ebene der Wertung den Schüler*innen überlassen bleiben, welche Rückschlüsse
sie aus ihren Beobachtungen ziehen. In diesem Zusammenhang könnten
sich folgende unterrichtsbezogenen Handlungsangebote über die bisher
diskutierten analytischen und erkennenden Handlungen hinaus konkret
anbieten:
- Schüler*innen könnten die Lebensmittelläden ihres Alltags auf die Frage hin
betrachten, wie sie vegane, vegetarische und biologisch vollwertige Produkte
in Ladenflächen im Unterschied zu anderen Produkten erkennen. Dabei
wird der Aspekt der farblichen Gestaltung ‚nachhaltiger‘ Produkte zwangsläufig
thematisiert. Aber auch andere (werbende) Aspekte der Sehflächen
auf den Verpackungen können thematisiert werden (vgl. dazu Schmitz
2011; Meer/Pick 2019: 51-78).
- Schüler*innen können im Anschluss an die Analyse von Posts eigene Posts
für fiktive Produkte auf ihren Instagramm Accounts in Gruppenarbeit
erstellen und in der Klasse präsentieren. Hierbei die Nutzung von bildlichen
und/oder sprachlichen Metaphern/Metonymien aus einer produktiven
bzw. kreativen Perspektive in den Blick nehmen zu können, hilft vor allem
auch den Schüler*innen, die sich mit einem rein analytischen Zugang
deshalb schwertun, weil sie den Sinn solcher theoretischen Überlegungen
alleine nicht schätzen.
metaphorik.de 33/2023
245
- Dabei kann Schüler*innen freigestellt werden, ob sie ihre Posts in affirmativ
oder genau umgekehrt ironisch verfremdet inszenieren wollen. Wichtig ist
nur, dass die Produkte (Posts) der Schüler*innen anschließend im Plenum
mit den vorher eingeführten Kategorien analysiert werden. Der Begriff des
Narrativs kann im Zusammenhang mit eigenen Werbeposts vergleichsweise
einfach anhand eines kommentierten Satzes der jeweiligen Gruppen
thematisiert werden, indem jede Gruppe in einem Satz zusammenfassen
muss, was sie anhand ihres Posts zeigen wollten. Im Anschluss daran müsste
im Gespräch überlegt werden, welche Gegensatzpaare hierbei thematisiert
wurden und anhand welcher Metaphern/Metonymien diese aufgelöst
wurden.
- Eine weitere produktive Möglichkeit der hier angedachten Unterrichtsreihe
besteht darin, Rollenspiele durchzuführen, in denen unterschiedliche
Positionen von den Schüler*innen zu Fragen des Umgangs mit Lebensmitteln
besetzt werden müssen. Diese Rollen könnten aus dem Bereich der
Unternehmensleitung, eines Werbeteams oder einer Aktionsgruppe gewählt
werden. Diese Form des handlungsorientierten Unterrichts würde
das vorliegende Thema zusätzlich argumentationstheoretisch perspektivieren
und hierbei verdeutlichen, dass mit Narrativen und Metaphern
argumentiert werden kann.
Mit diesen konkreten Vorschlägen ging es abschließend nicht nur darum,
unterschiedliche Möglichkeiten zu skizzieren, unterrichtsimmanent handelnd
produktiv zu werden, sondern es sollte darüber hinaus zusätzlich verdeutlicht
werden, dass das Thema „Nachhaltigkeit“ in sehr unterschiedliche, curricular
bereits verankerte Teilbereiche des Deutschunterrichts integriert werden kann:
Neben dem Aspekt der Werbung hat das Thema unstrittig ein Potenzial für den
Bereich der Internetrecherche, des Sachtextes, des mündlichen und schriftlichen
Argumentierens, aber auch für den Bereich ästhetisch verfremdeter Formen der
Konstruktion bzw. Dekonstruktion von Nachhaltigkeit, sei es in Werbetexten,
in Songtexten oder im Rahmen literarischer Textsorten.
6. Literatur
6.1 Korpus
Instagrampost von Denns Biomarkt vom 04.10.2021,
https://www.instagram.com/p/CUm_nBDKHdf/ (20.03.2022).
Meer: Metaphern und Narrative von Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwerbung
246
Instagrampost von Denns Biomarkt vom 8.10.2021,
https://www.instagram.com/p/CUxS2Skq35L/ (22.03.2022).
Instagrampost von Denns Biomarkt vom 23.10.2021,
https://www.instagram.com/p/CVXmG_nqhEt/ (22.02.2022).
Instagrampost von Garden Gourmet vom 23.06.2021,
https://www.instagram.com/p/CQcmLS8KqZ3/ (13.02.2022).
Instagrampost von Garden Gourmet vom 26. 07.2021,
https://www.instagram.com/p/CRysjTBqq-E/ (31.10.2021; nicht mehr
online).
Instagrampost von Garden Gourmet vom 30.07.2021,
https://www.instagram.com/p/CR8g4tHqaQu/ (20.03.2022).
Instagrampost von Rügenwalder Mühle, 13.092021,
https://www.instagram.com/p/CTxFvsUovLp/ (26.03.2022).
Instagrampost von Rügenwalder Mühle vom 10.08.2021, Vegane Bratwurst,
https://www.instagram.com/p/CSZktO4qYAF/ (20.03.2022).
Instagrampost von Veganz vom 13.09.2021,
https://www.instagram.com/p/CTudiAJMx4q/; (22.03.2022).
Instagrampost von Veganz vom 14.09.2921,
https://www.instagram.com/p/CTzxbC7jOMd/ (22.03.2022).
Instagrampost von Veganz vom 15.09.2021,
https://www.instagram.com/p/CT2ciGnM5S9/ (20.03.2022).
6.2 Fachliteratur
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Theorie und Praxis, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag.
BMU (ed.) (o.J.): Umwelt im Unterricht. Materialien zu aktuellen Themen.
https://www.umwelt-im-unterricht.de/; (31.03.2022).
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de/wochenthemen/lebensmittel-ist-das-bio/ (23.03.2022).
BMU (ed.) (2018): Weihnachten und der Konsum: Was feiern wir eigentlich?,
https://www.umwelt-imunterricht.
de/suche/?L=0&id=114&tx_solr%5Bq%5D=weihnachten
(23.03.2022).
metaphorik.de 33/2023
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BMU (ed.) (2019): Fleisch frisst Ressourcen, https://www.umwelt-imunterricht.
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https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen
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in Nordrhein-Westfalen. Deutsch, https://www.schulentwicklung.nrw.de/
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42.
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Kommunikation in öffentlichen Diskursen, https://diskursmonitor.de/
glossar/topos (06.12.2022).

patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté? – Konkurrierende Narrative und Konzeptualisierungen in der französischen Debatte um die Stopfleberproduktion

Dietmar Osthus

Universität Duisburg-Essen (dietmar.osthus@uni-due.de)


Abstract

Kaum ein Symbol der französischen Gastronomie ist einerseits so stark im kulinarischen Brauchtum verankert und ruft andererseits so starke öffentliche Kontroversen hervor wie der foie gras: Für die einen bleibt er die ultimative Weihnachtsdelikatesse, für die anderen ist der
gavage das prototypische Beispiel für quälerische, per se unethische Ausbeutung von Tieren.
Im Beitrag werden zwei Teilkorpora aus dem französischen Sprachraum analysiert, zum einen Schlüsseldokumente der Stopfleberproduzenten, die nicht nur die kulinarischen Qualitäten ihres Produkts loben, sondern dessen Herstellung als naturnahen Prozess konzeptualisieren, zum anderen die strategische Kommunikation der Gegner, die mit dem Argument des Tierschutzes im Besonderen die Stopfleberproduktion, vielfach auch jede Form des Fleischkonsums oder tierischer Produkte insgesamt ablehnen. Das Augenmerk wird auf den unterschiedlichen Konzeptualisierungen sowie den jeweiligen Argumentationsstrategien liegen. Dabei wird auch zu untersuchen sein, inwiefern Hochwertbegriffe des ‚Natürlichen‘ unterschiedlichen Schlagwortprogrammen und kognitiven Rahmungen unterliegen.

Hardly any symbol of French gastronomy is on the one hand so strongly anchored in culinary customs and on the other hand evokes such strong public controversy as foie gras: for some it remains the ultimate Christmas delicacy, for others the gavage is the prototypical example of cruel, per se unethical exploitation of animals. The article analyses two sub-corpora from the French-speaking world, on the one hand key documents of foie gras producers, who not only praise the culinary qualities of their product, but also conceptualise its production as a process close to nature, and on the other hand the strategic communication of opponents, who use the argument of animal welfare in particular to reject foie gras production, in many cases also any form of meat consumption or animal products in general. The focus will be on the different metaphorical conceptualisations as well as the respective argumentation strategies. In this context, we will also examine the extent to which high-value concepts of the ‘natural’ are subject to different catchphrase programmes and cognitive framings.

