Kein Schauplatz der Eitelkeiten
Das frühneuzeitliche Theatrum Praecedentiae zwischen
gelehrtem Diskurs und sozialer Praxis
Thomas Weller, Münster (thomas.weller@uni-muenster.de)
Abstract
Was die Omnipräsenz der Theatrum-Metapher innerhalb der frühneuzeitlichen Buch- produktion anbelangt, so stellt auch die Zeremonialwissenschaft keine Ausnahme dar. Anhand der beiden prominentesten Beispiele, Johann Christian Lünigs Theatrum ceremoniale historico-politicum und Zacharias Zwantzigs Theatrum Praecedentiae, fragt der Beitrag nach dem Spannungsverhältnis zwischen gelehrtem Diskurs und sozialer Praxis. Beide Autoren verzichten weitgehend auf eine systematische Durchdringung ihres Gegenstandes und entscheiden sich bewusst für eine nur grob gegliederte Zusammenstellung von Zeremonial- beschreibungen und anderem heterogenen Material. Angesichts der Fragwürdigkeit kosmologischer Ordnungsvorstellungen und der zunehmenden Entzauberung des Zere- moniells im 18. Jahrhundert war dies vermutlich die dem Gegenstand angemessenste Form der Darstellung. Die Theatrum-Metapher im Titel kann daher nicht nur als Reminiszens an das barocke Theatrum Mundi gelesen werden, sondern impliziert zugleich den Gestus der Unmittelbarkeit. Die Verweisfunktion des Zeremoniells tritt demgegenüber bereits in den Hintergrund.
Given the omnipresence of the theatre metaphor within the early modern literary market, the Zeremonialwisssenschaft does not constitute an exception. Focusing on two of the most prominent examples, Johann Christian Lünig’s Theatrum ceremoniale historico-politicum and Zacharias Zwantzig’s Theatrum Praecedentiae, this article investigates the inter-relation between academic discourse and social practices. Both authors do not cover their topic in a systematic way. They deliberately opt for a mere compilation of ceremonial descriptions and other heterogenous material which is roughly organized and subdivided into categories. For the authors this was probably the most adequate way of approaching their subject, having in mind the questionability of the cosmological concepts of order and the increasing disenchantment of ceremony in the 18th century. Thus, the theatre metaphor cannot only be read as a reminiscence of the baroque Theatrum Mundi, it also implied the idea of immediacy, while the referential function of ceremony was already fading into the background.
Die Theatrum-Metapher erfreute sich als Buchtitel in der Frühen Neuzeit ganz allgemein größter Beliebtheit; ihre Verwendung war weder auf eine bestimmte Disziplin noch ein bestimmtes Wissensfeld beschränkt. In einem Aufsatz über den Theaterbegriff des Barock listet Thomas Kirchner (1986:135-136) nicht we- niger als dreißig einschlägige Titel auf, vom Theatrum Insectorum über das Theatrum Crudelitatum Haereticorum Nostri Temporis bis hin zum Theatrum Malorum Mulierum oder Schauplatz der Boßheiten aller bösen Weiber. Kirchners Liste erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ließe sich, wie der Verfasser ausdrücklich betont, „beliebig erweitern“ (Kirchner
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1986:136). Von einer wahren „Flut“ entsprechender Publikationen spricht für das 16. und 17. Jahrhundert auch Markus Friedrich (2004:205).
Vor diesem Hintergrund erscheint es zunächst gar nicht weiter verwunderlich, dass sich auch einige Autoren der um die Wende zum 18. Jahrhundert ent- stehenden Zeremonialwissenschaft bei der Benennung ihrer Publikationen für einen ähnlich lautenden Titel entschieden. Allerdings lassen sich nur drei zeit- genössische Werke bibliographieren, die Theatrum explizit im Titel führen: das unter dem Pseudonym Ehrenhart Zweyburg veröffentlichte Theatrum Praecedentiae von Zacharias Zwantzig (1706), das Theatrum historicum Praetensionum et controversarium illustrium in Europa von Christoph Hermann Schweder (1712)1 und schließlich das Theatrum ceremoniale historico-politicum von Johann Christian Lünig (1719, 1720). Doch auch die Autoren anderer zere- monialwissenschaftlicher Abhandlungen bedienten sich verschiedentlich der Theatrum-Metapher, ohne diese allerdings explizit im Titel zu verwenden. So spricht etwa Gottfried Stieve im Vorwort zu seinem Europäischen Hof- Ceremoniel (1715:[7] [unpag. Vorrede]) vom „Theatrum der Praerogativae und des Ceremoniel“, um den Gegenstand seiner Darstellung näher zu charakteri- sieren.