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Seite 251

251
patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté? –
Konkurrierende Narrative und Konzeptualisierungen in der
französischen Debatte um die Stopfleberproduktion
Dietmar Osthus, Universität Duisburg-Essen (dietmar.osthus@uni-due.de)
Abstract
Kaum ein Symbol der französischen Gastronomie ist einerseits so stark im kulinarischen
Brauchtum verankert und ruft andererseits so starke öffentliche Kontroversen hervor wie der
foie gras: Für die einen bleibt er die ultimative Weihnachtsdelikatesse, für die anderen ist der
gavage das prototypische Beispiel für quälerische, per se unethische Ausbeutung von Tieren.
Im Beitrag werden zwei Teilkorpora aus dem französischen Sprachraum analysiert, zum einen
Schlüsseldokumente der Stopfleberproduzenten, die nicht nur die kulinarischen Qualitäten
ihres Produkts loben, sondern dessen Herstellung als naturnahen Prozess konzeptualisieren,
zum anderen die strategische Kommunikation der Gegner, die mit dem Argument des
Tierschutzes im Besonderen die Stopfleberproduktion, vielfach auch jede Form des
Fleischkonsums oder tierischer Produkte insgesamt ablehnen. Das Augenmerk wird auf den
unterschiedlichen Konzeptualisierungen sowie den jeweiligen Argumentationsstrategien
liegen. Dabei wird auch zu untersuchen sein, inwiefern Hochwertbegriffe des ‚Natürlichen‘
unterschiedlichen Schlagwortprogrammen und kognitiven Rahmungen unterliegen.
Hardly any symbol of French gastronomy is on the one hand so strongly anchored in culinary
customs and on the other hand evokes such strong public controversy as foie gras: for some it
remains the ultimate Christmas delicacy, for others the gavage is the prototypical example of
cruel, per se unethical exploitation of animals. The article analyses two sub-corpora from the
French-speaking world, on the one hand key documents of foie gras producers, who not only
praise the culinary qualities of their product, but also conceptualise its production as a process
close to nature, and on the other hand the strategic communication of opponents, who use the
argument of animal welfare in particular to reject foie gras production, in many cases also any
form of meat consumption or animal products in general. The focus will be on the different
metaphorical conceptualisations as well as the respective argumentation strategies. In this
context, we will also examine the extent to which high-value concepts of the ‘natural’ are
subject to different catchphrase programmes and cognitive framings.
1. Vorbemerkungen
Der im Jahr 2021 abgeschlossene Bundestagswahlkampf hat eines deutlich gezeigt:
Die Frage der Nachhaltigkeit wird in die Programmatik inhaltlich z.T.
sehr unterschiedlicher politischer Parteien integriert. Niemand – abgesehen
vielleicht von unseriösen Gruppierungen – würde es heute auslassen zu betonen,
dass die eigene Politik dem Ziel des Klimaschutzes dient. Damit erhält
die Bewahrung der natürlichen Lebensbedingungen in den politischen
Debatten einen ähnlichen Status wie andere hohe soziale Werte wie etwa
Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit. Diese Hochwertwörter wiederum
Osthus: patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
252
gerinnen zu Schlagwörtern, deren wichtige Eigenschaft gerade die semantische
Unbestimmtheit ist. Mit Niehr (2017: 676) erlaubt die Verwendung von
Schlagwörtern in der öffentlichen Rede, „den Rezipienten auf besonders
ökonomische Weise den Standpunkt des Sprechers zu verdeutlichen, ohne dass
dieser eine ausführliche Argumentation entfalten muss“.
Während allerdings ein Ziel, wie das des Klimaschutzes, als konsensuell gelten
kann – ähnlich wie eben jede und jeder grundsätzlich für Recht und Freiheit
eintritt –, gibt es in den konkreten Auseinandersetzungen um politische
Praktiken und zu treffende Maßnahmen erhebliche Unterschiede zwischen
verschiedenen Positionen. Es besteht also in unseren Gesellschaften trotz
gemeinsamer Bekenntnisse zu Zielen der Nachhaltigkeit oder des Umwelt- und
Naturschutzes ein Streit um die Bewertung konkreter Praktiken und Formen
der Umsetzung.
In diesem Beitrag soll ein Bereich im Zentrum stehen, der neben dem Umweltund
Naturschutz auch eine unmittelbar ethische Komponente beinhaltet.
Konkret geht es um die Erzeugung einer kulinarischen Spezialität, der
Stopfleber/foie gras, die international zum einen als besonderes Aushängeschild
v.a. der französischen Gastronomie wahrgenommen wird, zum anderen aber
emblematisch die ethischen Probleme der Tierhaltung verdeutlicht. Während
der Fleischkonsum insgesamt aus tierethischen und ökologischen Gründen
bereits zunehmend umstritten ist – verwiesen sei hier auf die öffentlichen Auseinandersetzungen
etwa rund um Jonathan Safran Foers Tiere essen (2013) oder
die zunehmende Zahl sich vegetarisch oder vegan ernährender Menschen –,
wird die Stopflebererzeugung in ganz besonderem Maße kontrovers debattiert.
Der gavage – die in den letzten Wochen vor der Schlachtung erfolgte
Zwangsernährung – ist umstritten und wird von Tierschutzverbänden als tierquälerisch
verurteilt. Der Import und Verkauf von Stopfleber wurde auf
entsprechenden Druck etwa in Teilen Nordamerikas, so in Kalifornien,
zumindest zeitweise verboten (Cazenave 2020) und ist dort weitgehend aus
dem gastronomischen Angebot verbannt worden. Innerhalb der EU gestatten
neben Frankreich Länder wie Belgien, Bulgarien und Rumänien die
Stopfleberproduktion, wobei das Europäische Parlament in einer (rechtlich die
Kommission nicht bindenden) Resolution zuletzt im Juni 2021 das Verbot des
gavage und der Käfighaltung bis 2027 forderte. Zugleich ist der foie gras
allerdings wie kaum ein anderes Produkt im kulturellen und zivilisatorischen
metaphorik.de 33/2023
253
Bewusstsein verankert, zumal es in Frankreich der mets emblématique, die
emblematische Speise des Silvesterabends ist. DeSoucey (2016: 28) zitiert in
diesem Zusammenhang den Vorsitzenden des CIFOG – des Industrieverbandes
der Stopfleberproduzenten – folgendermaßen:
I cannot imagine that foie gras could be banned in France because it’s
a very traditional product, consumed in this country for a long time.
Our country and our law say that it has to be protected in our country.
Consumers buy it because it’s a ritual. You have to. It’s exactly the
same as in your country. At Thanksgiving, you have to have your
turkey. There is no Thanksgiving without turkey. And we have no
Christmas without foie gras.
Es handelt sich bei den Kontroversen um die Stopfleberproduktion also einerseits
um eine hochgradig politische Auseinandersetzung mit dem Verbot bzw.
der weiteren Förderung dieses Wirtschaftszweiges. Andererseits dreht es sich
beim Streit zwischen Stopfleberindustrie und Tierschützern auch um den
Kampf um die Gunst der Verbraucherinnen und Verbraucher. Insbesondere im
Umfeld der Weihnachts- und Neujahrsfeiern verdichten sich Werbung und
Anti-Werbung (TF1 2018). Boykottaufrufe wechseln sich mit (positiven) Imagekampagnen
ab. Adressaten der analysierten Texte sind daher sowohl die
politisch als auch die kulinarisch interessierte Öffentlichkeit. Darüber hinaus
bestehen rechtlich anhängige Verfahren, so die Klage der Vereinigung L214 –
benannt nach dem Artikel 214 des code rural, der Bedingungen des Tierschutzes
formuliert – gegen die französische Regierung.1 Bei den Auseinandersetzungen
um die Stopfleberproduktion handelt es sich also um eine höchst kontroverse
Debatte, bei der miteinander unversöhnliche Positionen aufeinander prallen.
2. Textkorpus und Methode
Analysiert wurde ein Korpus aus insgesamt vierzehn Texten bzw. Textausschnitten.
Darunter können sechs als Werbetexte bzw. neutral bis positiv
darstellende Texte begriffen werden. Diese gehen zu einem Großteil auf
Produzenten und Fachverbände der Stopfleberproduktion zurück, hier etwa
der CIFOG (Comité Interprofessionnel des Palmipèdes à Foie Gras), der internationale
Verband Euro Foie Gras, la Fédération européenne du foie gras, einzelne
1 „Tout animal étant un être sensible doit être placé par son propriétaire dans des conditions
compatibles avec les impératifs biologiques de son espèce“ (Code rural (nouveau) 2008).
Osthus: patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
254
Produzenten wie SAS Ernest SOULARD oder auch das französische Landwirtschaftsministerium
(ministère de l‘agriculture), während acht Texte eine klar
ablehnende Haltung vertreten. Diese werden vor allem durch NGOs wie PETA
France, Wellfarm, die Association L214 (s.o) oder die Fondation Brigitte Bardot
verantwortet.
Allgemeiner betrachtet ist die ethische Debatte über die Stopfleberproduktion
das Ergebnis der verstärkten tierrechtlichen bzw. Tierschutzaktivitäten seit den
1970er Jahren. Es handelt sich auch hier um eine international zu beobachtende
Tendenz, die sich aufgrund der starken regionalen Verankerung der Produktion
in besonderem Maße in den französischen Diskussionen spiegelt. Die
legitimatorischen Texte sind als Reaktion auf Vorwürfe und Skandalisierungen
aus dem Bereich des Tierschutzes zu verstehen. Daher bietet es sich an, die
Topoi, d.h. vorhandene Gemeinplätze und Vorannahmen, wie die Narrative der
Stopflebergegner zu betrachten, um diese anschließend mit solchen der Befürworter
bzw. Verteidiger zu vergleichen. Unter einem Narrativ wird hier eine
sinnstiftende Erzählung verstanden, die einer Position Legitimität verleiht.
Dabei lassen sich Abstufungen zwischen den so genannten ‚großen Erzählungen‘
wie z.B. den allgemeinen Fortschrittsdiskurs und kleineren
narrativen Elementen machen, vom Einflechten anekdotischer Erzählelemente
in eine Argumentation bis zur fiktionalen Ausschmückung eines Arguments.
Der Begriff des Narrativs ist in den letzten Jahren sehr stark auch in populärwissenschaftliche
Betrachtungen eingegangen, greift letztlich aber die meist
durch textuelle Isotopien (Greimas 1966) sowie durch metaphorische Konzepte
und Frames (Lakoff 1987) erzeugten erzählerischen Stränge auf, die argumentativ
wirksam werden können. In Frankreich haben vor allem die Studien von
Christian Salmon (²2008) das Bewusstsein für die Macht der Narrative in der
breiteren Öffentlichkeit geschärft, während im deutschsprachigen Raum vor
allem Elisabeth Wehling (2017) das politische Framing zu einem Gegenstand
der öffentlichen Auseinandersetzung machte.
Methodisch ist die Studie angelehnt an Ansätze der Diskursanalyse wie an
diskursiv gestützten Forschungsmethoden der kognitiven Metaphorik. Die
Ausgangshypothese besteht darin, dass Gegner wie Befürworter der Stopfleberproduktion
unterschiedliche Narrative und z.T. metaphorisch gestützte
Konzepte aktivieren. Die kognitive Metapherntheorie geht im Anschluss u.a. an
Lakoff/Johnson (1980) davon aus, dass sich hinter sprachlichen Bildern in
metaphorik.de 33/2023
255
vielen Fällen Denkmodelle verbergen. Ein metaphorischer Ausdruck ist in
diesem Sinne nicht nur ein rhetorisches Mittel zur Darstellung eines Gedankens,
sondern direkter Ausdruck unseres Denkens. Die interessengeleitete Verwendung
von Metaphorik und narrativen Rahmungen ist wiederum in den
letzten Jahrzehnten in umfangreichen Studien auf eine empirisch klare Basis
gestellt worden. Innerhalb von metaphorik.de sind hier im Zusammenhang mit
Fragen von Systematisierung von Wissensbeständen, Nachhaltigkeit und
ökologischer Ethik unter vielen anderen etwa die Beiträge von Bonnefille (2008),
Döring/Kollek (2016) oder Döring (2018) zu nennen. Die Analyse von
Narrativen und Konzeptualisierungen verspricht, in Texten vorliegende Vorannahmen
zu verdeutlichen und – im Fall von kontroversen Positionen – deren
Unvereinbarkeiten systematisch zu beschreiben.
2.1 Kontroverse um Nutztierhaltung allgemein
Die zentrale Strategie der Anti-foie-gras-Texte ist die empathische Darstellung
des Leidens der betroffenen Gänse und Enten. Diese werden – ähnlich wie dies
auch in ‚allgemeiner‘ vegan-vegetarischer Kritik an der Nutztierhaltung
geschieht - zunächst als Objekte einer nicht artgerechten Haltung dargestellt:
(1) En France, la majorité des canards sont enfermés dans des
cages de batterie collectives, où leur espace est si réduit qu’ils
ne peuvent étendre les ailes sans se gêner les uns les autres. Plus
rarement, les animaux sont enfermés dans des parcs en
bâtiments, en particulier pour les oies.
Les animaux vivent sur des sols durs (grillage, caillebotis en
métal ou en plastique…) qui laissent passer leurs déjections.
Cet environnement les empêche d’exprimer leurs
comportements naturels (les canards sont des oiseaux
aquatiques) et entraîne des blessures. Ils développent
notamment des infections aux pattes appelées dermatites (Stopfoie-
gras.com L.214).
‘In Frankreich werden die meisten Enten in Sammelbatterien
gehalten, wo ihr Platz so begrenzt ist, dass sie ihre Flügel nicht
ausbreiten können, ohne sich gegenseitig zu behindern. Seltener
werden Tiere in Stallungen in Gebäuden gehalten, insbesondere
Gänse.
Osthus: patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
256
Die Tiere leben auf harten Böden (Maschendraht, Metall- oder
Kunststoffroste usw.), durch die ihre Exkremente durchdringen
können.
Diese Umgebung hindert sie daran, ihr natürliches Verhalten
auszuleben (Enten sind Wasservögel) und führt zu Verletzungen.
Vor allem entwickeln sie Beininfektionen, die als
Dermatitis bezeichnet werden.‘
(2) Dans la nature, les canards passent une grande partie de leur vie
sur l’eau. Dans ces élevages, beaucoup sont enfermés dans des
hangars, puis dans des cages où leurs pattes se blessent sur le
sol en grillage. Des cages si petites qu’ils ne peuvent même pas
se retourner, encore moins se mettre debout ou battre des ailes
(Stop-foie-gras.com L.214).
‘In freier Wildbahn verbringen Enten einen Großteil ihres Lebens
auf dem Wasser. In diesen Betrieben sind viele von ihnen in
Ställen und dann in Käfigen eingesperrt, wo sich ihre Füße am
Drahtgitterboden verletzen. Käfige, die so klein sind, dass sie
sich nicht einmal umdrehen, geschweige denn aufstehen oder
mit den Flügeln schlagen können.‘
Hier wird grundsätzlich die Nutztierhaltung als Widerspruch zur artgerechten
natürlichen Freiheit der Tiere – in diesem Fall im Widerspruch zwischen Gefangennahme
im unnatürlichen Käfig und der natürlichen artgerechten Freiheit
auf dem Wasser – angesehen. Die Haltung als Nutztiere wird entsprechend als
naturwidrige Freiheitsberaubung konzeptualisiert.
Die Texte der Stopfleberlobby wiederum gehen mehr oder minder explizit nicht
auf die allgemeinen Lebensbedingungen der Tiere ein. Die Perspektive der
Artangemessenheit zeigt sich allenfalls in Darstellungen, in denen die Vorzüge
der anatomischen Eigenschaften von Gänsen und Enten gepriesen werden:
(3) Les caractéristiques anatomiques de ces animaux - absence de
glotte et oesophage élastique qui peut se distendre facilement
sans aucune souffrance à la manière de celui d’un serpent – leur
permettent d’avaler de grosses proies comme les poissons ou
grenouilles (Euro Foie Gras).
‘Die anatomischen Merkmale dieser Tiere - das Fehlen einer
Stimmritze und eine elastische Speiseröhre, die sich leicht und
völlig schmerzlos ausdehnen kann, vergleichbar mit der einer
Schlange - ermöglichen es ihnen, große Beutetiere wie Fische
oder Frösche zu verschlucken.‘
metaphorik.de 33/2023
257
Die angenommene Perspektive ist hier klar die der Produzenten und nicht die
der betroffenen Tiere. Die anatomischen Eigenschaften werden anhand der
‚Fähigkeit‘ zur Fettakkumulation sowie zur Produktion des konsumierbaren
Lebensmittels gemessen, nicht an den Lebensbedürfnissen der Tiere selbst.
2.2 Die konkrete Darstellung des gavage
Entscheidend sind allerdings solche Darstellungen, in denen das Stopfen, d.h.
die Zwangsernährung der Tiere in ihrer letzten Lebensphase – der gavage – als
unethische Folter und Qual beschrieben wird.
Die Gegenüberstellung von Texten für und wider die Stopfleberproduktion
zeigt bereits signifikante Unterschiede allein in der technischen Beschreibung
des gavage. Seitens der Anti-foie gras-Aktivisten finden sich drastische Darstellungen,
in denen das mit der Zwangsernährung verbundene Leiden konkretisiert
wird:
(4) Le foie gras est l’organe malade d’une oie ou d’un canard, gavé
de force plusieurs fois par jour au moyen d’un tube de métal de
20 à 30 centimètres enfoncé dans la gorge jusqu’au jabot. Pour
contraindre son corps à produire du foie gras, l’oiseau doit
ingérer en quelques secondes une quantité de maïs telle que son
foie finit par atteindre presque dix fois sa taille normale […]. En
se débattant lorsque le tube s’enfonce dans sa gorge, ou par la
simple contraction de son oesophage provoquée par le besoin de
vomir, il risque l’étouffement et des perforations mortelles au
cou. L’enfoncement du tube provoque des lésions du cou où se
développent des inflammations douloureuses et des germes. La
suralimentation forcée et déséquilibrée provoque fréquemment
des maladies du système digestif, potentiellement
mortelles (Stop-foie-gras.com L.214).
‘Bei der Stopfleber handelt es sich um das kranke Organ einer
Gans oder Ente, die mehrmals täglich durch ein 20 bis 30
Zentimeter langes Metallrohr, das durch den Hals in den Kropf
geschoben wird, gefüttert wird. Um seinen Körper zur
Produktion einer Fettleber zu zwingen, muss der Vogel in
wenigen Sekunden so viel Mais zu sich nehmen, dass seine Leber
schließlich auf fast das Zehnfache ihrer normalen Größe
anwächst [...]. Wenn es sich wehrt, während der Schlauch in
seinen Rachen gepresst wird, oder wenn sich seine Speiseröhre
einfach zusammenzieht, weil es sich erbrechen muss, riskiert es,
Osthus: patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
258
zu ersticken und seinen Hals zu perforieren. Das Einführen des
Schlauches verursacht Läsionen im Hals, wo sich schmerzhafte
Entzündungen und Keime entwickeln. Erzwungene und
unausgewogene Überfütterung führt häufig zu lebensbedrohlichen
Erkrankungen des Verdauungssystems.‘
Betont wird hier neben dem grundsätzlichen Zwang der industrielle Charakter
des Stopfens, welcher entsprechend der méthode artisanale – der traditionellen
handwerklichen Methode – gegenübergestellt wird:
(5) Le gavage consiste à enfoncer un tuyau dans la gorge de l’animal
jusqu’à son estomac, et à lui faire ingérer de force des aliments
en grande quantité, très énergétiques et déséquilibrés. Cette
opération prend 45 à 60 secondes avec la méthode artisanale.
Dans l’élevage industriel, largement prédominant, le gavage
est exécuté en 2 à 3 secondes à l’aide d’une pompe hydraulique
(Stop-foie-gras.com L.214).
‘Bei der Zwangsfütterung wird dem Tier ein Schlauch durch die
Kehle in den Magen geschoben und große Mengen energiereicher,
unausgewogener Nahrung ins Maul gepresst. Bei der
herkömmlichen Methode dauert dieser Vorgang 45 bis 60
Sekunden. In der industriellen Landwirtschaft, die weitgehend
vorherrscht, erfolgt die Zwangsfütterung in 2 bis 3 Sekunden mit
einer Hydraulikpumpe.‘
Empathie mit dem Tier wird hier sprachlich durch einen Vergleich mit menschlicher
Ernährung erzeugt, wenn etwa eine Analogie zwischen der täglichen
Futterration und einer immensen Nudelration gezogen wird:
(6) Pour le foie gras, les canards et les oies passent les dernières
semaines de leur vie dans des enclos étroits et mornes au sol
grillagé. Ils sont gavés de force : des employés les maintiennent
par le cou et leur enfoncent un tube au fond de la gorge, par
lequel sont déversées d’immenses quantités de bouillie –
l’équivalent pour un humain de 20 kg de spaghettis par jour
(PETA France).
‘Für die Stopfleberproduktion verbringen Enten und Gänse die
letzten Wochen ihres Lebens in engen, tristen Ställen mit
Drahtgitterböden. Sie werden zwangsgefüttert: Arbeiter halten
sie am Hals fest und schieben ihnen einen Schlauch in die Kehle,
durch den riesige Mengen Brei gegossen werden - bei einem
Menschen würde dies einer Menge von 20 kg Spaghetti pro Tag
entsprechen.‘
metaphorik.de 33/2023
259
Die Texte der Stopfleberlobby wiederum sind deutlich um eine Darstellung des
gavage bemüht, die auf die Traditionen der Erzeugung als Element der Kultur
abhebt. Der metasprachliche Hinweis auf die Etymologie des Verbs gaver dient
in diesem Zusammenhang der Kontextualisierung in die Sprach- und Kulturgeschichte
Frankreichs:
(7) Un foie gras est le foie d’une oie ou d’un canard spécialement
engraissé par gavage.
Gavage : action de gaver, de l’ancien mot picard gave : jabot,
gosier (XIIe s.), issu du préroman gaba, gava : gorge, gosier,
peut-être d’origine gauloise (d’après dict. Littré) (CIFOG).
‘Eine Stopfleber ist die Leber einer Gans oder Ente, die durch
‚Stopfen‘ besonders gemästet wurde.
Gavage: Handlung der Zwangsfütterung, aus dem alten
pikardischen Wort gave: Kropf, Schlund (12. Jahrhundert), aus
dem vorrömischen gaba, gava: Rachen, Schlund, vielleicht
gallischen Ursprungs (nach dem Littré).‘
Die auf vorrömischen, d.h. keltischen Ursprung verweisende Etymologie –
übrigens nicht des gavage, wohl aber des angenommenen Basislexems altpik.
gave – soll hier also v.a. das Narrativ der lang bestehenden Tradition bedienen,
ein entscheidendes, in der Werbung für den foie gras immer wieder genanntes
Merkmal.
Die genauen Verfahren der Zwangsernährung werden in den Texten weitgehend
ausgeblendet. In den wenigen Beschreibungen herrscht wiederum ein
möglichst neutrales Vokabular vor. Während die Gegner den Ernährungszwang
hervorheben, finden sich in den Texten der Verteidiger alternative,
positiv oder neutral konnotierte Begrifflichkeiten:
(8) Au cours de la phase d’alimentation assistée, deux repas par
jour sont distribués pendant une période allant de 10 à 12 jours,
après vérification que le repas précédent ait bien été digéré (Euro
Foie Gras).
‘In der Phase der unterstützten/assistierten Fütterung werden
über einen Zeitraum von 10 bis 12 Tagen zwei Mahlzeiten pro
Tag verabreicht, nachdem überprüft wurde, ob die vorhergehende
Mahlzeit verdaut worden ist.‘
Dem Syntagma alimentation assistée (‘assistierte Fütterung‘) der Stopfleberlobby
stehen hier Begrifflichkeiten wie suralimentation forcée (‘erzwungene
Osthus: patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
260
Überfütterung‘/‘Zwangsernährung‘) gegenüber. Der Fokus wird ansonsten in
den Texten der Stopfleberproduzenten auf die Qualitäten des Endprodukts
gelegt und weniger auf die Lebens- bzw. Sterbebedingungen der Enten und
Gänse.
2.3 Darstellung des Tierleids: semantische Anthropomorphisierung
Das Befinden der zur Stopfleberproduktion genutzten Tiere steht verständlicherweise
vor allem in Texten der Gegner im Mittelpunkt. Der Schrecken des
gavage wird durch das Nomen cruauté (‘Grausamkeit‘) sowie das Adjektiv cruel
(‘grausam‘) unterstrichen:
(9) Le foie gras c’est de l’élevage intensif, une production cruelle qui
fait honte à la France (Fondation Brigitte Bardot).
‘Stopfleber heißt Massentierhaltung, eine grausame Produktion,
die Frankreich beschämt.‘
(10) Son simple boycott de consommation est le premier pas de l’ami
des animaux pour faire cesser ce cruel nourrissage (Société
vaudoise pour la protection des animaux SVPA).
‘Der Boykott des Konsums ist der erste Schritt des Tierfreundes,
um diese grausame Fütterung zu beenden.‘
Weitergehend wird durch den Frame das Tiers als (dem Menschen vergleichbares)
fühlendes Wesen konzeptualisiert. So werden die Tiere als Gewaltopfer
dargestellt:
(11) Les plus faibles d’entre eux sont tout de même moribonds
lorsqu’ils parviennent à la salle d’abattage, et beaucoup ne
résistent pas jusque-là : le taux de mortalité des canards est dix à
vingt fois plus grand pendant la période de gavage. Un
concentré de souffrances Cette violence, inhérente à la
production de foie gras, justifie à elle seule son abolition (stopfoie-
gras.com; L214).