Keiner der genannten Verfasser geht indes auf die Gründe für seine Titelwahl näher ein oder nimmt gar eine Deutung der Metapher vor. Was den jeweiligen Autor letztlich dazu bewogen haben mag, sein Werk Theatrum zu nennen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Fest steht aber, dass der Begriff des Theaters nicht erst bei heutigen, sondern schon bei damaligen Lesern unweigerlich be- stimmte Assoziationen evozierte, wobei der Bedeutungsgehalt des Terminus in der Frühen Neuzeit noch weitaus umfassender war als in unserer Gegen- wart. Nach Kirchner (1986:131) bezeichnet der Begriff ‘theatrum’ im zeitgenös- sischen Verständnis „ […] schlechthin alles, was zu sehen ist, und unterlegt dabei dem Anschauen einer Sache emphatischen Sinn, der auf ihre Künstlich- keit, Herausgehobenheit oder Großartigkeit abhebt.“ Das zuletzt Gesagte trifft wohl in ganz besonderem Maße auf das Zeitalter des Barock zu, welches „ […] das Theater zum vollständigen Abbild und vollkommenen Sinnbild der Welt gemacht […]“ hat (Alewyn 1989:44).
1 Schweders Werk ist allerdings weniger der Zeremonialwissenschaft im engeren Sinne, als vielmehr der juristischen Praetensionenliteratur zuzurechnen, vgl. dazu Wolf (1987); Ham- merstein (1972:221–222) sowie mit Nennung weiterer Werke Dreitzel (1992:67).
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Der barocke Topos des Welttheaters impliziert die Vorstellung von der Unei- gentlichkeit der Welt, der wie dem Schauspiel gleichsam ein geringerer Grad an Wirklichkeit zugesprochen wird, was aber umgekehrt gerade die Möglich- keit eröffnet, durch die Anschauung des Spiels zum dahinter liegenden, tran- szendenten Eigentlichen vorzudringen. Diese Vorstellung von der Welt als Theater findet nach Ansicht von Miloš Vec auch in der Zeremonialwissen- schaft ihren Widerhall. Für Johann Christian Lünig sei das Zeremoniell „ […] sinnlicher Beweis für und Verweis auf die Regelhaftigkeit des sozialen Kosmos […]“ (Vec 1998:173). Gleich zu Beginn des ersten Kapitels benennt Lünig (1719:2) den Urheber dieses Kosmos:
„Alle Dinge haben in der Welt ihre gewisse Ordnung, und es ist im- mer eines dem andern subordiniret; Warum? Sie kommen von ei- nem so vollkommenen Wesen her, das nicht anders hat, als ordent- lich procediren können. Das grosse Werck der Schöpfung der Welt stellet ein vollkommenes Muster der schönsten Ordnung dar. Und wie der Mensch die kleine Welt der Ordnung nach die letzte, aber auch die vortrefflichste unter allen Creaturen gewesen, also ist ihm auch zugleich mit der gesunden Vernunfft, die Liebe zu einer ver- nünfftigen Ordnung eingepräget worden.“
Die Ordnung in der Welt geht also letztlich auf Gott zurück, und die Men- schen handeln nach seinem Willen, wenn sie ihre Gesellschaft nach den in der Natur wahrnehmbaren Prinzipien ordnen. Ordnung war für Lünig und seine Zeitgenossen dabei immer gleichbedeutend mit hierarchischer Ordnung. Der Rang, den ein Akteur im Rahmen des Zeremoniells einnahm, ablesbar an der räumlichen Nähe oder Distanz zu anderen Beteiligten, verwies dem Anspruch nach stets auch auf seinen Ort innerhalb einer als weitgehend statisch gedach- ten und letztlich gottgegebenen sozialen Hierarchie. Eine Rolle im Welttheater zu spielen, so die Schlussfolgerung von Vec (1998:173), bedeutet demnach in einem ganz deterministischen Sinne „ […] gesellschaftliche Ordnung zu repro- duzieren“. Und in eben diesem Sinne erscheint auch Jörg Jochen Berns (1982:337) das Zeremoniell als „[…] radikalster und umfassendster Ausdruck der Theatrum-mundi-Lehre“.
Diese ebenso einleuchtende wie nahe liegende Interpretation der Theatrum- Metapher und ihrer Verwendung durch die zeremonialwissenschaftlichen Autoren scheint mir jedoch nicht die einzig mögliche zu sein. Im Folgenden möchte ich ihr eine alternative Deutung an die Seite stellen. Zu diesem Zweck
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werde ich zunächst etwas ausführlicher auf den Inhalt der eingangs ge- nannten Werke und ihre Stellung innerhalb der Zeremonialwissenschaft und des Rangrechts eingehen. Im Anschluss daran möchte ich mich dem Ver- hältnis zwischen dem gelehrten Diskurs und seinem Gegenstand zuwenden, das heißt dem Zeremoniell und den Praktiken sozialer Distinktion in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft, um vor diesem Hintergrund schließlich einige weiterführende Überlegungen zum Bedeutungsgehalt der Theatrum- Metapher im Kontext der Zeremonialwissenschaft anzustellen.