‘Die schwächsten von ihnen sind gleichwohl sterbenskrank,
wenn sie den Schlachtraum erreichen, und viele überleben bis
dahin nicht: die Sterblichkeitsrate von Enten ist während der
Zwangsfütterung zehn- bis zwanzigmal höher. Eine Konzentration
von Leiden Diese Gewalt, die der Stopfleberproduktion
innewohnt, rechtfertigt an sich schon ihre Abschaffung.‘
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Die im französischen Zitat geforderte abolition stellt mindestens eine
Assoziation zu den Abolitionnisten der Sklaverei und der Todesstrafe im 19.
und 20. Jahrhundert zur Abschaffung der Stopfleberproduktion her. Auf diese
Art und Weise wird der Kampf um Tierrechte terminologisch als Fortsetzer des
Kampfs um Menschen- und Freiheitsrechte konzeptualisiert. Zugleich wird –
mindestens angedeutet durch die Wortwahl – die Stopfleberproduktion als
Gewaltverbrechen sozial diskreditiert.
Die Unwertwörter der Versklavung erscheinen nicht zufällig ebenfalls in den
Texten:
(12) Qu’il soit d’une autre espèce que nous justifie-il de rester sourd
à sa souffrance, et muet face à l’immoralité de cet esclavage ?
(Stop-foie-gras.com L.214)
‘Rechtfertigt die Tatsache, dass er einer anderen Spezies
angehört als wir, dass wir gegenüber seinem Leiden taub und
gegenüber der Unmoral dieser Sklaverei stumm bleiben?‘
Die ethisch begründete Ablehnung der Stopfleberproduktion dank einer
Parallelisierung von Menschen- und Tierrechten wird außerdem durch die
mehrfache Charakterisierung der Tierhaltung mit – im Menschenrechtskontext
unbestritten verdammenswerter – Folter untermauert:
(13) Le foie gras est le produit de la torture, et tant que nos lois ne
mettront pas fin à cette filière qui entraîne la souffrance et la
douleur d’innombrables animaux, la Journée mondiale contre le
foie gras continuera de dénoncer cette cruauté (PETA France).
‘Stopfleber ist das Produkt von Folter, und bis unsere Gesetze
dieser Branche, die unzähligen Tieren Leid und Schmerz zufügt,
ein Ende setzen, wird der Welttag gegen den foie gras diese
Grausamkeit weiterhin anprangern.‘
Die betroffenen Tiere seien aufgrund dieser Rahmung als Folteropfer zu
verstehen:
(14) En tant que consommateurs déterminés à mettre de l’éthique
dans notre assiette, et constatant que ces souffrances n’existent
que pour procurer du plaisir à notre palais, nous refusons
d’acheter et de consommer ces foies malades d’animaux torturés
(Stop-foie-gras.com, L214).
‘Als Verbraucher, die entschlossen sind, Ethik auf ihre Teller zu
bringen, und die sehen, dass dieses Leiden nur existiert, um
Osthus: patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
262
unseren Gaumen zu erfreuen, weigern wir uns, die kranken
Lebern von gequälten/gefolterten Tieren zu kaufen und zu
verzehren.‘
Die Skandalisierung der Stopfleberproduktion kulminiert in der zumindest
indirekt religiösen Überhöhung des Tierleids als Martyrium, wenn die
Fondation Brigitte Bardot entsprechend ihren Aufruf unter die Überschrift
(15) FOIE GRAS : LE CALVAIRE DU GAVAGE (Fondation Brigitte
Bardot).
‘Foie gras: das Martyrium des gavage.‘
stellt. Die Wahl des an die Kreuzigung Christi zumindest etymologisch
erinnernden calvaire verleiht der Kritik eine noch weiterreichende moralische
Dimension.
Innerhalb des Frames, nachdem das tierische Leid analog zum menschlichen
Leid gerahmt wird, bekommen zudem weitere Einzelheiten der Stopfleberproduktion
ein veritables moralisches Gewicht, so das ‘Aussortieren‘ weiblicher
Küken mittels Schreddern bzw. Töten durch Gas:
(16) Chez les canards, seuls les mâles sont gavés. En effet, le foie des
femelles, plus petit et innervé, est indésirable dans la production
de foie gras. Les femelles sont donc broyées ou gazées
(L214 éthique & animaux).
‘Bei Enten werden nur die männlichen Tiere zwangsgefüttert.
Die Leber der weiblichen Tiere, die kleiner ist und stärker von
Nerven durchzogen, ist für die Herstellung von Stopfleber
unerwünscht. Die Weibchen werden deshalb zerquetscht oder
vergast.‘
Entsprechend werden hier als moralisch verdammenswerte Handlungen neben
dem – bewusst oder unbewusst an den Genozid der Shoa erinnernden –
Vergasen geschlechtsspezifische Diskriminierungen angesprochen:
(17) L’industrie du foie gras pratique le sexage, qui consiste à séparer
les oisillons à peine éclos entre mâles et femelles. Des millions de
canetons femelles sont jugés « inutiles » et broyés ou gazés juste
après leur naissance (Fondation Brigitte Bardot).
‘In der Stopfleberindustrie werden frisch geschlüpfte Küken in
männliche und weibliche Tiere unterteilt. Millionen von
weiblichen Entenküken werden als ‚unbrauchbar‘ eingestuft
und unmittelbar nach der Geburt zerquetscht oder vergast.‘
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263
Es überrascht nicht, dass auch die Einzelheiten der Schlachtung in den Texten
der Stopflebergegner dargestellt werden:
(18) Après une dizaine de jours de gavage, à l’âge de 90 jours environ,
les oiseaux sont entassés dans des caisses et emmenés à l’abattoir.
Ils sont étourdis par électronarcose (décharge électrique) puis
saignés. Il arrive fréquemment que les oiseaux se réveillent avant
ou en cours de saignée. Ils sont ensuite plumés, éventrés, vidés,
puis leur foie est prélevé et conditionné pour être commercialisé
(L214 éthique & animaux).
‘Nach etwa zehn Tagen Zwangsfütterung, im Alter von etwa 90
Tagen, werden die Tiere in Kisten gepfercht und zum
Schlachthof gebracht. Sie werden durch Elektronarkose
(Elektroschock) betäubt und dann ausgeblutet. Oft wachen die
Vögel vor oder während des Ausblutens auf. Anschließend
werden sie gerupft, ausgenommen, ihre Lebern entfernt und für
die Vermarktung verpackt.‘
Seitens der Stopfleberlobby werden verständlicherweise die Einzelheiten der
Tierhaltung sowie das Leiden der Gänse und Enten nicht angesprochen. Unterdessen
wird jedoch die während des Stopfens vollzogene Verfettung der Leber
als ein natürlicher Prozess betrachtet, der auch während der Vorbereitung auf
die Wintermigration bei den Tieren zu beobachten sei:
(19) Le gavage des oies et canards repose sur la capacité naturelle du
foie des palmipèdes gras à stocker une quantité importante de
graisse (CIFOG).
‘Das Stopfen von Gänsen und Enten beruht auf der natürlichen
Fähigkeit der Leber von gemästeten Palmipeden, eine große
Menge Fett zu speichern.‘
Dieses Schlüsselargument wird in den Texten der Stopfleberlobbyisten wiederholt
aufgeführt:
(20) Les oiseaux migrateurs stockent naturellement des graisses dans
leur foie avant leur voyage. L’engraissement des oies et des
canards pour la production de foie gras n’est que la reproduction
de cette aptitude physiologique naturelle, non-pathologique et
totalement réversible, aptitude que les animaux élevés pour la
production de foie gras ont conservée (Euro Foie Gras).
‘Zugvögel speichern vor ihrer Reise natürlicherweise Fett in
ihrer Leber. Das Mästen von Gänsen und Enten für die Stopfleberproduktion
ist lediglich eine Reproduktion dieser
Osthus: patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
264
natürlichen, nicht pathologischen und vollständig reversiblen
physiologischen Fähigkeit, die die für die Stopfleberproduktion
gezüchteten Tiere behalten haben.‘
Insgesamt bliebt hier festzuhalten, dass auf den Seiten der Stopfleberproduzenten
die Lebens- und Haltungsbedingungen der Enten und Gänse
kaum bis gar nicht thematisiert werden, wohingegen die kulinarischen
Qualitäten des Endprodukts klar in den Vordergrund gestellt werden.
Die vergleichende Analyse der beiden Teilkorpora zeigt, dass Stopflebergegner
das Leid der Tiere durch Analogien zu menschlichem Leid als Martyrium
konzeptualisieren, während die Autoren der befürwortenden Texte die Frage
des Tierwohls weitgehend ausblenden.
3. Die Dichotomie Krankheit/Gesundheit
Die Auswertung der beiden Teilkorpora zeigt neben einer Auseinandersetzung
um die Legitimation des gavage auch ein unterschiedliches Framing der
Dichotomie von Krankheit und Gesundheit. Bei der Beurteilung nach dem
gesundheitlichen Status der Stopfleber werden zwei unterschiedliche
Perspektivierungen erkennbar, nämlich zum einen der Blick auf die Gesundheit
des Tieres, zum anderen der auf die gesundheitlichen Folgen des Stopfleberkonsums
für den Menschen.
Die Stopflebergegner etablieren die Assoziation von Stopfleber mit Krankheit.
Wiederholt wird die überfettete Leber als ein mutwillig erzeugtes kranker
Körperteil dargestellt:
(21) Les oiseaux développent une maladie du foie appelée stéatose
hépatique. Leur foie hypertrophié atteindra presque 10 fois son
volume normal, entraînant des problèmes pulmonaires et
locomoteurs (Fondation Brigitte Bardot).
‘Vögel entwickeln eine Lebererkrankung, die hepatische
Steatose. Ihre vergrößerte Leber erreicht fast das 10-fache ihres
normalen Volumens und führt zu Problemen in der Lunge und
im Bewegungsapparat.‘
Neben der Lebererkrankung führe die Haltung auf den harten Stallböden
zudem zu Infektionen des Bewegungsapparats.
(22) En période de gavage, les canards enfermés sur des sols durs
développent des infections aux pattes, comme des dermatites.
metaphorik.de 33/2023
265
Outre la longue liste des maladies engendrées par ce traitement,
le malaise général des animaux gavés et encagés est à son
paroxysme (stop-foie-gras ; L.214).
‘Während der Fütterungszeit entwickeln Enten, die auf harten
Böden gehalten werden, Beininfektionen wie Dermatitis.
Zusätzlich zu der langen Liste von Krankheiten, die durch
diese Behandlung verursacht werden, ist das allgemeine
Unbehagen der zwangsgefütterten und eingesperrten Tiere am
schlimmsten.‘
Das Verdauungssystem wird ebenfalls durch potenziell tödliche Krankheiten
bedroht:
(23) La suralimentation forcée et déséquilibrée provoque
fréquemment des maladies du système digestif,
potentiellement mortelles (stop-foie-gras ; L.214).
‘Erzwungene und unausgewogene Überfütterung führt häufig
zu lebensbedrohlichen Erkrankungen des Verdauungssystems.‘
Die gesamte Stopfleberproduktion gründet sich infolgedessen auf die
gesundheitliche Ausbeutung der Tiere, die willentlich krank gemacht würden:
(24) Alors que le prix au kilo est toujours plus bas pour le
consommateur, le foie gras est un produit très cher payé par les
animaux dont le corps, utilisé comme une machine à produire,
est volontairement rendu malade (stop-foie-gras ; L.214).
‘Während der Kilopreis für den Verbraucher immer niedriger ist,
ist Stopfleber ein Produkt, für das die Tiere sehr teuer bezahlen
müssen, deren Körper absichtlich krank gemacht werden, um als
Produktionsmaschine zu dienen.‘
Dies führt zu einer entsprechend verdichteten Verbindung zwischen Krankheit
und dem Endprodukt, dem foie gras:
(25) Le foie gras est l’organe malade d'une oie ou d’un canard (stopfoie-
gras ; L.214).
‘Foie gras ist das kranke Organ einer Gans oder Ente.‘
Die in diesem Diktum verdichtete Verbindung von Stopfleber mit Krankheit
zieht sich durch sämtliche Beiträge der Stopflebergegner und ist somit ein
zentrales Argument gegen die Produktion wie gegen den Konsum von foie gras.
Osthus: patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
266
In den Texten der foie gras-Produzenten herrschen konsequenterweise abweichende
Bewertungen vor. Die von den Gegnern als pathologisch eingestufte
Steatose wird als Normalzustand der Leber bei Gänsen und Enten klassifiziert:
(26) L’accumulation de graisse dans les cellules hépatiques porte le
nom de stéatose. Lors du gavage des oies et canards, la stéatose
est un processus physiologique normal puisque c’est une des
fonctions du foie de stocker les graisses. Chez l’homme, en
revanche, la stéatose peut être le signe d’une pathologie
(CIFOG).
‘Die Ansammlung von Fett in den Leberzellen wird als Steatose
bezeichnet. Wenn Gänse und Enten zwangsgefüttert werden, ist
Steatose ein normaler physiologischer Prozess, da es zu den
Aufgaben der Leber gehört, Fett zu speichern. Beim Menschen
kann die Steatose jedoch ein Zeichen für eine Krankheit sein.‘
Hier haben wir es folglich mit einer abweichenden medizinischen Bewertung
der Steatose – in den Augen der Produzenten ein processus physiologique normal,
in denen der Gegner eine Pathologie – zu tun. Im Rahmen dieser abweichenden
Einschätzung wird die Assoziation von Stopfleber mit Krankheit umgekehrt, so
dass die (25) Identifikation des foie gras mit einem kranken Organ dementiert
wird:
(27) La stéatose ne doit pas être confondue avec la cirrhose. La
cirrhose est une destruction des cellules du foie et leur
remplacement par du tissu cicatriciel non fonctionnel. […] Un
foie gras n’est pas un foie malade, c’est un produit sain
[Kursivsetzung im Original, D.O.] (CIFOG).
‘Steatose ist nicht mit Zirrhose zu verwechseln. Unter Zirrhose
versteht man die Zerstörung von Leberzellen und deren Ersatz
durch funktionsunfähiges Narbengewebe. [...] Eine Fettleber ist
keine kranke Leber, sie ist ein gesundes Produkt.‘
Typisch für die Texte der Stopfleberproduzenten ist indes die Perspektive auf
die Gesundheit der Konsumentinnen. Der physiologische Nährwert dieses
Nahrungsmittels wird entsprechend unterstrichen:
(28) Le foie gras d’oie, comme celui du canard, contient une majorité
de bonnes graisses - les acides gras poly- et mono-insaturés - qui
sont bénéfiques dans la prévention des maladies cardiovasculaires.
Il apporte également du fer, de la vitamine A et de
la vitamine B9 (acide folique) (CIFOG).
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‘Gänseleber enthält ebenso wie Entenleber einen hohen Anteil an
guten Fetten - mehrfach und einfach ungesättigte Fettsäuren -,
die zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen
beitragen. Es liefert auch Eisen, Vitamin A und Vitamin B9
(Folsäure).‘
Der Blick liegt hier eindeutig auf der menschlichen, nicht auf der tierischen
Gesundheit.
4. Konkurrierende Narrative des foie gras
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Gegner wie Verteidiger des
foie gras sich unterschiedlicher Argumentationsketten und –formen bedienen.
Die ‚Erzählung‘ der Gegner zeichnet das Bild einer quälerischen, unmoralischen
und gegen jede empathische Einstellung verstoßenden Praxis. Diese wird als
Ausdruck einer rückständigen barbarischen Moral gebrandmarkt. So lautet der
Titel des Manifests stop-foie-gras.com:
(29) Une coutume barbare ‘ein barbarischer Brauch‘
Frankreich sei in diesem Sinne moralisch rückständig:
(30) Le foie gras est aussi un produit de plus en plus coûteux pour la
France, dont il donne l’image d’un peuple rétrograde au
moment où bien d’autres pays en interdisent la production
(Stop-foie-gras.com ; L.214).
‘Stopfleber ist auch ein immer teureres Produkt für Frankreich,
das in einer Zeit, in der viele andere Länder die Produktion von
Stopfleber verbieten, das Bild eines zurückgebliebenen Volks
liefert.‘
Das Barbarische an der Stopfleberproduktion wird durch die Industrialisierung
des gavage und die damit verbundene Massentierhaltung weiter auf die Spitze
getrieben (vgl. (4)).
Die moralische Verdammung der foie gras-Industrie wird über die Empathie mit
den leidenden Tieren, deren Qualen analog zu menschlichem Leid illustriert
werden, verstärkt. Die Charakterisierung des gavage als Folter und Versklavung
verdeutlicht diese zum Teil gegebene Gleichsetzung von Menschenrechts- und
Tierrechtsverletzungen.2 Die Textbeispiele zeigen zwar weniger durchgehende
2 Youatt (2012: 349) zeigt in seinen Betrachtungen zur Stopfleberproduktion in ihrer
biopolitischen Dimension die Rolle der Tierrechtsbewegung auf, die seit den 1990er Jahren
Osthus: patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
268
Metaphorisierungen, wohl aber die wichtige Darstellung der Tiere als leidensfähige
Subjekte, deren Rechte systematisch vom Menschen verletzt werden. Die
Stopfleberproduktion wird somit als Gewaltverbrechen konzeptualisiert und
traditionell auf menschliches Leid bezogene Begrifflichkeiten wie torture
(‘Folter‘), barbare, calvaire (‘Märtyrium‘), esclavage (‘Versklavung‘) erfahren hier
eine systematische Erweiterung auf die Befindlichkeit der Tiere. Das
kulinarische Vergnügen, das im Verzehr von foie gras liege, wird somit als ein
niederer Beweggrund für Folter und Tod gerahmt:
(31) Comment le simple plaisir que nous avons à manger son foie
peut-il justifier de faire subir une vie si misérable à un être
sensible qui, comme nous, ressent la douleur et la détresse ?
(Stop-foie-gras.com ; L.214).
‘Wie kann der einfache Genuss, den wir durch den Verzehr
seiner Leber erfahren, es rechtfertigen, dass ein empfindsames
Wesen, das wie wir Schmerz und Leid empfindet, ein so elendes
Leben durchmachen muss?‘
Diese Gleichsetzung von Menschen- und Tierrechten hat indes ihre Grenzen:
Nur in wenigen Texten wird die Nutztierhaltung und der Fleischkonsum
insgesamt problematisiert. Möglicherweise liegt dies am Zielpublikum: Die
Boykott- und Verbotsaufrufe richten sich an eine mehrheitlich vermutlich nicht
vegetarisch lebende Öffentlichkeit.
Die werbende Erzählung der Stopfleberproduzenten blendet die Lebenssituation
der Tiere weitgehend aus, beinhaltet hingegen zwei Erzählstränge, die
wiederum ein gemeinsames Element verbindet, nämlich das der Tradition. Der
gavage wird als ein kulturell tradiertes und schützenswertes Handwerk
präsentiert:
(32) Cette activité [production du foie gras] s’inscrit dans le cadre des
traditions culinaires françaises (CIFOG).
‘Diese Tätigkeit [die Stopfleberherstellung] ist Teil der
französischen kulinarischen Tradition.‘
ausdrücklich Tierrechte einfordern. Unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Spezies
ergeben sich etwa nach Peter Singer (1990) diese Rechte aus dem Potenzial der Leidensfähigkeit:
„Singer suggests that rather than using species membership as the criterion for how
we treat animals, we should use capacities, most importantly the capacity to feel pain, to judge
how we treat all forms of life.“
metaphorik.de 33/2023
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(33) Le Foie Gras : reflet des traditions régionales (CIFOG).
‘Foie Gras: ein Spiegelbild der regionalen Traditionen.‘
(34) Le Foie Gras, spécificité culinaire française est un produit du
terroir par excellence. Ancré dans les traditions locales, il
symbolise tout un art de vivre et, au fil des siècles, il est devenu
un ambassadeur incontournable de la gastronomie française
(CIFOG).
‘Foie Gras, eine französische kulinarische Spezialität, ist ein
lokales Produkt par excellence. Verwurzelt in den lokalen
Traditionen, symbolisiert er eine ganze Lebenskunst und ist im
Laufe der Jahrhunderte zu einem unverzichtbaren Botschafter
der französischen Gastronomie geworden.‘
Dieses Handwerk ist tief in den landwirtschaftlichen wie in den kulinarischen
Traditionen Frankreichs verankert. Die Lexeme terroir, régional, local sind
durchaus Hochwertwörter und stehen für traditionelle Authentizität. Damit
sind sie anschlussfähig an Nachhaltigkeitsdiskurse des geforderten Konsums
regionaler Produkte, bilden gewissermaßen eine Antipode zur Globalisierung,
indem sie als regionales Produkt gerahmt werden.
Foie gras ist somit ein wichtiger und wertvoller Teil des französischen Kulturerbes.
Hinter der weltweit geschätzten gastronomischen Delikatesse steht eine
Handwerkskunst, die über Jahrhunderte fortgeführt wurde:
(35) Le Foie Gras est un mets qui véhicule des valeurs terriennes, des
coutumes régionales élaborées patiemment au fil des années,
par des femmes et des hommes guidés par l’amour des produits
de qualité (CIFOG).
‘Foie Gras ist ein Gericht, das die Werte des Landes und die
regionalen Bräuche widerspiegelt, die im Laufe der Jahre von
Männern und Frauen aus Liebe zu Qualitätsprodukten geduldig
entwickelt wurden.‘
Damit wird der Foie gras implizit als Teil einer slow food-Esskultur dargestellt,
so dass der kulturelle Wert dieser Tradition die ethischen Bedenken, die mit der
Erzeugung verbunden sind, überblendet.3
3 Auf diesen Aspekt macht ebenfalls van der Weele (2006: 319) aufmerksam. Der Genuss
traditionell zubereiteter Speisen wird seitens des slow food-Ansatzes als eine verantwortbare
Form des Hedonismus betrachtet, was nicht immer spannungsfrei ist: „The search for
responsible forms of hedonism is not free from tensions. Thus, protection of and respect for
Osthus: patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
270
5. Fazit und Ausblick
Die Gegenüberstellung der werbenden Texte für und wider Stopfleber verdeutlichen
bei allen Unterschieden eine grundlegende Gemeinsamkeit, nämlich die
Orientierung an jeweils als schützenswert erachteter Moral. Während die
Gegner eine Ethik der Tierhaltung verteidigen und die Stopfleberproduktion
vor allem aufgrund der den Idealen des Tierschutzes widersprechenden
Haltungsbedingungen ablehnen, stellen die Befürworter den Wert der
Tradition und des kulturellen bzw. des gastronomischen Erbes in den Vordergrund
ihrer Darstellungen. Ethisches Verhalten (cf. mettre de l‘éthique dans nos
assiettes (14)) gegenüber den Tieren steht hier der handwerklichen
landwirtschaftlichen und kulinarischen Tradition gegenüber. Dieser Aspekt
spiegelt sich zudem auch in den typischen Konsumgewohnheiten anlässlich
großer Familienfeste am Jahresende wider.
Die hier zu ermittelnden diskursiven Rahmungen verdeutlichen den zu Grunde
liegenden Konflikt. Beide Parteien bedienen sich prinzipiell eines Argumentationstopos
von Nachhaltigkeit und Werteorientierung, vertreten dabei
allerdings miteinander unversöhnliche Positionen. Vergleichbare Konfliktstellungen
zeigen sich etwa auch in der Auseinandersetzung um die Jagd oder
strukturell auch in Auseinandersetzungen zwischen dem Imperativ der erneuerbaren
Energien und Ansprüchen des Landschaftsschutzes. Hier wie dort
sind entsprechend Strategien der begrifflichen Aneignung, der semantischen
Verschiebung, der euphemistischen bzw. disphemistischen Darstellung, an
einigen Stellen auch der bewussten Manipulation zu identifizieren.
Diese Konflikte gilt es, im Rahmen von angewandter Sprach- und Diskurslingustik
im Blick zu behalten. Eine Analyse von narrativen, argumentativen
oder auch semantischen Inkompatibilitäten führt zwar nicht unbedingt zu einer
Befriedung solch ethisch-sozialer Konflikte. Sie dient aber dennoch dazu,
zumindest den Konflikt zu verstehen und auch die Ursachen des wechselseitigen
Nicht-Verstehens zu benennen. Die Werkzeuge, die uns hier die
kritische Diskursanalyse, die Ökolinguistik oder auch eine textorientierte
kognitive Metaphernanalyse bieten, bleiben in jedem Fall von höchstem Wert.
traditional products sometimes clash with animal welfare or environmental concerns, as in the
traditional forced feeding of geese in the production of foie gras, or the traditional shooting
and eating of (sometimes endangered species of) singing birds in Mediterranean countries.“
metaphorik.de 33/2023
271
6. Literatur
6.1 Korpora
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https://www.fondation-droit-animal.org/documentation/gavagepalmipedes-
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https://www.leslignesbougent.org/petitions/stop-production-de-foiegras-
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https://agriculture.gouv.fr/le-foie-gras-de-france (28.7.21).
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SAS Ernest SOULARD, Le Foie Gras en chiffres, https://www.canardsoulard.
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https://www.svpa.ch/protection_animaux/foie_gras/?id=80 (28.7.21).
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Osthus: patrimoine culturel et gastronomique oder épouvantable cruauté?
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Unmögliche Idylle. Narrative der Nachhaltigkeit und der Entwicklung in B. Travens Erdölroman Die Weiße Rose und ihre Erschließung im Deutschunterricht

Sebastian Susteck

Ruhr‐Universität Bochum (Sebastian.Susteck@rub.de)

Abstract


Probleme ökologischer Nachhaltigkeit sind wesentlich Probleme der Energieversorgung und damit Probleme der fossilen Moderne des Anthropozäns. Für einen Deutsch- und Literaturunterricht, der Fragen der Nachhaltigkeit thematisiert, gewinnen Texte der Zwischenkriegszeit Bedeutung, die die fossile Moderne feiern, aber auch problematisieren. Der Aufsatz gibt einen systematischen und historischen Einblick in die Zusammenhänge und analysiert dann B. Travens Roman Die Weiße Rose und seine Modernisierungs- und Erdölnarrative. Vor dem Hintergrund der Analyse werden konkrete Vorschläge für den Deutschunterricht gemacht.

Problems of ecological sustainability are closely linked to problems of energy and the age of fossil fuels in the anthropocene. Classes in German and literature that address questions of sustainability can focus on texts from the interwar period that celebrate, yet also criticize the fossil age. The paper provides systematic and historic insights into the subject. It then analyses B. Traven’s novel Die Weiße Rose and its narratives of oil and the modern age. Following the analysis it makes suggestions for planning lessons in the subject of German that deal with the text.

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Seite 155

155
Unmögliche Idylle. Narrative der Nachhaltigkeit und der
Entwicklung in B. Travens Erdölroman Die Weiße Rose und
ihre Erschließung im Deutschunterricht
Sebastian Susteck, Ruhr‐Universität Bochum (Sebastian.Susteck@rub.de)
Abstract
Probleme ökologischer Nachhaltigkeit sind wesentlich Probleme der Energieversorgung und
damit Probleme der fossilen Moderne des Anthropozäns. Für einen Deutsch- und Literaturunterricht,
der Fragen der Nachhaltigkeit thematisiert, gewinnen Texte der Zwischenkriegszeit
Bedeutung, die die fossile Moderne feiern, aber auch problematisieren. Der Aufsatz
gibt einen systematischen und historischen Einblick in die Zusammenhänge und analysiert
dann B. Travens Roman Die Weiße Rose und seine Modernisierungs- und Erdölnarrative. Vor
dem Hintergrund der Analyse werden konkrete Vorschläge für den Deutschunterricht
gemacht.
Problems of ecological sustainability are closely linked to problems of energy and the age of
fossil fuels in the anthropocene. Classes in German and literature that address questions of
sustainability can focus on texts from the interwar period that celebrate, yet also criticize the
fossil age. The paper provides systematic and historic insights into the subject. It then analyses
B. Traven’s novel Die Weiße Rose and its narratives of oil and the modern age. Following the
analysis it makes suggestions for planning lessons in the subject of German that deal with the
text.
1. Narrative der Nachhaltigkeit und Entwicklung und B. Travens
Erdölroman Die Weiße Rose
1.1 Die Brennstoffe der Moderne in Literaturwissenschaft
und -didaktik
Zu den neueren Debatten einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft
gehört die Diskussion der Frage, ob energetisch unterschiedlich fundierte
Gesellschaften unterschiedliche Literaturen hervorbringen (cf. Szeman et al.
2011; Kinder u. Szeman 2020). Möglich wird ein innovativer Zugriff, wenn der
Blick insbesondere für die hoch energetisierten fossilen Gesellschaften der
Industrialisierung, ihre Literaturen und Künste geschärft wird (cf. etwa Barrett
u. Worden 2014; LeMenager 2014). Die ‘Energetisierung’ durch Kohle und Erdöl
im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfasst nicht nur Fortbewegungsmittel,
Produktionsmethoden der Fabriken oder Wärmeerzeugung, sondern auch die
Agrikultur, die Viehwirtschaft, die Erzeugung von Werkstoffen und materiellen
Gütern oder den Aufbau von Infrastrukturen. Sie dringt in die Körper
metaphorik.de 33/2023
156
und das Bewusstsein von Menschen und Tieren vor, bestimmt Zeit- und
Raumerfahrungen und erzeugt eine neue Realität, die in den Diegesen,
erzählerischen Strukturen, der Bildlichkeit oder Syntax literarischer Werke
Ausdruck findet.
Das kulturwissenschaftliche Interesse am Themenfeld von Energie und
Literatur ist nicht einfach mit älteren Beobachtungen der technischen
Modernisierung von Gesellschaften gleichzusetzen, sondern gewinnt in Fragen
der Nachhaltigkeit einen neuen Bezugspunkt und eine zusätzliche Motivation.
Auch für einen Literaturunterricht, der sich der Querschnittsaufgabe der
Bildung für Nachhaltigkeit stellt (cf. etwa Ministerium für Schule und Bildung
des Landes Nordrhein-Westfalen 2014: 11, u. 2019: 10), eröffnen sich dabei
Themenfelder, die geeignet sind, interdisziplinäre Verbünde mit „dem
erweiterten MINT-Bereich“ (Wanning 2019: 300) zu bilden, aber auch eigene
Zugriffe erlauben. Hierzu gehört die Auseinandersetzung mit kulturellen und
speziell literarischen bzw. literarisch-philosophischen Narrativen im Sinn
stereotypisierter, teils nur fragmentarisch realisierter, aber stets assoziationsreicher
Erzählungen, mit denen der Welt Sinn gegeben wird und die energetische,
ökologische, soziale oder im weiten Sinne politische Fragen zentral
betreffen.
Eine Herausforderung ist der Bereich der Nachhaltigkeit nicht zuletzt deshalb,
weil hier wenig literaturunterrichtliche Erfahrung existiert und weil neue
Zugriffe tradierte – und bequeme – Dichotomien unterlaufen, die etwa Subjekt
und Objekt oder Geist und Stoff trennen oder die die energetische Geformtheit
von Erfahrungen, Werthaltungen, Staatsformen oder Normalismen unterschätzen
(cf. Mitchell 2011; den ursprünglich von 2015 stammenden Text von
Morris 2020). Dabei muss der Literaturunterricht sich im Kontext einer
mehrdimensionalen ökologischen Krise des sogenannten Anthropozäns (cf.
Horn u. Bergthaller 2020) einer Herausforderung stellen, die innerhalb der
Literaturwissenschaft längst diskutiert wird, wenn er kaum länger eine naivkonstruktivistische
Zugriffsweise vertreten kann, die keine Objektivität kennt,
während andererseits dennoch Literatur, Kunst und ihre Wissenschaften Orte
jenseits eines gleichfalls naiven Positivismus bleiben müssen (cf. orientierend
Koschorke 2015).
Wenn es einen literarischen Zeitraum gibt, in dem die Energetisierung von
Gesellschaften durch fossile Brennstoffe beobachtet, ja gefeiert wurde, sind dies
Susteck: Unmögliche Idylle
157
die 1920er und 1930er Jahre, in denen die Möglichkeitsbedingungen der nach
1945 einsetzenden sogenannten great acceleration zwar schon existierten, aber
Kriege und Weltwirtschaftskrise hemmend wirkten (cf. Steffen/Crutzen/
McNeill 2007: 617f.). Romane um Erdöl und Kohle von Autoren wie B. Traven
oder, weniger bekannt, Heinrich Hauser spielen hierbei ebenso eine Rolle wie
Schriften der schwerpunktmäßig zwischen 1909 und 1934 aktiven ‘Avantgarden’
insbesondere in ihrer futuristischen Prägung, denen es um eine
revolutionäre Neugestaltung der gesamten Gesellschaft und ihre Anpassung an
neue technologische Niveaus ging. Im Folgenden soll speziell B. Travens
Roman Die weiße Rose von 1929 im Fokus stehen, der den sogenannten ‘globalen
Süden‘ bereits kennt und ein frühes Bewusstsein für ökologische Probleme
zeigt. Diese werden mit sozialen Fragen und solchen der Entwicklung verbunden,
wobei der Roman unaufgelöste Spannungen erzeugt, deren Erarbeitung
und Reflexion sich unterrichtlich anbietet.
1.2 Zwischen Kohle und Erdöl
Die Dekaden der Zwischenkriegszeit stellen einen Zeitraum dar, in dem in
Deutschland ein ‘Wettstreit’ zwischen Kohle und Erdöl und die zunehmende
Schwächung der Kohle zugunsten des Erdöls diagnostiziert wurden. Hierbei
wurden noch Lehren aus dem Ersten Weltkrieg gezogen, in dem das Deutsche
Reich die Bedeutung des Erdöls anfänglich unterschätzt hatte (cf. Manova 2021:
28–30). Nach Kriegsende avancierte die deutsche Rohstofflage – also besonders
die Erdölknappheit – zu einer Begründung der deutschen Niederlage und
„nicht weniger reaktionäre[n] Alternative zur ‘Dolchstoßlegende‘“ (ibid.: 39).
Erdöl, dessen Bedeutung in den 1920er Jahren durch den Automobilismus auch
in Deutschland evident wurde, wurde unter nationalen Vorzeichen kodiert und
zur energetischen Seite des ‘Amerikanismus’ (cf. ibid.: 24). Die Energiefrage
wurde Thema „in der Zeitung und der illustrierten Presse, auf der Bühne, in
Romanen, Biografien und Sachbüchern“ (ibid.: 33). Die literarische Thematisierung
erwies sich, wie auch Amitav Ghosh (2016: 73–75) beobachtet, dabei
freilich im Falle der Kohle als leichter als im Falle des Erdöls, wobei sich in
beiden Fällen metonymische Bewältigungen anboten, die Flugzeuge, Automobile,
Schiffe, Schlote oder Öltanks eher thematisierten als Energieträger und
ihre Extraktion (cf. ibid.: 74).
metaphorik.de 33/2023
158
Ghosh notiert in seinem vielzitierten Essay The Great Derangement. Climate
Change and the Unthinkable, dass die Literatur das energetische Unbewusste
moderner Gesellschaft nur selten thematisiere – dieses eine „resistance to the
arts“ (ibid.: 73) zeige – und sieht eine besondere Unsichtbarkeit des Erdöls, die
diejenige von Kohle noch übertrifft (cf. ibid.: 73ff.). Zu den auffälligsten Eigenschaften
moderner Gesellschaften wenigstens des ‘globalen Nordens’,
analysieren ähnlich Anti Salminen und Tere Vadén (2015), gehöre ihre weitgehende
Blindheit gegenüber der Bedeutung fossiler Brennstoffe (cf. 10), die
sich schon in philosophischen und soziologischen Schriften des 19. und frühen
20. Jahrhunderts zeige. „[T]he existence of fossil fuels has received scant
attention and analysis in philosophy“ (ibid.: 22). Speziell das Erdöl erzeuge
durch seine chemische Qualität und seinen flüssigen Aggregatzustand zugleich
die eigene Omnipräsenz und Unsichtbarkeit.
Kohle ist schmutzig, im Bergwerk, trotz aller Mechanisierung, nur unter Einsatz
menschlicher Körperkraft zu fördern und lässt sich schwer transportieren,
lagern oder verheizen. Demgegenüber drängt Erdöl ursprünglich von selbst an
die Oberfläche, ist vergleichsweise sauber und vergleichsweise leicht und
diskret durch Rohrleitungen zu bewegen und zu verbrennen (cf. ibid.: 45). Der
Schritt aus einer vor-fossilen Zeit in diejenige fossiler Brennstoffe, so Salminen
und Vadén, sei ähnlich groß wie die Umstellung von einem fossilen Brennstoff
auf den nächsten (cf. ibid.: 18), also besonders von Kohle zu Erdöl. Das Öl habe
die Fähigkeit, steile Hierarchien zu schaffen, die Gewinne von Kosten oder
Konsumenten von Produzenten trennen, und es erzeuge Produktions- und
Lieferketten über lange Distanzen, die das Wesen moderner Gesellschaften und
ihres Energieverbrauchs verdeckten (cf. ibid.: 25), was seinerseits in Entfremdungserfahrungen
münde (cf. ibid.: 37). Die Fähigkeit von Erdöl, sich in alles
zu verwandeln und alles zu bewegen, vereinheitliche und uniformiere die Erde
– „shatters the recognizability of localities as localities“ (ibid.: 37, cf. auch 41) –
und wirke zugleich trennend und atomisierend (cf. ibid.: 39, auch 43). „Oil binds
by breaking“ (ibid.: 43). Es verbindet zuvor unverbundene Orte und uniformiert
sie, erzeugt oder verstärkt zugleich aber massive Differenzen in Wohlstand,
Infrastruktur, Ökologie, Gesundheit und Macht.
Susteck: Unmögliche Idylle
159
1.3 Autoren des Erdöls 1928 und 1929
„Auf Sand stand diese Stadt, aber überall, wo man mit der Hand in den Sand
griff, wurde die Masse zäh und klebrig: Öl“, heißt es im Roman Brackwasser des
jungen Autors Heinrich Hauser (1928a: 16), der 1929 den Gerhart-Hauptmann-
Preis erhielt.1 Hauser gehörte in den 1920er und 1930er Jahren zu den
ungewöhnlicheren deutschen Autoren und war nicht nur mit technischem
Talent ausgestattet, sondern hatte als Praktikant an einem Ruhrgebietshochofen
gearbeitet, fuhr mit Dampf- und Segelschiffen zur See, lernte fliegen und
verschrieb sich zunehmend dem Automobilismus (cf. aktuell Schubert 2021).
Energetisch stand er in einer Welt zwischen Kohle und Erdöl, deren Zweideutigkeit
sich gerade in den von ihm genutzten und adorierten Verkehrsmitteln
zeigte. Ökologische Aspekte deuten sich dabei an, doch dominieren bei
Hauser noch ökonomische, soziale, postkoloniale und ‘rassebezogene’ Aspekte.
In Brackwasser trifft der Matrose Glen im Bordellviertel der mexikanischen
Erdöl-Stadt Tampico, das von den Geldern des Ölexports am Laufen gehalten
wird, die Prostituierte Chiquita, die ihm nach Europa folgt, wo beide heiraten.
An der Ostseeküste versucht Glen eine Idylle der Selbstversorgung zu stiften,
die jedoch in einem Hochwasser versinkt. Die beiden trennen sich und gehen
wieder ihrem ursprünglichen Erwerb nach, ja werden eingesogen von den
Geldströmen des globalen Handels: sie in der Prostitution, er auf einem
modernen Dampfer, der noch mit Kohle, nicht Erdöl befeuert wird. Die
Sehnsucht des Romans aber gilt einer subsistenzwirtschaftlichen Autarkie in
Distanz zur modernen Welt.
Auch in Sachtexten widmete sich Hauser den fossilen Brennstoffen und ihrem
Wettstreit. Im Band Friede mit Maschinen von 1928, der Artikel aus der
Frankfurter Zeitung versammelte, die in der Debatte um neue Technik mit
wegweisend war (cf. Manova 2021: 34–36), steht ein eigener Abschnitt unter der
Überschrift „Öl und Kohle“. Hauser behauptet hier, es gehe beim „Kampf
zwischen Kohle und Öl rein nach der Wirtschaftlichkeit“, um fortzufahren, die
„Vorteile des Öls: Sauberkeit, Staub- und Rußfreiheit werden im allgemeinen
überschätzt“ (1928b: 67). Dabei beziehen sich die Ausführungen allerdings
1 Anders als im Falle weiterer Texte Hausers war dieser Titel lange nicht im Buchhandel
erhältlich. Jedoch liegt nun eine von Wolfgang Bühling verantwortete Neuausgabe im
ConferencePoint Verlag Hamburg vor.
metaphorik.de 33/2023
160
ausschließlich auf den Schiffsverkehr. Auf diese Weise weicht Hauser nicht nur
zentralen Aspekten des Vergleichs der Brennstoffe aus und eskamotiert etwa
die Tatsache, dass die in den 1920er-Jahren modernsten Verkehrsmittel Flugzeug
und Automobil kaum mit Kohle betrieben werden können bzw. hydrierte
Kohle benötigen, deren industrielle Produktion nach dem Bergius-Pier-
Verfahren 1928 erst ganz am Anfang stand. Das Resümee, kohlebetriebene
Schiffe würden sich für Linien zwischen kohlereichen Ländern und ölgetriebene
für Linien zwischen erdölreichen Ländern besonders eignen (cf. ibid.:
68), drohte zudem hinter das Wissen zurückzufallen, das bereits im Ersten
Weltkrieg entstanden war.
Erdöl und Kohle widmete sich auch der Autor B. Traven. Sein Roman Die Weiße
Rose erschien 1929, ein Jahr nach Hausers Brackwasser und Friede mit Maschinen,
und spielt größtenteils in Mexiko (cf. Traven 1983).2 Traven teilt mit Hauser
mehrere Eigenschaften, die eine Sensibilität für Energie zu begünstigen
scheinen. Hierzu gehört der Verzicht auf den Anspruch, Hochliteratur zu
schreiben, eine dokumentarische und materialistische Grundhaltung, besonders
aber die biographische Bekanntschaft mit jener Peripherie der industrialisierten
Welt, von der die Maschinen und Infrastrukturen Nordamerikas und,
später, Europas zehrten. Während Hauser unter anderem Mexiko bereiste, lebte
und schrieb Traven dort und eroberte von Mexiko aus den deutschen
Buchmarkt.
Geboren wurde Traven 1882 als Otto Feige in Schwiebus in der preußischen
Provinz Brandenburg (cf. zur lange unbekannten Identität Hauschild 2012; für
einen aktuellen Überblick auch Manova 2021: 161f.). Er machte eine Ausbildung
zum Schlosser und avancierte zum Gewerkschaftssekretär. Ab 1907 agierte er
als Theaterschauspieler und Anarchist und nahm hierbei das Pseudonym Ret
Marut an, das lange für Travens ursprünglichen Namen gehalten wurde (cf.
noch Machinek 1989: 76–84). 1924 gelangte er nach Mexiko und begann seine
literarische Karriere unter zunächst schwierigen Bedingungen, wobei er zum
Broterwerb „als Gelegenheitsarbeiter auf Baumwollplantagen oder Ölfeldern,
als Bäcker oder Viehtreiber“ (Dragowski 1989: 23) arbeitete. Es gelang ihm, 1925
2 Der Roman wird im Haupttext nur mit Seitenangaben zitiert. Genutzt wird die auch für
den Unterricht verwendbare Diogenes-Taschenbuchausgabe, die den fünften Band der von
Edgar Päßler herausgegebenen Traven-Werkausgabe wiedergibt.
Susteck: Unmögliche Idylle
161
im Berliner ‘Vorwärts’, der Parteizeitung der SPD, den Fortsetzungsroman Die
Baumwollpflücker zu publizieren, welcher die Aufmerksamkeit der ‘Büchergilde
Gutenberg’ erregte (cf. auch für das Folgende ibid.). 1926 erschien hier Travens
bis heute berühmtester Roman Das Totenschiff, der ein großer Erfolg wurde. Es
folgten zahlreiche weitere Romane, bis das Bündnis zwischen Traven und der
Büchergilde, die mittlerweile ins schweizerische Exil gezogen war und ihr
Programm entpolitisiert hatte, 1939 temporär3 zerbrach.
1.4 Die Weiße Rose: triadisches Narrativ und Darstellungsweise
Die Weiße Rose thematisiert den Fluch, aber auch, und dies ist wichtig, den Segen
des Erdöls. Im Zentrum der Handlung steht einerseits die mexikanische
Hazienda La Rosa Blanca, die ins Visier der US-amerikanischen Condor Oil
Company und ihres Präsidenten Mr. Collins gerät, weil unter ihrem Land Erdölvorräte
liegen. Andererseits geht es um das Leben in San Francisco, wo Condor
residiert. Nach längerer Auseinandersetzung gelingt es Collins, den Patron der
Hazienda, Jacinto, in die USA zu locken und dort – passenderweise mithilfe
eines Automobils – ermorden zu lassen. Die Condor Oil Company übernimmt die
Hazienda und vertreibt ihre indigenen Bewohner_innen.
Der Roman trägt den Schatten eines der ältesten Narrative der westlichen
Kultur in sich, nämlich des in die griechische Antike zurückgehenden Narrativs
des goldenen Zeitalters und seiner Auflösung (cf. Gatz 1967). Genauer4 tritt im
Roman eine geschichtsphilosophisch oft bemühte Triade hervor, die eine Idylle
(cf. nur Böschenstein-Schäfer 2001) und ihre Zerstörung beobachtet, aus dieser
Zerstörung aber auch Neues auf gehobener Stufe hervorgehen sieht. Die
triadische Erzählung ist in Travens Roman in spezifischer Weise konkretisiert,
nämlich durch Anleihen bei Karl Marx und Friedrich Engels. Der Roman fügt
sich thematisch und stilistisch in ein internationales literarisches Feld, das in
3 Cf. zur schwierigen Beziehung über 1939 hinaus Dammann (2012).
4 Gatz (1967: 212) weist daraufhin, dass für den antiken Mythos des ‘Goldenen Zeitalters’
und seine späteren Anverwandlungen der Gedanke zentral sei, „daß die Natur von selbst,
ohne menschliches Zutun, ihren vollen Segen spendet“. Hierin bestehe nachgerade ein
„Wunschgedanke aller Völker und Zeiten“ – dies sei „das Schlüsselmotiv, das alle partiellen
Bereiche und divergierenden Sichtweisen der goldenen Zeit und der Paradiesvorstellung
umspannt“. In völliger Reinheit ist dies bei Traven nicht abgebildet, wo Land und Vieh auf
der Rosa Blanca offensichtlich aktiv bewirtschaftet werden.
metaphorik.de 33/2023
162
Deutschland wie den USA beobachtet werden kann, dem auch Hausers
Brackwasser angehört und das im deutschen Zusammenhang mit dem, freilich
nicht ganz trennscharfen, Schlagwort der ‘Neuen Sachlichkeit’ bezeichnet wird
(cf. Becker 2000). Die Weiße Rose wird von einem nullfokalisierten heterodiegetischen
Erzähler erzählt, der dem Leser durchaus umfangreiche Einblicke
in die Psyche der verschiedenen Protagonist_innen gewährt – passagenweise
auch intern fokalisiert –, sich dabei aber um eine möglichst genaue, tendenziell
amoralische Beschreibung bemüht. Im Bereich der Figuren beobachtet er
einerseits den Patron der Hazienda, Jacinto, andererseits ‘neue Menschen’ der
Oberschicht einer Moderne, die fossile Moderne ist. Zentral sind hierbei die
Protagonistin Betty Cuttens als Inkarnation der ‘Neuen Frau’ und Mr. Collins,
den Traven als Heros des 20. Jahrhunderts zeichnet (cf. etwa 70).
In Die Weiße Rose fällt zunächst die Redseligkeit des Erzählers auf, der über
längere Passagen weniger Handlungen individueller Akteur_innen darstellt als
Sachverhalte erklärt, die, speziell wo es um ökonomische Zusammenhänge
geht, komplexer und abstrakter Art sind. Der Roman rückt in die Nähe des
erzählenden Sachbuchs, was besonders deutlich wird, wo es um Collins’
Manipulationen des Kohle- und Aktienmarktes geht. Die vergleichsweise große
Rolle von Erläuterungen gegenüber der Erzählung im engeren Sinne drückt
sich unter anderem in einer Textkomposition aus, die die Darstellung der
Handlungen der Protagonist_innen immer wieder unterbricht und viele Seiten
umspannende Erklärungen und Hintergrundinformationen einfügt.5
Der Drang zur Erläuterung abstrakter Sachverhalte hat mit den Intentionen des
Autors Traven zu tun, seine Leser_innen über die Realität aufzuklären. Sie hat
jedoch auch mit Qualitäten der modernen (Energie-)Welt zu tun, deren
literarische Darstellbarkeit in Zweifel steht. „Wer ist Herr des Lebens?“, fragt
der Erzähler.
Der Präsident der Ölkompanie? Oder der Rechtsanwalt, der die
schäbigsten Ehescheidungsprozesse und Erpressungsmanöver übernimmt?
Die Tänzerin eines Revuetheaters? Rockefeller? Sinclair?