1. Zwantzigs Theatrum praecedentiae und Lünigs Theatrum ceremoniale
– Zum Inhalt der Werke und ihrer Stellung innerhalb der Zeremoni- alwissenschaft
Schon ein kurzer Blick auf die Titelseite von Johann Christian Lünigs Theatrum ceremoniale macht deutlich, dass das Bedeutungsfeld der Inszenierung und der Theatralität, das bei der Verwendung der Theatrum-Metapher immer schon mitschwingt, sich hier in ganz auffälliger Weise mit dem Gegenstand des Werks deckt. Die mehr als 3600 Seiten enthalten eine nur grob nach Anlässen und Personen gegliederte Sammlung von Zeremonialbeschreibungen, Rang- ordnungen und anderen normativen Texten zum Zeremoniell bei Papst- und Kaiserwahlen, Krönungen, Fürstenhochzeiten, Huldigungen, Lehensnahmen, Gesandtschaften und einer Vielzahl anderer Anlässe. Präsentiert werden dem Leser hier also Beschreibungen von Inszenierungen. All dies deutet zunächst auf eine primär „ […] gegenstandsbezogene Verwendungsweise“ (Friedrich
2004:207) der Theatrum-Metapher hin. Es wird sich jedoch noch herausstellen, dass bei der Titelwahl wohl auch – und vielleicht sogar in erster Linie – „dar- stellungsbezogene“ Aspekte eine Rolle spielten.
Eine systematische Ordnung und Aufbereitung des heterogenen Materials lässt sich bei Lünig kaum erkennen. Den Charakter seines Werks als reine Exempelsammlung erhebt der Autor im Vorwort vielmehr geradezu zum Pro- gramm, wenn er schreibt, der Versuch, das Zeremonialwesen „unter gewisse Lehr=Sätze und Grund=Reguln zu bringen“, sei „in einer so delicaten materie, welche die grössesten Puissancen der Welt concerniret, fast eine unmögliche Sache“ (Lünig 1719:[6] [unpag. Vorrede]). Als wenig hilfreich erweist sich in diesem Zusammenhang auch jene Scheibe, die Lünig (1720:1340) seinen Le- sern im zweiten Band unter der Überschrift „Wie ein Ceremoniel einzurichten
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Weller,Das Theatrum Praecedenti aezwischengelehrtem DiskW'S undsozialer Praxis
sey?" als praktische Hilfe an die Hand gibt, um eigene Beobachtungen zu rubrizieren und systematisch zu sammeln (Abb.1).
THEATRUM CEREMONIALE
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Abb.l: aus Lünig 1720:1340
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Obgleich die Vorzüge von Lünigs Werk ganz eindeutig in seiner Anwen- dungsbezogenheit lagen, dürfte der praktische Nutzen der besagten Scheibe wohl schon von den Zeitgenossen eher gering veranschlagt worden sein. Im Anschluss an Vec (1998:70) mag man darin einen gescheiterten Versuch erken- nen, „ […] für das Ceremoniel in seiner ganzen Mannigfaltigkeit ein System zu finden“. Vielleicht manifestiert sich hier aber auch das Bemühen des Autors, dem Leser das zuvor auf Tausenden von Seiten ausgebreitete zeremonielle Wissen noch einmal, gleichsam „auf einen Blick“ zu präsentieren (vgl. Fried- rich 2004:217; Bauer 2000). Mit der Gliederung von Lünigs eigener Material- sammlung decken sich die hier vorgeschlagenen Rubriken und Kategorien jedoch in keiner Weise.
Trotz der schier überbordenden Komplexität des Gegenstandes mangelte es aber sowohl vor als auch nach dem Erscheinen von Lünigs Theatrum ceremo- niale nicht an Versuchen, die Materie der Zeremoniell- und Rangfragen in der ständischen Gesellschaft unter streng systematischen Gesichtspunkten zu be- handeln. Den wohl umfassendsten Versuch dieser Art stellte der erstmals 1529 erschienene Catalogus Gloriae Mundi des französischen Juristen Barthélémy de Chasseneuz (1480-1541) dar. Mit diesem Werk, das noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zahlreiche Neuauflagen erlebte, beabsichtigte der Autor (zur Person vgl. Dugas de la Boissony 1972) nichts Geringeres, als auf der Grundla- ge des gesamten bis zu diesem Zeitpunkt überlieferten rechtsgelehrten, theolo- gischen und philosophischen Wissens die eine hierarchische Ordnung aller Wesen zu beschreiben. Angefangen von der Dreifaltigkeit und den neun himmlischen Hierarchien (vgl. dazu Dinzelbacher 1979), über deren irdisches Spiegelbild, die soziale Hierarchie der Stände und Ränge, bis hin zum Bereich der unbelebten Natur wird allem und jedem ein fester Platz in dieser Ordnung zugewiesen (Stollberg-Rilinger 2003:134-137).