Morgan? Der Präsident der Vereinigten Staaten? Keiner von denen,
5 Man könne sich „oft nicht des Eindrucks erwehren“, schreibt Thunecke (2012: 163) als sei
der Plot (auch) der Weißen Rose „nur Vorwand, um kulturkritische politische oder
ökonomische Ansichten des auktorialen Erzählers (und das heißt natürlich, mit
Einschränkungen, die des Autors) an den Mann zu bringen!“
Susteck: Unmögliche Idylle
163
die als Herren der Welt erscheinen, die Erdteile kaufen und verkaufen
können, die Republiken gebären und vernichten können, Könige
krönen und absetzen […]. Sie alle sind in der Maschine, die da heißt
‚Das moderne Zeitalter’, ‚Unser heutiges Leben’ (59).
Die Metapher der Maschine des modernen Zeitalters betont seine Komplexität,
Unkontrollierbarkeit und Undurchschaubarkeit, die man mit Salminen und
Vadén (2015), aber tatsächlich schon mit Traven selbst auch auf energetische
Grundlagen rückführen kann. Die Metapher betont zudem die Notwendigkeit,
beständig Brennstoff zuzuführen, und dies ist innerdiegetisch Mr. Collins’
Rückhalt, mit dem er jede Handlung rechtfertigt (cf. etwa 181f.). Zugleich zeugt
die Passage von der Impotenz selbst der mächtigsten Individuen gegenüber der
‘Maschine’.
1.5 Die Idylle und ihr Zerfall
Die Weltsicht, die der Roman anbietet, ist eine materialistische Sicht, die
unzweifelhaft auf Marx’sche und Engel’sche Impulse zurückgeht, die etwa aus
Die deutsche Ideologie von 1845/46 stammen (cf. 1971a). Der Materialismus übergreift
dabei das Leben auf der Hazienda und in der Erdölmoderne und ist für
beide grundlegend. Das materielle Leben zu reproduzieren leistet bereits die
Rosa Blanca, die gleichwohl außerhalb der Geschichte zu stehen scheint und
lediglich durch die Entdeckung von Erdöl in die Maschine des modernen
Zeitalters eingesaugt wird (cf. 59). Im Zentrum der geschichtlichen Entwicklung
steht dagegen das kohlen- und zunehmend erdölbasierte Leben in den USA und
weiteren ‘entwickelten’ Erdteilen.
Auch wenn Die Weiße Rose einem triadischen Narrativ aufsitzt, kann der erste
Eindruck oder der Eindruck flüchtigen Lesens sein, es mit einer Dyade zu tun
zu haben, die die Stadien einer idyllischen Subsistenzwirtschaft und ihres
Zerfalls unterscheidet, was beides auch bei Heinrich Hauser erscheint.
Während bei Hauser jedoch subjektiver Dilettantismus zum Scheitern führt,
dringt bei Traven die Moderne auf die Rosa Blanca vor und leistet ihre
Vernichtung durch Vertreibung der Bewohner und durch Erdölextraktion. Die
besonders anschaulichen, gleichwohl theoretisch, nämlich geschichtsphilosophisch,
soziologisch und ethnologisch imprägnierten Passagen des Romans
betreffen das Leben auf der Rosa Blanca, wo, mit Marx und Engels (1971a: 17)
metaphorik.de 33/2023
164
gesprochen, „eine bestimmte Lebensweise“ herrscht, die auf spezifischen materiellen
Grundlagen basiert. Heribert Körner und Ernst-Ullrich Pinkert (1984)
haben die entsprechenden schematischen, sachbuchnahen Entwürfe der Weißen
Rose aufgeschlüsselt und sich hierbei auch der Idylle der Hazienda gewidmet.
Als sollte nicht bloß eine fiktive Welt entworfen, sondern ein soziologisches
Kategoriensystem bedient werden, ist die Idylle durch „Genealogie, solidarische
Beziehung“ sowie einen spezifischen „Zeitbegriff“ (ibid.: 335) bestimmt.
Nicht nur gilt, dass die hier lebende Gemeinschaft miteinander verwandtschaftlich
und durch Patenschaften zwischen dem Patron Jacinto und den
Kindern der Hazienda verbunden ist und der jeweils herrschende Patron sich
selbst in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Der Patron steht auch in einer Reihe
mit Vorfahren und Nachkommen und hat ihnen gegenüber Verpflichtungen,
zu denen zuvörderst der Auftrag gehört, die Hazienda zu erhalten und nicht zu
veräußern. Während die Protagonisten der Erdölförderung im Roman einem
linearen Zeitbegriff anhängen und ihr Leben als möglichst effizient zu nutzende
Ressource auffassen, mangelt es Jacinto an diesem Begriff, sodass er mit Zeit
nachgerade verschwenderisch verfährt, ja eigentlich gar keine Beziehung zur
Zeit hat. Vielmehr werden Sach- und Sozialverhältnisse der Zeit vorgeordnet,
und zwar tradierte Verhältnisse, von denen aus die Welt gedacht wird. In
bemerkenswert klarer Weise nutzt Traven das Grundprinzip der Subsistenzwirtschaft,
um ein Leben zu zeichnen, das ein solches ewiger Gegenwärtigkeit
ist und im Zeichen selbstversorgenden Überlebens steht.
Technische Innovation hat auf der Rosa Blanca keinen Ort. Den Gedanken, ein
Auto zu kaufen, lehnt Jacinto ab, da er seine Wege nicht schnell zurücklegen
möchte. Maschinen zur Beschleunigung erscheinen sinnlos, sodass eine Arbeit,
„die eine Handmühle in drei Minuten schafft und an der die Indianerin eine
Stunde sitzt“, dennoch ohne Mühle erledigt wird.
[D]ie Handmühle kostet fünfzehn Pesos, und was hätte man mit der
übrigen Zeit anfangen sollen […]? Es war ein viel größeres
Vergnügen, alle die Tiere um sich zu haben und alle die Kinder
dazwischen. In den drei Minuten an der Handmühle konnten die
Tiere sich nicht versammeln (29).
Das Leben auf der Rosa Blanca stellt sich als Zusammenhang dar, in dem Zeit,
Sozialbeziehungen und Dinge in festen Konstellationen miteinander verwoben
sind und dessen Geräusche und Klänge sogar eine eigene Melodie des „heimatlichen
Singens der Rosa Blanca“ (30) kreieren. All dies wird von impliziten,
Susteck: Unmögliche Idylle
165
unausgesprochenen und vielleicht unaussprechlichen Gesetzen gesteuert, die
Jacinto „im Blut trug“ (12). In ihrer Besonderheit sind sie aus der Perspektive
modernen Lebens schlicht nicht zu erfassen und Generatoren einer Alterität, die
zu überbrücken fast unmöglich ist. Dies hat Folgen für das Gespräch zwischen
Jacinto und dem Licenciado der Condor Oil, der die Hazienda erwerben will,
denn während Jacinto nur wenige Gedanken vertreten kann, die er allenfalls
geringfügig variiert wiederholt, ist diese Art der Auseinandersetzung dem
Licenciado schlicht „langweilig“ (17). Umgekehrt gelingt es Jacinto aber, die
Angebote des Licenciados auf einfache Probleme zurückzuführen, die diesen
aus dem Konzept bringen (cf. 21).
Dass Travens Roman komplexer ist, als die bisherige Beschreibung erahnen
lässt, deutet sich nun schon in den frühen Passagen über die Rosa Blanca an. Es
ist in der Ambivalenz von Erzähleräußerungen angelegt, bei denen auffällt,
dass sie nicht immer Jacinto einseitig positiv und den Licenciado einseitig negativ
bewerten, zumindest aber suggerieren, dass solche Einseitigkeiten nicht
zwingend wären (cf. zur Ambivalenz auch Ngouebeng 1993). Sicher ist es nicht
übermäßig sympathisch, wenn der Licenciado die Bewohner der Hazienda als
„stupide[]“ (17) wahrnimmt. Andererseits ist nicht ganz klar, wie man den
Erzählerkommentar einordnen soll, der Licenciado habe Recht „[w]ie alle seines
Berufs“ (19). Mehr noch bietet die Beschreibung Jacintos, dessen ganze „Weisheit“
(17) in einem Satz eingeschlossen ist, durchaus eine Grundlage für die
Einschätzungen des Licenciados.
1.6 Die Zerstörung der Hazienda
Bevor dies weiterverfolgt wird, ist als Gegenbild des idyllischen Lebens auf der
Hazienda dessen Auflösung in der Erdöl-Produktion zu zitieren. Die Ansicht
dieser Auflösung wird im Roman gleich zweimal entworfen, nämlich einmal in
einer Vision Jacintos (cf. 32f.) und einmal als Teil der innerdiegetischen Wirklichkeit,
nachdem die Rosa Blanca in die Hände der Condor Oil Company gefallen
ist (cf. 230f.). Die entsprechende Passage arbeitet mit dem Kontrast zwischen
subsistenzwirtschaftlicher Idylle und kapitalistischem, in den Strom der
Geschichte eingetretenen Ölfeld.
Rosa Blanca war jetzt verschmiert, verölt, verräuchert, verqualmt,
verdreckt. Sie war erfüllt von dem Stöhnen, Ächzen, Dröhnen,
Rattern und Fauchen der Maschinen, der Pumpen, der schweren
metaphorik.de 33/2023
166
Lastenautomobile. In ihrem eintönigen, ermüdenden Rhythmus
rasselten die Bohrer auf und nieder, Tag und Nacht und Nacht und
Tag. Die Driller wurden von ausschwenkenden Rohren erschlagen,
die Tooldresser von fallenden Hebern zermalmt […]. Sofort war ein
anderer da, der den Gott Bohrer bediente. […] Und die Compadres
alle schleppten Rohre, und sie sahen aus wie in Ketten laufende
Sklaven (230f.).
Die übermächtige Gewalt der Erdölextraktion und ihre permanente Arbeit
werden durch hochgradig tautologische Formulierungen auf der Ausdrucksbzw.
Wortebene gespiegelt. Die Wörter „verschmiert, verölt, verräuchert,
verqualmt, verdreckt“ sind semantisch ähnlich, wobei verschmiert und verölt
sowie verräuchert und verqualmt jeweils Synonyme bilden, während verschmutzt
demgegenüber ein Hyperonym darstellt. Die Verbindung wird auch klanglich
durch die identischen Präfixe und daher eine Alliteration unterstrichen. Semantisch
ähnlich verhält es sich mit dem „Stöhnen, Ächzen, Dröhnen, Rattern und
Fauchen“, wobei auch Onomatopoesie, also Lautmalerei, hinzutritt. Die Formulierung
„Tag und Nacht und Nacht und Tag“ nutzt nicht nur einen Phraseologismus
und gleich zweimal dieselben Antonyme, sondern invertiert ihre
Reihenfolge, um besonders zu betonen, dass die Ölbohrer immer arbeiten.
Raffinierter noch als die vergleichsweise einfachen, wenn auch effektiven
rhetorischen Kunstgriffe ist in der Passage eine inhaltliche Eskalation, die man
zunächst übersehen kann. Der Übergang von den Bohrern zu den Drillern und
Tooldressern, die tödlich verunglücken, erfolgt jedenfalls ohne besondere
Markierung. So wie die Arbeit unablässig voranschreitet, tut dies auch das
Sterben, das keiner besonderen Aufmerksamkeit wert scheint, wenn man davon
absieht, dass erneut eine Redundanz eingebaut wird, da der Tod verschiedene
Menschen offenbar immer gleich und doch auf unterschiedliche Weise trifft.
Insgesamt kontrastiert der Klang des Ölfelds mit dem Gesang des Lebens auf
der Hazienda, sodass die unterschiedlichen Lebensweisen auch auditiv
anschaulich bzw. anhörbar werden.
Traven platziert Visionen der Nachhaltigkeit am Beginn, die im Rahmen der
Entwicklung aufgelöst und durch Prozesse der Erdölgewinnung zerschlagen
und vernichtet werden. Dennoch scheint der Impuls des Romans im Appell zu
bestehen, zu dieser Nachhaltigkeit zurückzukehren, wenigstens aber sie zu
bewahren, wo sie noch existiert. Die Anlage von Travens Roman ist dabei so
schematisch, dass die entsprechende Deutung überaus naheliegt und sich
Susteck: Unmögliche Idylle
167
gerade in didaktischen Kontexten aufdrängt. Die Weiße Rose würde sich damit
in ein breites Feld von Schriften einfügen, deren Vorstellung von Nachhaltigkeit
eine Vorstellung ist, die nach Exklaven sucht, welche aus der Vergangenheit
erhalten geblieben sind oder, noch dringender, wiederhergestellt werden
müssen. Schüler_innen des Deutsch- oder überhaupt Sprachunterrichts dürfte
diese Konstruktion nicht bloß vertraut, sondern auch bequem zuhanden sein,
da sie mit relativ simplen Mitteln ein Lösungsangebot ökologischer Krisen zu
machen scheint und jedenfalls leicht zu affirmieren ist.
1.7 Der Segen des Erdölzeitalters
Schaut man genauer hin, wirft Travens Roman freilich die Frage auf, wie überzeugend
dieses Lösungsangebot ist. Die angedeutete Nachhaltigkeitspoesie ist
mit einem Fragezeichen zu versehen, wenn der Roman historisch, wie schon
erwähnt, eine Triade, nicht eine Dyade entwirft, den Moment der Wiederkunft
der Idylle aber nicht kennt. Das dritte Stadium der Entwicklung nach Idylle und
Verheerung wird mit Blick auf die Rosa Blanca etwas versteckt, nämlich in
Kapitel 18 auf bloß zweieinhalb Seiten (cf. 218–221), aber dennoch klar
ausbuchstabiert. Dabei wird das Leiden der von der Hazienda vertriebenen
Bewohner eindringlich geschildert, diesem Leiden irritierenderweise aber
gegen subjektive Empfindungen eine objektiv positive Deutung beigegeben.
„Die Menschen hatten viel verloren und bei dem Verlust viel gewonnen“ (220).
Es wird daher ebenso knapp wie deutlich aus rein negativer Bewertung befreit
(cf. auch Körner/Pinkert 1984: 343). Der Verlust der Unmittelbarkeit und des
erd- und naturverbundenen Lebens soll hierbei kompensiert sein, indem eine
geistige Entwicklung proklamiert wird. Der Roman geht, konzeptionell diszipliniert,
dabei über die eher improvisiert und ziellos wirkenden Darstellungen
etwa bei Hauser hinaus. Die ehemaligen Bewohner_innen der Hazienda treten
bei Traven zwangsweise in die Moderne mit ihrer Intransparenz, Komplexität
und Dynamik ein, können hier aber heimisch werden und sogar neue menschliche
Entwicklungsstufen erklimmen. Es heißt:
Rein materiell betrachtet, waren alle Betroffenen jetzt besser für das
Leben im Allgemeinen gerüstet als vorher. Sie waren nicht mehr nur
die Bewohner eines kleinen Fleckchens Erde, wo sie nichts weiter von
der Welt und anderen Menschen wußten, als so weit ihr Auge den
Horizont sah. Sie wurden mehr und mehr Menschen, die bewußt in
einer großen Welt lebten, in einer größeren Heimat, in der
metaphorik.de 33/2023
168
mexikanischen Republik. Sie fühlten die Größe der Welt und den
Umfang menschlichen Zusammenarbeitens über die ganze Erde
hinweg. […] Sie fühlten das erste Keimen jenes Gedankens, daß alle
Menschen auf der Erde eine Einheit sind, alle eine große Bruderschaft
bilden. Sie sahen in den Filmen, […] was andere Menschen, weit
entfernt von hier, taten, wie sie handelten, wie sie dachten, wie sie
arbeiteten, wie sie liebten, wie sie ihre Kinder behandelten, wie sie
betrogen und schwindelten. […] Sie hörten dem Radio zu, das von
den amerikanischen Ingenieuren und Ölleuten in die Camps gebracht
wurde, sie hörten Musik und Worte aus anderen Ländern […]. Sie
trafen mit anderen Arbeitern zusammen, die aus anderen Staaten der
Republik kamen, die viel gesehen und viel erlebt hatten. So eröffnete
sich vor ihren körperlichen und geistigen Augen eine ganz neue Welt
[…]. Was Größeres kann der Mensch auf Erden gewinnen, als daß
seine Liebe zu den Menschen größer wird! (219 u. 221)
Nur knapp sei vermerkt, dass sich das Erzählerverhalten in Kapitel 18 im
Vergleich zu den zentralen Passagen, die die Rosa Blanca betreffen, verändert
ausnimmt. Die teils interne Fokalisierung ist einer deutlichen Nullfokalisierung
gewichen; nicht mehr einzelne, mit Namen und Individualität versehene
Figuren stehen im Zentrum, sondern ein unpersönliches Kollektiv; und die
Distanz des Erzählers zum Erzählten hat deutlich zugenommen, was sich in der
abstrakten Beschreibung großer Entwicklungen zeigt.
Hinter der zeittypischen, in der Weißen Rose gleichwohl überraschenden
Emphase stehen erneut Vorstellungen von Marx und Engels. Es geht um eine
Bewusstseinsbildung zur internationalen Solidarität und Revolution, zunächst
aber um eine generelle Weiterentwicklung, die sich im, durch eine neue
materielle Lebenswirklichkeit transformierten, Geistigen vollzieht. Ein Treiber
dieser Entwicklung ist erneut fossile Energie, und dies nicht nur, weil sie die
Bewohner der Rosa Blanca aus ihrem bisherigen Leben herausgezwungen hat,
sondern weil sie die Grundlage einer beschworenen Internationalisierung und
Vernetzung bildet. In Die deutsche Ideologie (1971a: 42f.) heißt es unter anderem:
Je weiter sich im Laufe dieser Entwicklung nun die einzelnen Kreise,
die aufeinander einwirken, ausdehnen, je mehr die ursprüngliche
Abgeschlossenheit der einzelnen Nationalitäten durch die ausgebildete
Produktionsweise, Verkehr und dadurch naturwüchsig
hervorgebrachte Teilung der Arbeit zwischen verschiedenen
Nationen vernichtet wird, desto mehr wird die Geschichte zur
Weltgeschichte […]. In der bisherigen Geschichte ist es allerdings
ebensosehr eine empirische Tatsache, daß die einzelnen Individuen
Susteck: Unmögliche Idylle
169
mit der Ausdehnung der Tätigkeit zur weltgeschichtlichen immer
mehr unter einer ihnen fremden Macht geknechtet worden sind […].
Aber ebenso empirisch begründet ist es, daß durch den Umsturz des
bestehenden gesellschaftlichen Zustandes durch die kommunistische
Revolution […] und die damit identische Aufhebung des
Privateigentums [...] die Befreiung jedes einzelnen Individuums in
demselben Maße durchgesetzt wird, in dem die Geschichte sich
vollständig in Weltgeschichte verwandelt.
Was hier steht, ist nicht bloß als Ausdruck einer politischen Vision interessant.
Es ist interessant, weil es Geschichte zu schreiben versucht und in die Zeit einen
Pfeil einträgt, der vorwärtsweist. Wie etwa auch in Passagen des Manifestes der
kommunistischen Partei von 1848 zeigen Marx und Engels eine Faszination für
geschichtliche – und dies heißt wesentlich kapitalistische und fossilenergetische
– Dynamik, die überraschen kann und sich auch bei Traven manifestiert.
Die Weiße Rose bleibt im Vergleich zum philosophischen Traktat dabei allerdings
polyvalent und die positive Annotierung des Lebens der Vertriebenen ist
nicht ihr Schlusswort. Sie verharrt vor der Schwelle zur kommunistischen
Revolution und gönnt tatsächlich noch die letzte Seite dem Triumph Collins’
und des Erdölkapitalismus über einzelne Menschen und ihre Schicksale, aber
auch über die ‘natürliche’ Welt. Dabei werden einerseits die im 18. Kapitel
formulierten Erzählerworte nicht revidiert oder vom Text des Romans explizit
in Frage gestellt. Andererseits aber wird deutlich markiert, dass die in der
Handlung dargestellte Triade kaum das Ende der Geschichte darstellen kann
und auf einen Zukunftshorizont offen ist oder zu öffnen bliebe. Das im Roman
genutzte triadische Narrativ wäre, so gesehen, ungeachtet seiner suggestiven
Kraft und Konventionalität nicht abgeschlossen.
Hinzuzufügen bleibt an dieser Stelle die Querung eines energetischen (Post-)
Kolonialismus, ohne den das bisher Gesagte unvollständig wäre. So gehört zu
den Ursachen der 1910 einsetzenden und bis in die 1930er Jahre reichenden
Mexikanischen Revolution (cf. Tobler 1984) die rohstoffbedingte ökonomische
Abhängigkeit Mexikos von den USA, die umliegende Staaten in ihre Einflusssphäre
zogen und die spanische Kolonisierung durch eine postkoloniale Abhängigkeit
ersetzten. „Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts“, konstatiert
Volker Depkat (2008: 103), „begann auch die ökonomische Durchdringung
Mexikos durch die US-Wirtschaft.“ – „Nach 1900 und zumal in den 1920er
metaphorik.de 33/2023
170
Jahren rückte dann die Ausbeutung der reichen mexikanischen Erdölvorkommen
ins Zentrum der Wirtschaftspolitik, sodass das Land im Jahr 1912 der
drittgrößte Erdölproduzent der Welt war“ (ibid.). Die sowohl in Hausers Brackwasser
als auch Travens Die Weiße Rose erkennbare Trabantenstellung Mexikos
und die bei Traven äußerst kritisch porträtierte imperiale Ausbeutung durch
die amerikanischen Erdölgesellschaften sollten durch Bemühungen korrigiert
werden, die Erdölvorkommen für die nationale Entwicklung Mexikos zu reklamieren.
Anders als Travens Roman teils suggeriert, war dieses Projekt jedoch
ebenfalls mit dem Gedanken idyllischer Subsistenzwirtschaft kaum vereinbar.
Der mexikanische Weg bzw. der der ‘mexikanischen Republik’, die das 18.
Kapitel aus Die Weiße Rose beschwört, ist bei Traven daher auch dann, wenn es
um die Emanzipation Mittelamerikas von postkolonialen Strukturen geht, ein
fossiler Weg über das Land der indigenen Bevölkerungsgruppen hinweg (cf.
Ngouebeng 1993: bes. 51 u. 62), womit Konflikte skizziert sind, die bis heute
andauern.6
Es kann beunruhigen, dass ein tragfähiges Narrativ der Nachhaltigkeit bei
Traven 1929 fehlt, Schritte in Richtung eines solchen Narrativs aber auch 2022
literarisch und gesellschaftlich nur bedingt gegangen scheinen. Es kann aber
auch eine Öffnung auf Komplexität bedeuten, die unterrichtlich thematisiert
wird.
2. Erschließung im Deutschunterricht
2.1 Die Ambivalenz der fossilen Moderne und Schritte ihrer
Erschließung mit Die Weiße Rose
Wendet man das Gesagte didaktisch, lässt es sich mit der schon benannten
Frage kurzschließen, wie Schüler_innen die Idylle der Hazienda bewerten und
in welchem Verhältnis die Vorstellungen von nachhaltiger Idylle zu ihren
Wahrnehmungsmustern und Lebensentwürfen stehen. Diese Frage stellt sich
umso mehr, als, wie bereits angesprochen, das Leben Jacintos und seiner
6 Traven, urteilt Manova (2021: 186), „propagierte […] eine regelrechte wirtschaftliche
Entfesselung der industriell lukrativen Rohstoffe und nahm darin sein politisches Engagement
literarisch wieder auf. Durch freie und für alle zugängliche Stoff- und Warenflüsse sollte eine
gerechtere Gesellschaft entstehen, die sich politisch zwischen dem Realkapitalismus und dem
Bolschewismus bewegen sollte“.
Susteck: Unmögliche Idylle
171
Mitbewohner, ja sein Charakter in den ausgedehnten Eingangspassagen des
Romans nicht ungebrochen positiv dargestellt werden. Die positive Sicht überwiegt
zweifellos und es fällt schwer zu glauben, Traven habe mit der Idylle der
Rosa Blanca nicht stark sympathisiert. Wichtige negative Aspekte der subsistenzwirtschaftlichen
Lebensweise werden entsprechend im Roman ausgeblendet
oder gar negiert.7 Dennoch kann man die Frage entwickeln, ob die
Idylle eine nachhaltige Lebensvision sein könnte oder auch, ob Schüler_innen
so leben wollten.
Möchte man sich auf die genannten Aspekte einlassen, wäre zunächst zu
erfassen, dass der Roman in einer Weise, die keinesfalls von Traven erfunden
ist, sondern mindestens ins 19. Jahrhundert zurückweist, ganzheitliche Gesellschafts-
und Weltzustände zeichnet, in denen sich, wie gesehen, energetische,
ökologische, soziale und kulturelle Aspekte verbinden. Dabei gehört es zur
hintergründigen Tücke von Travens Roman, in den ersten beiden Stadien, die
das triadische Narrativ darstellt, die Frage von Ökologie und sozialer Kohäsion
engzuführen – was keineswegs selbstverständlich ist –, diese Engführung aber
in Stadium drei infrage zu stellen. Zwar wird gezeigt, wie die Hazienda nicht
bloß menschlich, sondern auch ökologisch befriedigt und wie mit ihrer
Zerstörung das Leben ihrer Bewohner_innen erschüttert wird und sie teils zu
faktischen Sklaven degradiert sind. Zugleich aber bestätigen die in Kapitel 18
eingeschlossenen positiven Bewertungen der Entwicklung das knappe Diktum
Marx’ und Engels, „daß man die Sklaverei nicht aufheben kann ohne die
Dampfmaschine oder die Mule-Jenny“ (1971a: 54). Die enorme emanzipatorische
Kraft fossiler Energie (cf. Klose/Steininger 2018, 2020) ist in Travens
Narrativ daher unterschwellig enthalten, das damit die Ambivalenz der fossilen
Moderne als Problem und Herausforderung ausweist. Ungelöst bleibt entsprechend,
dass soziale Emanzipation hier nicht als nachhaltig modelliert
werden kann. Schon allein die Setzung eines primär ökologischen Akzents im
Unterricht ist in diesem Zusammenhang nicht selbstverständlich, und zwar
nicht nur aufgrund von Sehgewohnheiten der Didaktik und Literaturwissenschaft,
sondern aufgrund der Tatsache, dass in der langen Geschichte
7 Anders, als der Roman behauptet, ist ein Wachstum der Gemeinschaft und ihre nahezu
schrankenlose Ernährung (cf. 12, 28) unter den Bedingungen dieser Lebensweise kaum
möglich und erst Errungenschaft der fossilen Welt; ausgeblendet bleibt generell das Problem
potenziell instabiler Ernährung, die Gefahr von Missernten usw.
metaphorik.de 33/2023
172
ökologischer und sozialer Entwicklungen eine fast selbstverständliche Privilegierung
des Sozialen Tradition hat (cf. Latour 2008, 2018).8
Um die Besonderheiten des Travenschen Narrativs unterrichtlich herauszuarbeiten,
kann der Logik des Romans insofern gefolgt werden, als zunächst das
Schüler_innen keinesfalls überraschende zweischrittige Narrativ erfasst wird,
das das Haziendaleben und seine Auflösung darstellt und daraus einen Kontrast
zwischen Idylle und Zerstörung entwickelt. Hierbei geht es automatisch
nicht nur um Travens Text, sondern um mächtige kulturelle Vorstellungen, die
in immer neuen Spielarten aktualisiert werden. In einem zweiten unterrichtlichen
Schritt lässt sich das Narrativ zur Triade ergänzen, was scheinbar
einfache Wertungen unterläuft und in Zweifel zieht. Dabei wäre zunächst das
zentrale Kapitel 18 überhaupt in seiner Bedeutung zu erkennen und zu erfassen,
dass das hier Gesagte ernst genommen werden muss. In einem dritten Schritt
ließe sich ein weites Feld gestriger wie heutiger Zukunftsfragen öffnen, die
ungelöst und Gegenstand der Debatte sind. Dies setzt die schon angesprochene
Erkenntnis voraus, dass die geschichtliche Entwicklung bei Traven –
womöglich überraschenderweise – mit der Triade nicht beendet ist. Die im
Folgenden entworfenen, sehr skizzenhaften und nur als Anregung verstandenen
Unterrichtsüberlegungen gehen davon aus, dass die Schritte eins
und zwei in zwei bis drei Unterrichtsstunden gegangen werden könnten,
während Schritt drei erhebliche Spielräume eröffnet, die unterschiedlich
ausgeschritten werden können.
2.2 Schritt eins: Das Leben auf der Hazienda und sein Gegenbild
Mit Blick auf das Narrativ der Idylle und ihrer Auflösung lassen sich im ersten
Schritt die sozial-ökologisch integrierte, besondere Lebensweise der Hazienda
sowie ein Gegenbild dieser Lebensweise herausarbeiten, das der Roman mit
entwickelt. Dies ist offensichtlich in sehr unterschiedlichen methodischen
Arrangements möglich. So kann eine Arbeit am Text zunächst dazu dienen,
8 So versucht Ngouebeng (1993: 62–64) auf interessante Weise zu trennen, was Traven an der
indianischen Kultur skeptisch sah (wirtschaftshemmende Mentalität, Separierung in
Exklaven) und was er bewahrenswert fand (Organisation des Zusammenlebens, Solidarität).
Hier wird die Auseinandersetzung mit der indianischen Existenz als rein soziale Auseinandersetzung
gezeichnet, die keinerlei ökologische Seite hat.
Susteck: Unmögliche Idylle
173
überhaupt zu erkennen, was positiv und was negativ bewertet wird. Dem kann
beispielsweise die folgende Textpassage zugrunde gelegt werden:
Alles das sah Jacinto jetzt so, als sähe er es zum ersten Male in seinem
Leben. Nie vorher hatte er das Singen der Rosa Blanca so vollendet
gehört wie jetzt. Und nie vorher hatte er so stark gefühlt, daß er der
Kern des Ganzen hier war, daß, wenn er sich hier von seiner Verantwortlichkeit
lösen würde, dann alles zusammenbrechen müßte. Die
Familien würden sich zerstreuen, uralte Bande würden zerrissen
werden, der Sohn würde seinen Vater nicht mehr kennen, der Neffe
nicht mehr seinen Onkel. […] Die Rosa Blanca wird gleich sein der
Fabrik, in der der Vater arbeitet in der Stadt. Etwas Notwendiges, aber
etwas, zu dem man keine persönliche Beziehung hat. Man wird
wechseln von Ort zu Ort, um Arbeit zu finden, um Leben zu können.
Nichts wird mehr sicher sein. Heute ein guter Lohn, morgen ohne
Arbeit. Die Rosa Blanca hatte immer Arbeit, immer Nahrung, solange
die Sonne aufgeht und untergeht. […] Nahrung allein wird die Fabrik
sein, das Ölcamp, die Kupfermine, die Textilfabrik, wo alle Arbeiter
Nummern sind und alle Nummern haben, die am Abend beim
Verlassen der Fabrik an einer Tafel aufgehängt werden.
Wo einst die Orangen- und Zitronenbäumchen standen, wo einst die
Kronen der Papayabäume sich in der flirrenden Luft wiegten, um ihre
reifenden Früchte in der Sonne zu baden, wo einst die grünen Maisfelder
waren und wo sich die Stauden im Reifen der goldenen Kolben
ihre ewigen Märchen zuwisperten, da stöhnten und ratterten jetzt
fauchende Lastautos mit stählernen Raupenbändern mitleidlos über
die gequälte Erde […]. Ein Gewirr von eisernen Rohren überzog die
Felder. Und darüber war ein Netz von Lichtkabeln und Telephondrähten
(31f.).9
Denkbar wäre eine Arbeit im Think-Pair-Square-Share-Verfahren, wobei
zunächst an die einzelnen Schüler_innen der Textauszug und die vergleichsweise
offene Aufgabe ausgegeben wird: Lesen Sie den Text und überlegen Sie: Was
wird hier positiv, was negativ bewertet? Anschließend wird in Partnerarbeit die
Aufgabe gestellt:
9 Der Textauszug ließe sich deutlich erweitern. Eine alternative oder ergänzende Passage
findet sich, wo der Gouverneur die Hazienda besucht (cf. 155–161). Hier wird ihm
interessanterweise die Hazienda zu einer „völlig neue[n] Welt“ (161), wie an anderer Stelle die
Erdölmoderne für die Bewohner der Hazienda zur ‘neuen Welt’ avanciert (cf. u.).
metaphorik.de 33/2023
174
Arbeitsblatt für die Phase der Partnerarbeit:
Tauschen Sie sich knapp über Ihren Textauszug aus. Finden Sie gemeinsam drei
Dinge, die positiv beschrieben, sowie drei Dinge, die negativ beschrieben
werden, und halten Sie sie fest:
Positiv Negativ
1. 1.
2. 2.
3. 3.
Tab. 1: Partner_innenarbeit
Für den Unterricht wäre hier relevant, dass unterschiedliche Lösungsvorschläge
auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen möglich sind, was
unterschiedlichen Schüler_innenfähigkeiten entgegenkommt. Zu betonen ist
die inzentive Funktion des kurzen Arbeitsblattes, indem es nicht bloß ausgefüllt
werden soll, sondern dem Austausch und der Verständigung über Lösungen
Bedeutung zukommt. Positive und negative Aspekte müssen zudem noch nicht
in Form von Oppositionspaaren auftreten, obwohl entsprechende Lösungen
naheliegend sind.
Im Anschluss an die Partnerarbeit fänden sich jeweils zwei Schüler_innenpaare
zu Vierergruppen zusammen. Zwischenzeitlich sind durch die Lehrperson eine
Reihe von Oberbegriffen auf Moderationskarten sichtbar gemacht worden,
unter denen sich gedankliche und begriffliche Oppositionen des Textes fassen
lassen. Nach wechselseitiger Präsentation der Ergebnisse aus der vorangegangenen
Arbeitsphase wählt jede Arbeitsgruppe eine Karte aus und ergänzt zum
Oberbegriff ein oppositionelles Begriffspaar, was eine erneute Diskussion auf
gesteigertem Anforderungs- und Abstraktionsniveau bedeutet, die Text- und
Formulierungsdiskussion ist. Die Ergebnisse werden gesammelt und von
Gruppen exemplarisch präsentiert und erklärt. Sie können anschließend auf
verschiedene Weisen präzisiert, korrigiert, erweitert oder problematisiert
werden.
Entsprechende – ggf. zu ergänzende – Oberbegriffe mit lediglich exemplarischen
Lösungen, bei denen die positiv besetzten Vorstellungen links, die
negativen rechts stehen, könnten etwa sein:
Susteck: Unmögliche Idylle
175
Orte des Lebens Rhythmus des Lebens
Hazienda/Rosa
Blanca
Fabrik/Stadt Gleichförmiges
Leben/
zyklisches
Leben
Unstetes
Leben/
wechselhaftes
Leben
Beziehungen Menschengruppen
Familienbeziehungen/
Verwandtschaftsbeziehungen
Unpersönliche
Beziehungen/
Fremdheit
Familie (Wechselnde)
Arbeiterschaft
Arbeit Lohn
Persönlich
bedeutsame,
sinnerfüllte
Arbeit/sichere
Arbeit
Bloß notwendige
Arbeit/unsichere,
stets wechselnde
Arbeit
Nahrung Geld
Bild des Menschen Mobilität
Individuelle
Persönlichkeit
Nummer Leben an einem
Ort
Häufiger
Ortswechsel
Landschaften Bebauung des Landes
Agrarische
Landschaft/
‘natürliche’
Landschaft
Industrielle
Landschaft/
Fördergebiet für
Erdöl
Bebauung mit
Pflanzen
Bebauung mit
Technik (Rohre,
Kabelmasten)
Klänge Lebensziele
Singen, Wispern Stöhnen und
Rattern
Glück/ Sinn Überleben/
Gewinn
Zustand der Erde Persönliche Zukunft
Fruchtbar ‘Gequält’ Sicher/
vorhersehbar
Unsicher/undurchschaubar
Tab. 2: Positives und negatives Leben nach Oberbegriffen
Zu den interessanten Aspekten der derart ermittelten Ergebnisse dürfte
gehören, dass das durch die linksseitigen Begriffe repräsentierte positive Bild
sympathisch und hochgradig zustimmungsfähig wirkt. Es handelt sich um ein
kulturelles Konstrukt nicht nur lebensförmig, sondern nachgerade moralisch
positiver Empfohlenheit, was auch dadurch nicht aufgebrochen wird, dass es
bei einzelnen Schüler_innen Opposition auslösen mag und von Schüler_innen
in der Regel nicht gelebt werden dürfte. Dabei gilt für die ausgewertete
metaphorik.de 33/2023
176
Textstelle zwar, dass die jeweils links stehenden Begriffe mit einer (bedrohten)
Gegenwart verknüpft sind, während die rechts stehenden Begriffe einer
drohenden Zukunft zugewiesen werden, die es abzuwehren gilt. Zugleich
freilich geht es um grundsätzliche Wertungen im Jetzt, da die Zustände, die von
der Rosa Blanca ferngehalten werden sollen, im Umfeld bereits existieren.
2.3 Schritt zwei: Das triadische Narrativ und seine Implikationen
Die vordergründige Schlichtheit der Verhältnisse ändert sich, wenn man im
zweiten Schritt Kapitel 18 des Romans hinzuzieht, aus dem eine zentrale – leicht
erweiterbare – Passage oben zitiert wurde. Hier versucht der Erzähler zwar
nicht, das idyllische Bild direkt in Zweifel zu ziehen. Er ist aber dennoch damit
befasst, es positiv zu überschreiben und zu überbieten. Mag die Rosa Blanca ein
attraktives Lebensmodell verkörpern, wäre die Botschaft, gibt es noch weitere
potenziell attraktive Modelle mit größerer Zukunftsfähigkeit. Legt man die
positiven Attribute der zuletzt entworfenen Tabelle zugrunde, zeigt sich dabei,
dass Schüler_innen mithilfe der Textpassage aus Kapitel 18 die moderne
Alternative zum Haziendaleben gut erfassen können. Nicht in allen Fällen, aber
in vielen lassen sich Überschreibungen in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit
entwickeln (rechte Spalte).
Orte des
Lebens
Hazienda/Rosa
Blanca
Große Welt/Mexikanische
Republik
Rhythmus des
Lebens
Gleichförmiges Leben Neuheit und Entdeckung
Beziehungen/
Menschengruppen
Familienbeziehungen,
Verwandtschaftsbeziehungen/
Familie
Menschliche Bruderschaft
Arbeit Sinnerfüllte Arbeit
Lohn Nahrung Materielle Besitztümer
Bild des
Menschen
Individuelle
Persönlichkeit
Individuelle Persönlichkeit
wachsenden Bewusstseins
Mobilität Leben an einem Ort Leben auf der Erde (global bzw.
global vernetzt)
Landschaften Agrarische Landschaft Technische Landschaft
Bebauung des
Landes
Bebauung mit
Pflanzen
Technologische Ausstattung
Susteck: Unmögliche Idylle
177
Klänge Singen (des
Haziendalebens),
Wispern
Klänge aus Nah und Fern
Lebensziele Glück Erweiterte Menschenliebe
Zustand der
Erde
Fruchtbare Erde
Persönliche
Zukunft
Vorhersehbare
Zukunft
Neue Welt
Tab: 3: Leben auf der Hazienda vs. Leben in der Erdölmoderne
Die rechts aufgeführten Begriffe müssen teils aus dem Text inferiert werden
und haben zudem – wie in Zeile zwei ‘Rhythmus des Lebens’ oder Zeile acht
‘Landschaften’ – eine vergleichsweise große Nähe zu zuvor negativ besetzten
Begriffen. Sie sind nun aber positiv konnotiert, was zuallererst erkannt werden
muss. Überhaupt gibt die Tabelle eine noch recht schematische Vorstellung von
teilweise anspruchsvollen Konstrukten, sodass sie primär einen heuristischen
Wert im Unterricht hätte. Hierzu müssen die beiden unterschiedlichen positiven
Lebensmodelle auf der Basis der tabellarisch entwickelten Aspekte miteinander
konfrontiert werden. Dies könnte in Form von Diskussionsformaten
geschehen, in denen Vertreter_innen des Hazienda- und solche des neuen
Lebens aufeinandertreffen. Auch Schreibübungen der Handlungs- und
Produktionsorientierung sind jedoch denkbar, wie etwa das Verfassen eines
Briefes, den ein in die Stadt verschlagener ehemaliger Bewohner der Rosa
Blanca Verwandten schreibt und in dem er das neue Leben positiv vertritt. In
diesem Schritt ginge es um ein vertieftes Verständnis der im Roman vorkommenden
Positionen durch Übernahme von Rollen, also noch nicht um eine
persönliche Positionierung der Schüler_innen.
Im Anschluss daran kann erschlossen werden, wie beide Positionen von den
Schüler_innen bewertet werden und inwiefern Schüler_innen die Perspektiven
des Kapitels 18 von Die Weiße Rose im Romanzusammenhang und persönlich
überzeugend finden. Hier ist sicherlich ein analytischer Unterrichtszugriff im
Rahmen eines plenaren argumentativen Gesprächs sinnvoll, das gegebenenfalls
in Kleingruppen vorbereitet sein kann. Was den Roman betrifft, darf nicht
übersehen werden, dass der Eindruck, den Kapitel 18 erzeugt, weder alle
Probleme auflöst, die der Text adressiert, noch dass er im Roman das letzte Wort
darstellt. Wie schon erwähnt, endet der Text vielmehr dystopisch. Der Roman
wirft daher letztlich über das entworfene triadische Schema die Frage nach
metaphorik.de 33/2023
178
einer besseren Zukunft auf, die jedoch keine Kontur erhält. In ihr müssten sich
eigentlich die fossilenergetisch bedingten zivilisatorischen Fortschritte mit Dekolonisierung,
gesundheits- und lebensschonenden Arbeitsbedingungen und
ökologischer Nachhaltigkeit verbinden. Im Kontext der 1920er und 30er Jahre
konnten Traven-Leser_innen diese Kontur teilweise aus dem Vorstellungshaushalt
Marxscher und Engelscher Theorie ableiten, aber auch heutige
Schüler_innen dürften Vorstellungen haben, die solcher Konturierung – wie
vage auch immer – dienen können.
Auffällig ist auch, dass die sozial-ökologische Integration des subsistenzwirtschaftlichen
Zustands – wie schon oben besprochen – von Traven in Schritt
drei des Narrativs nicht wiedergewonnen wird, wo die Frage nach ökologischer
Zerstörung ganz hinter soziale Aspekte zurückfällt, wie sich unterrichtlich bei
entsprechender Planung ausschärfen ließe. Traven bemüht sich daher zwar, das
positive Leben auf der Hazienda durch eine neue Lebensvision positiver Art zu
überschreiben, doch schließt diese Vision keine ökologische Nachhaltigkeit
mehr ein.
Triadisches Narrativ Zukunft
Idylle subsistenzwirtschaftlichen
Haziendalebens
Zerstörung der
Idylle,
Vertreibung und
Verheerung
Neues Leben auf
erhöhter Stufe
des Bewusstseins
und der
Zivilisation
?
Negativ:
Beschränkte
Existenz
Negativ:
Zerstörte Landschaft,
Arbeitsbedingungen,
die
über das einzelne
Menschenleben
hinweggehen…
Tab. 4: Triadisches Narrativ und offene Zukunft
Was die persönlichen Einschätzungen von Schüler_innen betrifft, dürfte, unabhängig
von den Sympathien, die sie dem Haziendaleben zumessen, die Kontur
der modernen Welt aus Kapitel 18 jene sein, die ihr eigenes Leben oft am besten
erfasst. Dies schließt aber nicht aus, Entwicklungsaufgaben zu erkennen, die der
Roman bereits sehr deutlich markiert und die heute etwa über das UNProgramm
der ‘Bildung für nachhaltige Entwicklung’ auch den Schulen gestellt
Susteck: Unmögliche Idylle
179
sind (cf. Kultusministerkonferenz 2017; Nationale Plattform Bildung für
nachhaltige Entwicklung 2020: 23–39 u. 44–47). Was Traven schon 1929 entwirft,
ist eine vertrackte Situation, die gerade unter ökologischen Aspekten weder
Endpunkt sein, noch durch einfache Rückkehr zu einem Davor remediert
werden kann.
2.4 Schritt drei: Erweiterungen
Ist dieses Reflexionsstadium erreicht, öffnet sich in einem dritten Schritt mit
dem Roman und durch den Roman ein potenziell weites Arbeitsfeld. An seinem
Grund liegt die hohe Ambivalenz der fossilenergetischen und speziell durch
das Erdöl ermöglichten Modernisierung (cf. Klose/ Steininger 2020), die einerseits
Phantasien einer Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft als unrealistisch
erkennbar macht bzw. solche Rückkehr nur als Ausnahme ermöglichen könnte,
andererseits aber einen kritischen Schwellenbereich erreicht hat, in dem globale
wie regionale ökologische Krisen größten Ausmaßes drohen, ja tatsächlich
schon deutlich fortgeschritten sind. Diese Ambivalenz zuallererst zu erfassen
und in ihr ein dringendes Problem zu erkennen, wäre ein Lernziel im Umgang
mit Travens Roman. Dabei wird ersichtlich, dass die fossilenergetische
Moderne durch große (selbst-)destruktive Kräfte geprägt ist, aber zugleich
fossile Energie und speziell die Verfügbarkeit von Erdöl in zunehmend
größeren Teilen der Welt einen hohen zivilisatorischen und emanzipatorischen
Lebensstandard erzeugt haben, was die Frage nach der Zukunft schwierig und
komplex macht.
Ungeachtet der Tendenzen in Richtung des erzählenden Sachbuchs ist der
Roman für Diskussionen gerade deshalb geeignet, weil er in seiner literarischen
Struktur eine Lebensweltnähe erzeugt, die den Zugang zu abstrakten Problemen
auch über die Imagination konkreter Situationen und Schicksale bahnt.
Damit sind in ihm Polyvalenzen und Unschärfen angelegt, die der Komplexität
gegenwärtiger Herausforderungen besonders angemessen scheinen und
Schüler_innen einen Zugriff ermöglichen, der aus alltagsähnlichen, aber kulturell
zugerichteten Szenarien in abstrakte Problemlagen hineinführt. Dies
bedeutet auch, affektive Lagen, Bedürfnisse und Wünsche fiktiver Figuren in
die eigene Weltwahrnehmung aufzunehmen.
Es ist evident, dass im Ausgang von Travens Roman sehr unterschiedliche
Weiterplanungen von Unterricht möglich sind. Dies betrifft nicht nur eine
metaphorik.de 33/2023
180
mögliche interdisziplinäre Erweiterung, sondern auch die Nutzung von
Sachtexten oder weiteren Medien. Hier sind multiple Verbindungen zu
Interessen des Deutschunterrichts möglich, die etwa die Sachtextanalyse oder
die Schreib- und Prüfungsform materialgestützten Schreibens einschließen. Zur
Veranschaulichung der Dynamik, aber auch Destruktivität der Fossil- und
Erdölmoderne bieten sich Filme an, wie etwa die Filmdokumentation Weltstadt
in Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago (1931) des eingangs thematisierten erdölinteressierten
Hauser. Einen konzeptionellen Rahmen (inter-)disziplinären
Unterrichts bietet das Programm der ‘Bildung zur nachhaltigen Entwicklung’
mit seinen 17 Entwicklungszielen. Die Rolle des Literaturunterrichts kann dabei
kaum darin bestehen, technische und politische Lösungen gegenwärtiger
Herausforderungen zu entwerfen (was freilich nicht verdecken sollte, dass
solche Lösungen teils existieren, teils in Entwicklung sind). Ein Bewusstsein für
diese Herausforderungen und ihre Komplexität, aber auch ihre kulturellen und
affektiven Dimensionen zu erzeugen, kann mithilfe der Literatur aber gerade
geschehen. Die Weiße Rose zeigt dabei, dass die Literatur in ihrem erzählerischen
Reichtum auch Themenfelder narrativ erfasst, welche bislang im Deutsch- und
allgemeinen Sprachunterricht und der Didaktik randständig sind.
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Film
R.: Hauser, Heinrich (1931): Weltstadt in Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago.

Scale, Latency, Entanglement: Wege zur Klimakompetenz durch kreative Kommunikationen

Roman Bartosch

Universität Köln (roman.bartosch@uni-koeln.de)

Abstract

Ein Blick in einschlägige curriculare Handreichungen und internationale Publikationen zu Kompetenzen und nachhaltigkeitsorientierten literacy-Konzepten hinterlässt den Eindruck, dass es in der Nachhaltigkeitsbildung primär um ein Verständnis klimawissenschaftlicher Fakten, klimabewusste Einstellungen und klimaschützendes Verhalten gehe. Und dennoch führt die Forschung zur Klimawandelkommunikation und zur nachhaltigkeitsorientierten Kommunikationspsychologie immer wieder an, dass es notwendig sei, kreative Formen der Kommunikation zu entwickeln. Diese Forderung wird im Beitrag aufgegriffen und literaturdidaktisch konturiert, um die Rolle und das Potenzial von Literatur jenseits eines instrumentalisierenden Verständnisses herauszustellen. Anhand der Begriffe des Narrativs und der Metaphern entwickelt der Beitrag einen didaktischen Zugang, der es erlaubt, ‘kreative‘ Erzählformen angemessen in nachhaltigkeitsbildende Kontexte zu integrieren. Spezifisch fokussiert er auf immer wieder genannte narrative sowie kognitiv-analytische Herausforderungen des Klimawandels, die mit Ausmaß (scale), Latenz (latency) und der komplexen Verquickung unterschiedlichster Elemente des menschlichen und nichtmenschlichen Lebens (entanglements) umschrieben werden können.

International publications and curricula indicate that concepts of sustainability literacy are mainly concerned with facts provided by climate science as well as attitudes and patterns of behavior supporting climate protection. At the same time, research in climate communication has repeatedly shown the necessity to invest in more creative forms of engaging with climate change. The paper addresses this necessity and discusses it with regard to the teaching of literature. It aims at pointing out the role of literature beyond a merely instrumental approach. Focussing on the concepts of narrative and metaphor, the paper develops an educational perspective that allows for the integration of creative forms of narration into the context of sustainability. At its center lie narrative and cognitive-analytical challenges of climate change that can be identified as challenges of scale, latency and entanglements, i.e., the complex interplays of human and non-human life.

Ausgabe: 

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Jahrgang: 

Seite 275

275
Scale, Latency, Entanglement: Wege zur Klimakompetenz
durch kreative Kommunikationen
Roman Bartosch, Universität Köln (roman.bartosch@uni-koeln.de)
Abstract
Ein Blick in einschlägige curriculare Handreichungen und internationale Publikationen zu
Kompetenzen und nachhaltigkeitsorientierten literacy-Konzepten hinterlässt den Eindruck,
dass es in der Nachhaltigkeitsbildung primär um ein Verständnis klimawissenschaftlicher
Fakten, klimabewusste Einstellungen und klimaschützendes Verhalten gehe. Und dennoch
führt die Forschung zur Klimawandelkommunikation und zur nachhaltigkeitsorientierten
Kommunikationspsychologie immer wieder an, dass es notwendig sei, kreative Formen der
Kommunikation zu entwickeln. Diese Forderung wird im Beitrag aufgegriffen und literaturdidaktisch
konturiert, um die Rolle und das Potenzial von Literatur jenseits eines instrumentalisierenden
Verständnisses herauszustellen. Anhand der Begriffe des Narrativs und der
Metaphern entwickelt der Beitrag einen didaktischen Zugang, der es erlaubt, ‘kreative‘
Erzählformen angemessen in nachhaltigkeitsbildende Kontexte zu integrieren. Spezifisch
fokussiert er auf immer wieder genannte narrative sowie kognitiv-analytische Herausforderungen
des Klimawandels, die mit Ausmaß (scale), Latenz (latency) und der komplexen Verquickung
unterschiedlichster Elemente des menschlichen und nichtmenschlichen Lebens
(entanglements) umschrieben werden können.
International publications and curricula indicate that concepts of sustainability literacy are
mainly concerned with facts provided by climate science as well as attitudes and patterns of
behavior supporting climate protection. At the same time, research in climate communication
has repeatedly shown the necessity to invest in more creative forms of engaging with climate
change. The paper addresses this necessity and discusses it with regard to the teaching of
literature. It aims at pointing out the role of literature beyond a merely instrumental approach.
Focussing on the concepts of narrative and metaphor, the paper develops an educational
perspective that allows for the integration of creative forms of narration into the context of
sustainability. At its center lie narrative and cognitive-analytical challenges of climate change
that can be identified as challenges of scale, latency and entanglements, i.e., the complex
interplays of human and non-human life.
1. Einleitung
Ian McEwans Roman Solar (2010) zählt zu den populärsten (Schneider-
Mayerson 2018), wenn auch nicht unumstrittenen (Garrard 2013) Klimawandelromanen.
Das Genre des Klimawandelromans, auch Cli-Fi genannt, ist
beliebt und wächst stetig, weshalb es berechtigt erscheint, sich dort auf die
Suche nach Metaphern und Narrativen zur Nachhaltigkeit zu machen. Wie
Sylvia Mayer schreibt,
metaphorik.de 33/2023
276
nutzt [der Klimawandelroman] das Experimentierfeld der Fiktion,
um sich mit der konkreten Erfahrung des anthropogenen Klimawandels,
seinen Ursachen und seinen bereits realen wie in Zukunft
möglichen Auswirkungen auseinanderzusetzen (Mayer 2015: 234).
Fragt man nach der genauen Art und Weise dieser Auseinandersetzung und
damit auch nach möglichen Erwartungen an den didaktischen Wert dieser Art
von Literatur, wird oft betont, der Klimawandelroman könne „durch seine
inhaltliche wie formale Gestaltung das Lesepublikum nicht nur intellektuell,
sondern auch emotional-affektiv erreichen“ (ibid.). Diese Doppelfunktion ist
nicht zuletzt bedeutsam, wenn man bedenkt, dass Stimmen aus dem Feld der
Klimawandelkommunikation seit einigen Jahren betonen, dass die Strategie der
Faktenvermittlung im Falle des anthropogenen Klimawandels aus verschiedenen
Gründen an ihre Grenzen stoße und es anderer, eben auch emotional
bedeutsamer und mitunter „kreativer“ Formen der Kommunikation bedürfe
(Boykoff 2019).
Auch in der pädagogischen bzw. fachdidaktischen Diskussion zur Nachhaltigkeitserziehung,
dem Globalen Lernen oder auch der Klimakompetenz wird die
Balance zwischen Faktenwissen und Emotionen bzw. Werten und Haltungen
thematisiert (cf. Volkmann 2012). Weniger klar ist, wie genau Romane diese
Balance halten und wie dies nun zu den gewünschten Lerneffekten führt. Dies
gilt vor allem, wenn man bedenkt, dass Kompetenz- und Literacy-Modelle in
diesem und anderen Bereich zuvörderst auf Handlungen und Entscheidungen
abzielen, die aufgrund von Lernerfahrungen initialisiert werden sollen (cf.
Bartosch 2021). Auch deshalb lohnt ein kursorischer Blick in einen repräsentativen
Roman wie Solar.
Eine Schlüsselszene behandelt einen Dialog zwischen dem ‘Helden‘ (bzw. Anti-
Helden) des Romans, Michael Beard, und seinem Geschäftspartner. Beard ist
ein Physiker, der seit seinem Nobelpreis kaum noch relevante Forschung betrieben
hat, im Laufe der Erzählung aber zu einer Schlüsselfigur in der Entwicklung
nachhaltiger Energietechnologie avanciert, nachdem er seinem Mitarbeiter eine
Forschungs-Idee gestohlen (und den Mitarbeiter unwillentlich umgebracht)
hat. Sein Geschäftspartner, Toby Hammer, konfrontiert Beard nun eines Tages
mit seinen Sorgen, den Klimawandel gebe es vielleicht gar nicht, nachdem er
im Fernsehen eine entsprechende Diskussion verfolgt hat. Beard versucht ihn
zu beruhigen, und der Dialog der beiden ist auf mehrere Weisen aufschlussreich:
Bartosch: Scale, Latency, Entanglement
277
Here’s the good news. The UN estimates that already a third of a
million people a year are dying from climate change. Bangladesh is
going down because the oceans are warming and expanding and
rising. […] There’s a meltdown under the Greenland ice sheet […]
Now the eastern Antarctic is going. The future has arrived, Toby
(McEwan 2010, 217).
Toby Hammer ist nach wie vor verunsichert und verweist auf die klimaskeptischen
Stimmen in der TV-Diskussion, woraufhin Beard fragt:
„What’s wrong with you? Trouble at home?“
„Nothing like that. Just that I put in all this work, then guys in white
coats come on TV to say the planet’s not heating. I get spooked.“
Beard laid a hand on his friend’s arm, a sure sign that he was well
over his limit. „Toby, listen. It’s a catastrophe. Relax!“ (ibid.)
Es wäre zu fragen, welche Art von wissenschaftlichen Informationen hier und
an anderen Stellen im Roman auf welche Weise vermittelt werden. Auch ist zu
diskutieren, ob Informationen und Emotionen auf eine Art vermittelt werden,
die nachhaltiges Verhalten begünstigt, oder ob nicht vielmehr eine Art von
Verständnis von Klimawandel und Klimawandeldiskursen angeregt wird, die
sich mit bisherigen Ideen von Klimakompetenz nicht einfach zur Deckung
bringen lassen, dafür aber spezifischer auf den Eigenwert und die Eigenlogik
von fiktionalen Narrativen bezogen werden können. Im Folgenden möchte ich
daher die Frage stellen, was wir eigentlich unterrichten, wenn wir einen Text
wie Solar oder allgemeiner Cli-Fi unterrichten; in anderen Worten: was uns
Literatur lehren kann. Dabei ist zu zeigen, dass fiktionale Narrative – nicht
zuletzt durch ihre Metaphorik, die ich im vorliegenden Beitrag anhand der
Begriffe von scale, latency und entanglement beschreiben will – einen innovativen
und eigenständigen Beitrag zum Verständnis von Klimadiskursen leisten. In
einem nächsten Schritt möchte ich meine Beobachtungen und Überlegungen im
Rahmen aktueller Debatten zur Nachhaltigkeitsbildung und zum literarischen
Lernen positionieren und argumentieren, dass eine spezifisch auf die Besonderheiten
von Literatur abzielende Idee von Climate Change Literacy besser in der
Lage ist als bestehende Konzepte, die Rolle und das Potenzial von literarischem
und sprachlichen Lernen in seiner Eigenart und damit seinem Wert herauszustellen.
metaphorik.de 33/2023
278
2. Klimakompetenz und literarisches Lernen: Was lehrt Literatur?
Um ein genaueres Verständnis davon zu erlangen, welchen Bildungsgehalt
Literatur im Kontext von Nachhaltigkeits- und Klimadebatten anzubieten
vermag und wie diese Frage mit der Spezifik von literarischer Narrativik
verknüpft ist, lohnt ein erneuter Blick auf den in der vorherigen Sektion
zitierten Dialog zwischen Michael Beard und Toby Hammer. Zwei Dinge fallen
besonders ins Auge: Zum einen werden in der Tat klimabezogene Informationen
vermittelt. Mit Bezug auf die Vereinten Nationen (und an anderer
Stelle explizit auf den Weltklimarat) werden Meeresspiegelanstieg, Polarschmelze
und allgemeiner die Klimaerwärmung erwähnt. Dies geschieht jedoch
in der Figurenrede des durchweg unsympathischen und unehrlichen Michael
Beard, sodass kein Identifikationsangebot gemacht und daher auch keine
Vorbildfunktion suggeriert wird, die einladen würde, sich diesen Informationen
gemäß zu verhalten. Im Gegenteil verweist die letzte Aussage des
Dialogs („It‘s a catastrophe. Relax!“) darauf, dass die dramatischen und
katastrophalen Entwicklungen von Beard als gute Nachricht gelesen werden,
da sie das Geschäftsmodell der beiden unterstützen. Weder bietet der
literarische Text hier also einfach Informationen an, noch vermittelt er Wissen
durch Rollenvorbilder oder emotionale Angebote zur Identifikation. Vielmehr
ironisiert er die Vorstellung einer Heldenfigur und verkompliziert die Idee
nachhaltiger Transformation durch das Motiv eines Geschäftsmodells, das
gerade eben von der Katastrophe und nicht etwa ihrer Abwendung lebt.
Dies bringt mich zur zweiten Beobachtung: Im zweiten Teil des Dialogs wird
die Komplexität noch einmal erhöht, indem verschiedene Diskurszusammenhänge
und ihre mediale Verzerrung thematisiert werden. Die Sorgen des
Geschäftsmannes und dessen Klimaskepsis werden als potenzielles Resultat
häuslichen Ärgers verortet („Trouble at home?“), was das oft de-personalisierte
bzw. de-individualisierte Bild von Akteuren im Nachhaltigkeitskontext korrigiert
und gleichzeitig banalisiert. Damit folgt der Roman einer Strategie des
reframing wissenschaftlicher Arbeit, wie sie auch in Initiativen wie dem More
than Science-Projekt zum Tragen kommt, das individuelle Geschichten von in
den Klimawissenschaften Tätigen pädagogisch nutzt (vgl. Carvalho 2007).
Gleichzeitig relativiert er solche oft sentimentalen Darstellungen durch die
Wahl der Protagonisten, die zwar durch und durch menschlich, aber eben auch
wenig sympathisch und zuweilen abstoßend sind.
Bartosch: Scale, Latency, Entanglement
279
Eine ähnlich produktive Relativierung erfolgt auch in der Antwort Hammers,
die die öffentliche Wahrnehmung von Wissenschaft durch „guys in white
coats“ im Fernsehen ironisiert. Dass die wiederum wissenschaftliche Antwort
auf die genannte Sorge nun durch Michael Beard erfolgt, der offensichtlich zu
diesem Zeitpunkt betrunken ist, komplettiert das menschlich-allzu-menschliche
Bild der Wissenschaft, das der Roman anbietet. Weder die Idee, Romane
lehrten Klimafakten, noch die Vorstellung, sie zeigten besondere Wirkung,
indem sie Empathie-fördernde Vorbilder anbieten und so emotional wirksam
sein könnten, scheint im vorliegenden Fall bestätigt werden zu können. Dafür
lässt sich aber zeigen, dass andere, ebenso zentrale Kompetenzen gefördert
werden können, die aber erst in den Blick geraten, wenn man sich die Frage
nach dem Bildungsgehalt von Literatur erneut vor Augen führt: Die ironische
Brechung der Idee eines Klimahelden und die im Verlauf des Textes durch
Sprachbilder und Figurenhandlungen angeregte Identifikation mit einem
unsympathischen, seine Begierden nicht kontrollierenden Protagonisten, der
als Jedermann-Figur gelesen werden kann, erlaubt eine kritische Form der
Empathie, die im Rahmen von Diskussionen zur Möglichkeit des Fremdverstehens
fruchtbar gemacht werden können. Eben weil wir ihn nicht mögen und
der Text gleichzeitig eine allegorische Lesart verlangt, funktioniert die Erzählung
sowohl identifikatorisch als auch in kritischer Distanz dazu. Hier zeigt sich
eine Besonderheit metaphorisch-narrativer Fiktion. Ebenso können die oben
gemachten Beobachtungen zur diskursiven Rahmung von Klimaforschung und
Nachhaltigkeitstransformation bzw. deren komplexitätssteigernde Wirkung
angeschlossen werden an (fremd-)sprachendidaktische Forderungen nach
Sprachbewusstsein und Diskursbewusstheit bzw. Diskurskompetenz (Plikat
2017; Hallet 2012). Der Roman vermittelt also gerade nicht die naturwissenschaftlichen
Kenntnisse, die seinem Plot zugrunde liegen, sondern er ergänzt
diese Diskurse sprachlich und motivisch innovativ und kreativ.
Hier scheint mir ein zentrales Argument für den (Mehr-)Wert des Literarischen
in der Nachhaltigkeitserziehung zu liegen. Literatur macht nicht dasselbe –
oder dasselbe nur angenehmer – wie naturwissenschaftliche Bildung. Sie
erweitert vielmehr das Blick- und Diskursfeld und lädt durch Sprache und ihre
Bilder zur kritischen Reflexion ein. Ein daraus abzuleitendes Konzept von
Klimakompetenz oder Climate Change Literacy muss dies beachten und dieses
Potenzial produktiv weiterentwickeln. Dann würde eine solche Kompetenz
Lernende nicht primär in die Lage versetzen, bloß klimawissenschaftliche
metaphorik.de 33/2023
280
Erkenntnisse zu verstehen. Sie würde vielmehr die Rolle von Sprache und
Narration sinnvoll zu integrieren wissen und damit die Grundlage für ein kritisches
Verständnis von Klima(-kommunikation) bilden (Anson 2022). Im weiteren
Verlauf dieses Beitrags möchte ich mir einige Strategien genauer anschauen,
die als zentrale metaphorische und narrative Elemente den hier diskutierten
Roman und andere populäre Beispiele aus der Cli-Fi-Literatur auszeichnen.
Dies soll erlauben, anschließend einige Gedanken zur Nachhaltigkeit des
literarischen Lernens im Kontext von Bildung in Zeiten des Klimawandels zu
formulieren, die fachdidaktische Theorie und Praxis direkt betreffen.
3. Metaphern und Narrative: Scale, latency, entanglement
Während zahlreiche Veröffentlichungen zur Klimakompetenz bzw. relevanter
literacies ganz selbstverständlich die Zentralität naturwissenschaftlichen Verstehens
herausstellen (Shepardson/Roychoudhury/Hirsch 2017) und daraus
Handlungserwartungen ableiten, möchte ich die zuvor angestellten Überlegungen
zur Besonderheit von Literatur nutzen, um eine Ergänzung vorzunehmen,
die Climate Change Literacy als Ergebnis sprachlich-literarischen
Lernens versteht. Damit reagiere ich zum einen auf Forschungsergebnisse zu
Handlungsfähigkeit und der Bereitschaft zu handeln, wie sie in Studien zu
Klimawandelkommunikation und in kritischer Abgrenzung zur Vorstellung,
Wissen führe mehr oder weniger automatisch zu richtigem Handeln, artikuliert
worden ist (Kollmus/Agyeman 2002; Pearce et al. 2017: Boykoff 2019). Zum
anderen greife ich literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Arbeiten
auf, die das ‘ökologische Potenzial‘ von Literatur herausstellen und dezidiert
beschreiben, wie ein Fokus auf Metaphern und Narrative einer transdisziplinären
Adressierung von Nachhaltigkeitsfragen zugutekommen können (Zapf
2016; Bartosch 2021).
Hubert Zapf stellt zum Beispiel anhand zahlreicher Gegensatzpaare, wie
ORDNUNG UND CHAOS, MATERIE UND GEIST oder TEXT UND LEBEN heraus,
inwiefern Literatur, die er als sustainable texts kennzeichnet, den imaginativen
Zugang zu Nachhaltigkeit bereichert. In vergleichbarer Weise auf die Eigenlogik
literarischer Wirkung und kritischen Denkens in den Geisteswissenschaften
bedacht, hinterfragt Janet Fiskio die Logik eines lösungsorientierten
Unterrichts, der immer Gefahr läuft, Literatur und Kunst einseitig zu instrumentalisieren,
wenn sie schreibt: „I open my course on climate change by
Bartosch: Scale, Latency, Entanglement
281
stating that, while environmental studies is usually described as a problemsolving
discipline, this class is about not-solving the problem of climate change“
(Fiskio 2017: 101). Dies darf nun nicht missverstanden werden als die schon fast
zu Klischee geronnene Vorstellung, dass sich geisteswissenschaftliche Arbeit
per se Anwendungsbezügen und Verwertungslogiken verweigert. Vielmehr soll
betont werden, dass das, was Fiskio und andere Forschende in den Blick nehmen
– „asking questions, causing trouble“, wie sie schreibt (ibid.) – essenzieller
Bestandteil des Versuchs ist, die Idee eines klar umrissenen Problems selbst zu
problematisieren. Denn der Klimawandel ist kein solches Problem, so Mike
Hulme:
There is no single and comprehensive account of climate change that
can do full justice to the physical manifestations, political discourses,
and imaginative power of the phenomenon. […] „[C]limate change“
is not a problem that can be solved, any more than the ideas of
democracy or freedom are ones that can be „solved“ (Hulme 2022:
xxix).
Wenn der Klimawandel nun aber kein lösbares Problem, sondern eine
komplexe Situation darstellt (oder, wie Timothy Morton schreibt, ein „Hyperobjekt“;
cf. Morton 2013), entzieht sich das Phänomen einer instrumentalistischen
Logik der Lösung, und es wird deutlich, dass Ansätze gebraucht
werden, die auf Komplexität und Ambiguität ebenso abzielen wie auf die
sprachliche Bedingtheit des Erkennens und Adressierens von Klimawandelprozessen.
Damit wird deutlich, dass das Spezifikum einer literaturgestützten Climate
Change Literacy keine Frage richtiger Handlung aufgrund vernünftiger Entscheidungen
darstellt, sondern vielmehr eine kritische Reflexion eben solcher
Annahmen bedingt, die den Klimawandel unterkomplex imaginieren. Ein
ästhetischer Zugang vermag in diesem Zusammenhang Komplexität und
Diskursgebundenheit erhellend in den Blick zu nehmen, was den Eigen- bzw.
Mehrwert des Literarischen nachdrücklich unterstreicht. Aus einer entsprechenden
Perspektive beschreibt Eva Horn die ästhetischen Herausforderungen
der aktuellen Situation, die auch die Grundlage meiner im
Folgenden dargelegten Ausführungen sind:
Aesthetic form […] needs to deal with three challenges: (1) latency, the
fact that the transformation of the world is happening not in the form
of cataclysmic events but in imperceptible and unpredictable
metaphorik.de 33/2023
282
processes; (2) entanglements, the fact that the modern separation
between the human and ‘the world’ has dissolved into uncanny
dependencies, unintended consequences and unpredictable sideeffects;
(3) a clash of scales, the fact that the environmental crisis of the
Anthropocene unfolds on very different spatial, temporal and
quantitative scales (Horn 2020: 160; Hervorhebung im Original).
Was Horn hier beschreibt, hilft aus meiner Sicht, die oben gemachten
Beobachtungen zum besonderen Potenzial des Literarischen hinsichtlich der
narrativen und metaphorischen Wirkungszusammenhänge zu beschreiben, die
ein Verständnis sowohl der sprachlichen Gebundenheit (und somit Diskursbewusstheit)
als auch der Komplexität und Verbundenheit (im Sinne einer
kritischen Empathie) bedingen. Was Horn als Herausforderung beschreibt,
kann daher ebenso genutzt werden, einen didaktischen Möglichkeitsraum zu
entwerfen, der Formen einer narrativ-metaphorischen Welterzeugung fokussiert,
um eine angemessene Textauswahl und daran ausgerichtete methodische
Entscheidungen zu treffen.
Kehren wir zurück zum bereits besprochenen Roman, Solar. In diesem Text
wird das Problem der Latenz, und damit einhergehend die Frage von Trägheiten,
bereits auf formaler Ebene adressiert, indem auf Diskursebene Zeitsprünge
und Folgen von (Nicht-)Handlungen sichtbar werden. Der Roman ist
in drei Teile unterteilt, die den Jahren 2000, 2005 und 2009 zugeordnet sind.
Erzählzeit und erzählte Zeit gehen in vielen Erzählungen eklatant auseinander,
und es scheint an der Zeit, dies auch aus Perspektive der Nachhaltigkeitserziehung
zu reflektieren. Schauen wir in andere populäre Klimaromane, die in
Schneider-Mayerson (2018) identifiziert wurden, zeigt sich: T.C. Boyles A Friend
of the Earth (2000, Dt. Ein Freund der Erde) springt erzählerisch zwischen den
späten 1990er-Jahren an der Schwelle zum neuen Millennium und einer
inzwischen vom Klimawandel radikal veränderten Welt im Jahre 2025. Paolo
Bacigalupis The Windup Girl (2009, Dt. Biokrieg) spielt als ökologische Science
Fiction naturgemäß in einer dystopischen Zukunft, hier im 23. Jahrhundert, und
verbindet so die Trägheit der klimatischen Veränderungen mit den konfligierenden
Maßstäben (clash of scales) der eigenen Wahrnehmung als Leserin oder
Leser im frühen 21. Jahrhundert. Und Barbara Kingsolvers Flight Behavior (2012,
Dt. Das Flugverhalten der Schmetterlinge) kombiniert Beobachtungen über langBartosch:
Scale, Latency, Entanglement
283
sam sich intensivierende Umweltveränderungen und generationenübergreifende
Adaption von Menschen und Tieren geschickt mit dem plötzlichen
Umbruch von sichtbaren und unsichtbaren Kipppunkten.
Flight Behavior und Solar zeichnen sich zudem durch eine interessante Verknüpfung
verschiedener Formen der Latenz und plötzlicher Dynamiken aus, wie sie
z.B. in naturwissenschaftlichen Publikationen nicht zu finden wäre, in der
Literatur aber ganz selbstverständlich vorgenommen wird: das langsam sich
verändernde und mit Latenz reagierende ökologische System wird narrativ mit
Beschreibungen menschlicher Trägheit oder impulsiver Handlung verbunden.
So flieht die Protagonistin Dellarobia Turnbow zu Beginn des Romans Flight
Behavior auf einen Berg, dessen langsame ökologische Zerstörung am Ende der
Erzählung für eine apokalyptische Wendung sorgen wird und der zum Schauplatz
eines weiteren ökologischen Kipppunkts wird, weil er unvorhergesehen
zur Station der Wanderroute des Monarchfalters avanciert, was zuerst als
wunderschöner Zufall und nur langsam als ökologische Katastrophe erkannt
wird. Und sie tut dies in einem Moment des Ausbruchswillens, nachdem sie
jahrelang in einer unglücklichen Ehe gefangen war. Die eigene Trägheit wird
also mit ökologischer Latenz verbunden und gemeinsam als Flug- und
Fluchtverhalten dynamisiert. Ebenso werden in Solar konstant naturwissenschaftliche
Erkenntnisse zur graduellen Erhitzung oder zu den Grenzen
der erdsystemischen Belastbarkeit korreliert mit den Versuchen Michael
Beards, abzunehmen, gesünder zu leben oder allgemein etwas disziplinierter
zu sein. Dies gipfelt zum Beispiel in einer Rede, die Michael Beard hält,
nachdem er zahllose Räucherlachssandwiches gegessen und sich daran den
Magen verdorben hat: „The planet […] is sick!“ (McEwan 2010: 148), ruft er aus,
und man wundert sich über seine leidenschaftliche Rede nur solange, bis man
merkt, dass Beard (auch) über sich spricht, bevor er sich im Anschluss an die
Rede hinter der Bühne übergibt. Der Roman nutzt das in der
Klimawandelkommunikation fest etablierte Bild des Planeten ERDE ALS PATIENT
und kehrt es insofern metaphorisch um, als dass hier eben der Mensch Beard
über seine Übelkeit spricht. Diese Strategien sind nicht nur ästhetisch und
narrativ interessant, sondern haben ein großes didaktisches Potenzial sowohl
für lernendenseitige Reflexionen als auch für kreative, produktionsorientierte
Methoden.
metaphorik.de 33/2023
284
Man könnte diese Verknüpfungen von persönlicher und ökologischer Dimension
auch als entanglement im Hornschen Sinne lesen, zumal ja gerade die
Verschränkung dieser beiden Dimensionen eine imaginative Herausforderung
darstellt, da der in der ökologischen Geisteswissenschaft eingehend diskutierte
Mensch-Natur-Dualismus nach wie vor allgegenwärtig und mächtig ist (Plumwood
2002). Weitere solche Verschränkungen finden sich in Solar auf vielen
Ebenen und an zahlreichen Stellen. Zum Beispiel wird das Motiv der Energie,
das ja ein zentrales Element des Plots ist, der sich um die Erfindung alternativer
Werkzeuge der nachhaltigen Energiegewinnung dreht, konstant metaphorisch
mit KRIMINELLER ENERGIE verquickt: Michael Beard stiehlt seinem Mitarbeiter
Tom Aldous die Pläne für die entsprechende Technologie und vertuscht dessen
Tod, bevor er den Tod bzw. Mord schließlich dem Liebhaber seiner Ex-Frau
anhängt. Ebenso findet sich eine metaphorische Verbindung von ungebremstem
Klimawandel und drohender Klimakatastrophe mit dem Metaphernbereich
von KRANKHEIT und KREBS: Beard entdeckt und verdrängt Anzeichen
fortschreitenden Hautkrebses bei sich auf dieselbe Art, wie die Menschheit, die
er später als Lobbyist nachhaltiger Technologie adressiert, alle Anzeichen der
Klimakrise verdrängt. Schließlich finden sich auch Erklärungsansätze für dieses
unvernünftige Verhalten, die ironisch und metaphorisch mit HUNGER bzw.
UNERSÄTTLICHKEIT verknüpft sind: auf einer Zugfahrt auf dem Weg zu einem
Vortrag isst Beard eine Tüte Chips und wird daraufhin von einem anderen
Passagier vorwurfsvoll angeschaut. Es folgt eine seitenlange, vor Selbstmitleid
strotzende und daher zum Schreien komische Meditation über die Ungerechtigkeit,
von anderen verurteilt und übervorteilt zu werden, die sich daran
entzündet, dass der andere Passagier scheinbar provozierend in dieselbe
Chipstüte greift und langsam einen nach dem anderen der Chips isst:
The man did not even blink, his stare was so intense. And the act was
so flagrant, so unorthodox, that even Beard, who was quite capable of
unconventional thought […] could only sit in frozen shock and try,
for dignity’s sake, by remaining expressionless, to betray no sign of
emotion. […] With a warming touch of self-pity, he sensed that every
injustice, every historical oppression, unwarranted invasion, chaotic
warlordism, every tyrannical break with the rule of law was
compacted in this moment […] (McEwan 2010: 123-125).
Die Situation, ausgelöst durch Beards unkontrollierten Appetit und eskaliert
durch das Gefühl, um sein Recht gebracht worden zu sein, kulminiert, indem
der in seinen Gefühlen zutiefst verletzte Beard schließlich die Wasserflasche des
Bartosch: Scale, Latency, Entanglement
285
Mitreisenden ergreift und in einem einzigen Zug austrinkt. Diese Szene kann
als Allegorie von Verteilungsgerechtigkeit gelesen werden – der beschriebene
Konflikt ist aber letztlich nur ein gewaltiges Missverständnis, wie Beard am
Ende herausfindet: er hatte fälschlicherweise die Chips des Mitreisenden ergriffen,
der nun seinerseits indigniert war und daraufhin ebenfalls in die Tüte
gelangt hatte.
Diese literarische Dimension wird interessanterweise auch auf der Erzählebene
reflektiert. Wenn Beard seine Erlebnisse im Zug später in seiner Rede aufgreift,
wird ihm nicht geglaubt, sondern man hält die Geschichte tatsächlich für eine
Allegorie bzw. den Verweis auf eine urbane Legende, wie ein Geisteswissenschaftler
– der, wie viele andere Geisteswissenschaftler im Roman beißend
ironisch dargestellt wird – herausstellt: „It’s a well-known tale with many
variants, much studied in my field. It even has a name – the Unwitting Thief“
(157). Beards eigene Erfahrung wird allegorisiert. Damit verknüpft der Roman
nicht nur individuelles Erleben und kulturelle Narrative geschickt und unterhaltsam.
Er verweist zudem auf seine eigene diskursive Gemachtheit, was das
Bewusstsein für Bilder und die Besonderheit fiktionaler Narrative noch einmal
unterstreicht.
Ein weiteres Beispiel allegorisch-metaphorischer Narration findet sich in der
wohl bekanntesten Szene des Texts, der sogenannten boot room-episode, die ich
als Beispiel für den letzten von Horn vorgebrachten Punkt, dem clash of scales,
anführen möchte. Dieser clash betrifft das Aufeinanderprallen unvereinbar
verschiedener Maßstäbe im Klimawandeldiskurs – die Tiefenzeit klimatischer
Veränderungen vis-à-vis der menschlichen Wahrnehmungsspanne von Erfahrungen
z.B. die, wie Timothy Clark schreibt, zu einem Gefühl der Unordnung
bzw. zu fundamentaler Verwirrung führen kann (cf. Clark 2012; eine didaktische
Auseinandersetzung mit diesem Phänomen findet sich in Bartosch 2019).
Solar führt diese Maßstäbe nun allegorisch zusammen, wenn Beard einer Arktisexpedition
zustimmt, im Zuge derer Personen aus Wissenschaft und Kunst
aufgefordert sind, den Klimawandel direkt wahrzunehmen: im schmelzenden
Eis. In charakteristisch ironischem Ton folgen wir Beard also in diese Gruppe
aus Ausdruckskünstlern und Dichterinnen – und den Raum, in dem die Schutzkleidung
aufbewahrt wird.
Über die Bedeutung dieses Raums wird die Gruppe direkt zu Beginn informiert:
„It was simple enough. […] All coming on board must stop there and remove
metaphorik.de 33/2023
286
and hang up their outer layers. On no account was wet, snowy or iced-up
clothing to be brought into the living quarters“ (McEwan 2010: 62). Über die
nächsten Seiten wird man Zeuge der langsamen, aber stetigen Verwahrlosung
dieses Raumes und der wachsenden Missachtung dieser doch einfachen
Nachhaltigkeitsregel: „He [Beard] was standing opposite peg number eighteen,
on which, the day before, […] he had hung his snowmobile suit. […] Someone
had taken his gear, or some of it“ (68). Kurze Zeit später, „He [Beard] paused in
the entrance of the boot room […], and soon it was clear enough – someone had
hung all his stuff at Beard’s station.“ (71). Schließlich heißt es:
From the second day, the disorder in the boot room was noticeable
[…] He suspected that he never wore the same boots on consecutive
days. Even though he wrapped his goggles (these ones were undamaged)
in his inner balaclava on the third day, they were gone by
the fourth, and the balaclava was on the floor, soaking up water (73).
Es ist nicht nur interessant zu sehen, wie hier narrativ eine negative Genesis
geschildert wird, wenn über den Verlauf einer Woche gesellschaftliche Entropie
wie unter einem Brennglas herausgestellt wird. Noch spannender ist, dass
durch diese allegorische Skalierung ein ansonsten unsichtbares und überkomplexes,
nichtsdestoweniger aber zentrales Problem im Klimawandeldiskurs
narrativiert und somit verständlich gemacht wird: der Klimawandel ist ein
soziales Dilemma bzw. ein Problem kollektiver Handlung (cf. Boykoff 2019: ix).
Dadurch wird er ungreifbar und weitgehend unbegreifbar – doch Literatur und,
wie ich hier versucht habe zu zeigen, ihre Möglichkeiten sprachgebunden und
komplexitätssteigernd Fragen von Skalierung, Latenz und Verschränkungen
metaphorisierend zu narrativieren, bringen uns beim Lesen ein Stück weiter in
Richtung des Begreifens. Rob Nixon prägt dafür den Begriff der apprehension,
der im Englischen das Begreifen, die Sorge und das Auffassen verbindet, und
schreibt, dieser Begriff „draws together the domains of perception, emotion,
and action“ und sei somit geeignet die spezifische Rolle des Literarischen zu
fassen (Nixon 2011: 14; cf. Burkhart 2022).
Damit ist die Frage, was uns Literatur lehren kann, einer Antwort deutlich
nähergekommen, und es mag an dieser Stelle wichtig sein, darauf zu verweisen,
dass die hier angestellten Überlegungen durchaus anschlussfähig im literaturdidaktischen
Diskurs sind: dies betrifft die oben bereits beschriebenen Ziele
einer Diskursbewusstheit und den Versuch, Literatur im Kontext komplexer
Prozesse des (Fremd-)Verstehens einzusetzen ebenso wie die Erkenntnis, dass
Bartosch: Scale, Latency, Entanglement
287
Literatur vermag, bestimmte Prozesse sicht- und begreifbar zu machen, indem
sie fiktionalisiert, metaphorisiert und Strategien des foregrounding bzw. der
kreativen Kontextualisierung nutzt. Es ist aber gleichsam bloß eine Gegenstandsanalyse
des Literarischen geleistet worden, die bislang nichts oder wenig
über den lernenden oder welterschließenden (Bredella 2007) Umgang mit
Literatur aussagt. Auch der vorliegende Beitrag wird dies nicht erschöpfend
leisten können, es soll aber abschließend zumindest versucht werden, einige
Grundannahmen zu formulieren, die helfen können, die hier dargelegten
Affordanzen von Literatur sinnstiftend und lernförderlich aufzunehmen.
4. Zur Nachhaltigkeit literarischen Lernens im Klimakontext
Der im vorausgehenden Abschnitt benutzte Begriff der Affordanz, der auf den
Psychologen James J. Gibson zurückgeht, in jüngerer Zeit aber auch fachdidaktisch
fruchtbar gemacht worden ist (cf. Hallet 2018), verweist auf die Tatsache,
dass ein literarischer Text allein keine Bildungseffekte zeitigt. Vielmehr bedarf
es zur Herausbildung und Förderung von literacy, im ästhetischen ebenso wie
im nachhaltigkeitsorientierten Sinne, fachdidaktischer Unterstützung in Richtung
eines kompetenten Umgangs mit Literatur auf der prozessualen, der
integrativen und der handlungsorientierten Ebene (cf. Blau 2003). Wie Per
Esben Myren-Svelstad richtig herausstellt, beinhaltet der Umgang mit Literatur
auf prozessualer Ebene zum Beispiel die Kenntnis analytischer Verfahren und
ein Verständnis von Interpretation als Tätigkeit; die integrative Ebene betrifft
die Verortung im literarischen Feld bzw. eine weitergefasste kulturelle Kompetenz;
und die handlungsorientierte Ebene schließt ein, was er „enabling
knowledge“ nennt, also die Bereitschaft und Fähigkeit, Gelerntes auf die nichtliterarische
Welt zu übertragen (Myren-Svelstad 2020: 11). Es ist klar, dass
diesen verschiedenen Ebenen fachdidaktisch bzw. methodologisch unterschiedlich
begegnet werden kann und muss. Vor allem aber scheint mir relevant
zu sein, dass die von Myren-Svelstad vorgestellte Typologie des Umgangs mit
Literatur sich vor dem Hintergrund einer literaturbasierten Nachhaltigkeitserziehung,
mithin also im Hinblick auf das hier vorgestellte Konzept von
Climate Change Literacy, anschließen lässt.
Ebenso wie im vorliegenden Beitrag kritisiert Myren-Svelstad die Fokussierung
auf Information und Wertvorstellung als einseitig, defizitorientiert und
unterkomplex und führt empirische wie konzeptionelle Arbeiten auf, die die
metaphorik.de 33/2023
288
Vorstellung einer linearen Werterziehung oder Wissenschaftsbildung durch
literarische Texte in Frage stellen. Und er hält fest:
literary texts are too polysemic to provide clear guidelines on how to
act; even if they could provide such guidelines, the way in which
readers make sense of texts makes it impossible to govern exactly
what guidelines they will acquire; even if we could find a way to make
sure that readers did receive specific guidelines on sustainable
behavior and acted accordingly, we would still have a tremendously
complex task in figuring out what exactly constitutes sustainable
behavior (Myren-Svelstad 2020: 5).
Dies bedeute aber nicht, dass literarisches Lernen keine Rolle spiele, sondern
eher, dass Lehrkräfte sich tunlichst auf ihre Expertise und zentrale Aufgabe der
Literaturvermittlung konzentrieren sollten und gerade auf diesem Wege einen
neuen Zugang zu ökologischen Fragestellung anbieten können, der unter
anderem auf die von einschlägigen bildungspolitischen Dokumenten ohnehin
geforderte Fähigkeit zu komplex-systemischem Denken und ‘epistemologischem
Pluralismus’ – in anderen Worten: Perspektivenvielfalt und was ich im
vorliegenden Beitrag „kritische Empathie“ genannt habe – abzielt (ibid.: 10;
siehe auch Wiek/Withycombe/Redman 2011).
Eine so konzeptualisierte Literaturdidaktik und ein dort integriertes Konzept
von Climate Change Literacy würden also literar-ästhetisches Lernen unterstützen
und dabei und vermittels der Eigenlogik des literarischen Gegenstands
das Verständnis von Komplexität und Perspektivenvielfalt, Sprach- bzw.
Diskursbewusstheit sowie kritische Empathie fördern. Wie im vorliegenden
Beitrag an literarischen Beispielen gezeigt, kann die Auseinandersetzung mit
Metaphern und narrative Strategien der Skalierung und der Vermittlung von
Latenzen und Verschränkungen verschiedener Domänen dabei einen zentralen
Beitrag leisten. Ein letztes Beispiel aus Solar mag dies noch einmal komprimiert
verdeutlichen. Michael Beard fliegt über London bzw. befindet sich im Landeanflug
auf Heathrow, als er durch den Sinkflug perzeptiv und kognitiv angeregt
wird:
[…] here it came again, […] the colossal disk of London itself, turning
like an intricately slotted space station in majestic self-sufficiency. As
unplanned as a giant termite nest, as a rain forest, and a thing of
beauty […]. The giant concrete wounds dressed with steel, these
catheters of ceaseless traffic filing to and from the horizon […]. The
hot breath of civilization. He felt it, everyone was feeling it, on the
Bartosch: Scale, Latency, Entanglement
289
neck, in the face. […] [H]ow could we ever begin to restrain ourselves?
We appeared, at this height, like a spreading lichen, a ravaging bloom
of algae, a mould enveloping a soft fruit […] (McEwan 2010: 108-111).
Zum einen führt die Wahrnehmung seiner Umgebung tatsächlich zu Änderungen
des Denkens. Vor allem aber geschieht dies durch metaphorische Abduktion:
die Stadt als Scheibe wird zum Raumschiff (im Sinne der SPACESHIP
EARTH-Metapher Buckminster Fullers?), bevor sie zum Termitenhügel und zum
Regenwald wird, Beard die ‘Betonwunden’ und Katheter des Verkehrs und den
Atem der Zivilisation zu spüren meint. Die Verbindung einer zu handeln
unfähigen Menschheit, des langsamen Wachstums von Flechten, Algen und
schließlich Schimmel bringt die oben diskutierten ästhetischen Operationen
bezüglich scale, latency und entanglement zusammen und zeigt eindrücklich,
welche Spezifizität literarischer Darstellung innewohnt.
Daher schließt auch Myren-Svelstad:
as educators, we cannot harness literary texts to serve the function of
providing students and pupils with the right knowledge, values, and
moral attitudes. […] Literature can help us to handle […] complexity,
not because it provides us with models for pro-environmental
behavior, but because learning to read literature competently entails
learning to critically evaluate and re-evaluate opinions, postponing
conclusions, and acknowledging that several diverging viewpoints
can be reasonable at the same time (2020: 16-17).
Hier setzt das Konzept von Climate Change Literacy an und fordert damit auch
die Anerkennung ein, dass das inzwischen in zahlreichen Kontexten fruchtbar
und lebhaft nutzbar gemachte Konzept der Literacy als genuin literarisches
Konzept eine besondere, herausgehobene Stellung innehat. Es ist nun eine
Frage und die Verantwortung weiterer, fachdidaktischer Forschung, diese
Erkenntnisse methodisch so zu verarbeiten, dass die hier vorgestellten gegenstandsanalytischen
Einsichten in Handlungswissen und pädagogisch-didaktische
Handlungsplanung überführt werden.
Dies betrifft vor allem die in einschlägigen Dokumenten allseitig vorgebrachte
Forderung nach Handeln. Es ist natürlich denkbar, Handeln allgemein als nachhaltigkeitsorientiert
oder auch sprachgebunden zu definieren und von Mülltrennung
über Ernährungsentscheidung bis hin zu politischen Reden und die
Herstellung von Plakaten alles unter dieser Rubrik zu vereinen, was im Rahmen
unterrichtlicher Produktion und im Hinblick auf transformative Gestaltung
metaphorik.de 33/2023
290
möglich ist. Eine genauere Betrachtung und Beachtung der hier vorgestellten
Spezifika einer literaturbasierten Climate Change Literacy müsste aber anerkennen,
dass das Erkennen und Bewerten literarischer metaphorischer und narrativer
Strategien sich zuvorderst in Sprachhandeln überführen lassen muss. Dies
entspräche unmittelbar der zum Beispiel im Orientierungsrahmen für den Lernbereich
Globale Entwicklung dargelegten Definition von Handeln als Frage
„Was Menschen mit Sprache tun können“ (KMK/BMZ 2020: 158) und griffe
auch direkt das u.a. in der Englischdidaktik vorherrschende Verständnis von
Handlung als bedeutungsvoller, authentischer Kommunikation auf (cf. Bach/
Timm 2013). Für die Modellierung entsprechender Kompetenzen würden
dadurch die oben genannten Aspekte der Diskursbewusstheit und des literarischen
Verstehens von Komplexität, Perspektivität und Ambiguität bedeutsamer
als naturwissenschaftliches Faktenwissen, vage definierte, erwünschte
Haltungen oder tendenziell nicht überprüfbares, als nachhaltig deklariertes
Individualverhalten.
5. Schlussbemerkung
Der vorliegende Text hat einen Vorschlag gemacht, wie eine dezidiert literarisch
bzw. literaturdidaktisch begründete Konzeption von Climate Change Literacy
konturiert werden kann. Ausgehend von einer Gegenstandsanalyse populärer
Klimawandelromane, vor allem Ian McEwans Solar, wurde gezeigt, wie
Metaphern und narrative Strategien der Skalierung, der Zeitgestaltung
und -erzählung sowie der Verschränkung verschiedener Diskursdomänen
einen fruchtbaren Beitrag zum Verständnis von Komplexität und Perspektivität
leisten, der in einer entsprechend modellierten, sprach- und literaturbasierten
Nachhaltigkeitserziehung Berücksichtigung finden sollte. Vor allem hinsichtlich
der Bildungsziele von Diskursbewusstheit und komplex-systemischem
Denken spielen diese Überlegungen eine besondere Rolle und müssen selbstbewusst
und in Abgrenzung zu lediglich naturwissenschaftlich orientierten
Kompetenzdebatten in der aktuellen Bildungsdiskussion positioniert werden.
Zwei Dinge kann dieser Beitrag jedoch nicht leisten: zum einen steht eine
detaillierte methodische und schließlich empirische Auseinandersetzung mit
dem hier vorgeschlagenen Umgang mit literarischen Texten aus. Die hier
gemachten Vorschläge können aber sehr wohl einer entsprechenden Modellierung
und Operationalisierung dienen und sind daher ausdrücklich als
Bartosch: Scale, Latency, Entanglement
291
entsprechende Grundlagenarbeit gemeint. Zum anderen kann der hier vorgestellte
Ansatz von Climate Change Literacy den oft geforderten Schritt zum
richtigen, d.h. nachhaltigen und das Klimaproblem letztlich lösenden Verhalten
nicht herbeiführen. Dies wird aber überhaupt nur als Schwäche des Ansatzes
ausgelegt werden können, wenn der Klimawandel in Abgrenzung zur einschlägigen
Forschung lediglich als abgegrenztes Problem, das technisch-wissenschaftlich
gelöst werden kann, konstruiert wird. Im Gegensatz zu einer solchen
Position wurde im vorliegenden Beitrag argumentiert, dass Sprachhandeln und
kritische Reflexion, wie sie im literaturbasierten Sprachunterricht im Vordergrund
stehen, helfen, diese verkürzende Einschätzung in Frage zu stellen und
alternative Sichtweisen nicht nur zu entwickeln, sondern diese auch zu
kommunizieren. Dies schließt auch die Erkenntnis ein, dass die Frage nach einer
linear und simplistisch gedachten Verbindung zwischen Denken und Handeln,
wie sie der mind-behaviour gap postuliert, schlicht falsch gestellt ist (cf. Myren-
Svelstad 2020: 3-5). Harald Welzer merkt dazu gewohnt lakonisch an: „Nur
Angehörige des Betriebssystems Wissenschaft glauben infolge einer déformation
professionelle, dass Wissen Handeln anleite“ (2021: 84) und gibt zu bedenken,
dass „Interessen, Macht, Gewohnheit, Desinteresse“ eine ebenfalls nicht zu
vernachlässigende Rolle spielten. Wie ich versucht habe zu zeigen, bietet
Literatur, indem sie eben diese Verquickungen verbalisiert und narrativiert,
sich als besonderer Lerngegenstand in der Nachhaltigkeitsbildung an, der
neben Sprach- und Diskurskompetenz eben auch eine einzigartige Anleitung
zum kritischen Denken darstellt.
Nicht zuletzt wird mit dem hier vertretenen Verständnis von literarischem
Lernen in Zeiten des Klimawandels der Forderung genüge getan, kreative
Formen der Kommunikation zu erkunden und zu nutzen, die inzwischen als
unerlässlich in der Klimawandelkommunikation – und folglich, so kann argumentiert
werden, auch in der fachspezifischen Bildung – gelten (Boykoff 2019).
Hinsichtlich des Wertes eines solchen, auf Kreativität und sprachliche Besonderheiten
abzielenden Ansatzes ließe sich vielleicht einwenden, dass er eben
nicht die eine Antwort auf alle Fragen zu geben vermag, sondern lediglich den
– wenn auch bedeutsamen – Teilaspekt von Diskurs und Perspektive adressiere.
Doch wie Max Boykoff argumentiert, ist die Hoffnung auf den einen, zielführenden
Zugang verfehlt. Er fasst seine Übersicht von bestehenden kreativen
Wegen, den Klimawandel zu thematisieren, wie folgt zusammen:
metaphorik.de 33/2023
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Rather than pursuing a quixotic silver bullet that will compel people
to resoundingly respond to climate change, researchers and
practitioners have been finding […] strategies that can best be
described as „silver buckshot.“ Silver buckshot […] designs involve
deliberate and multimodal communication endeavors that seek to
meet people where they are […] (Boykoff 2019: 215).
Mit der Metapher [sic] der silbernen Kugel, also einer Wunderwaffe, beziehungsweise
dem gegensätzlichen Modell einer ‚silbernen Schrotflinte’, unterstreicht
Boykoff die Notwendigkeit pluraler und individueller Zugänge zum
Thema der Klimakommunikation, und er ermuntert Lehrkräfte und Personen
aus der Wissenschaft gleichermaßen, gemeinsam an in ihrem Feld der Expertise
relevanten Formen der Kommunikation zu arbeiten. Dieser Idee folgt der hier
gemachte Vorschlag, der sprachliches und literarisches Lernen weder als soft
skill-Luxus im Anschluss an eine wissenschaftliche Kernbildung noch als heillos
überfrachtetes Projekt der Werteerziehung verengt, sondern im Gegenteil seine
genuinen Potenziale im Kontext einer Bildung in Zeiten des Klimawandels
fruchtbar macht.
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