Mit seinem Catalogus gilt Chasseneuz als einer der Begründer einer eigenstän- digen rechtsgelehrten Disziplin, für die sich im 17. Jahrhundert die Bezeich- nung Ius Praecedentiae einbürgerte und deren alleiniger Gegenstand Rangfra- gen zunächst vornehmlich unter den europäischen Potentaten, dann aber auch auf den unteren Ebenen der ständischen Gesellschaft waren (Stollberg-Rilinger
2001; Weller 2006:32-42). Während Chasseneuz dabei noch ganz in der Traditi-
on des Neuplatonismus davon ausging, dass auch die soziale Ordnung unter den Menschen unmittelbarer Ausdruck der einen gottgegebenen kosmischen
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Ordnung war (vgl. Oexle 1988:22), wurde diese Auffassung von den späteren Autoren des Ius Praecedentiae und der um die Wende zum 18. Jahrhunderts aufkommenden Zeremonialwissenschaft (Godefroy 1649; Leti 1685; Winterfeld
1700, 1702; Stieve 1715; Rohr 1990a [1728], 1990b [1733]) aber durchaus nicht mehr uneingeschränkt geteilt. Gerade die Zeremonialwisseschaft verstand sich in bewusster Abgrenzung vom älteren Rangrecht nicht mehr als Teil der Jurisprudenz, sondern als praktische Handlungslehre, womit sie einem neuen, nicht zuletzt von Christian Thomasius propagierten Wissenschaftsideal huldigte (Stollberg-Rilinger 2003:130; Vec 1998:182-227, Bauer 1997:71-134; Beetz 1990). Dieser Bruch lässt sich bei Lünig (1719, 1720) bereits deutlich erkennen, wohingegen Zwantzig (1706) noch stärker in der Tradition des älteren Rangrechts steht, wie bereits der Titel seines Werks verrät.
Bei allen Autoren des späten 17. und des 18. Jahrhunderts, gleich ob man sie nun eher dem Ius Praecedentiae oder der Zeremonialwissenschaft zurechnet, hatte sich unter dem Einfluss moderner Naturrechts- und Vertragstheorien aber inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass soziale Hierarchien, wie sie im Zeremoniell sichtbar wurden, keineswegs unmittelbarer Ausdruck der göttlichen Ordnung, sondern letztlich vom Menschen gemacht und damit immer bis zu einem gewissen Grad der Willkür unterworfen waren. So definiert Julius Bernhard von Rohr (1990a [1728]:105) in seiner 1728 er- schienenen Einleitung zur Cermoniel-Wissenschaft der Privat-Personen den Rang als „[…] eine höhere Stelle, die einem wegen eines höheren Grads, einiges, entweder wahren oder nur eingebildeten Ruhmes und Ansehens, vor dem andern zugeschrieben wird“. Neben dem „Stand“ einer Person werde der Rang „ […] mehrentheils nach [...] Bedienung und Gewerbe, und der damit verknüpften Titulierung und Benennung reguliret“, doch sei, wie von Rohr (1990a [1728]:105) ausdrücklich betont, „ […] nur wenig Realité dabey anzutreffen“. Im 1741 erschienenen dreißigsten Band von Zedlers Universal- lexikon wird die Präzedenz als der „äusserliche Vorzug“ definiert, „da einer dem andern in Ordnung vorgehet“. Der zeremonielle Vorrang ändere jedoch
„nichts im Menschen und seinem Zustande“, ja es beruhe „auf der blossen Einbildung [...], daß einer mehr ist, [...] der einige Schritte vorgehet, als der einige nachfolget“ (Zedler 1741:802-804). Und Johann Christian Hellbach (1804:40) vergleicht den Rang in seinem 1804 erschienenen Handbuch des Rangrechts gar mit „ […] dem äußeren Gepräge einer Münze, welches dem
inneren Gehalte oft nicht entspricht“. Die zitierten Äußerungen zeugen ganz
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offenkundig von tiefen Zweifeln an der „Verweisfunktion der Gegenstände“ (Friedrich 2004:222). Es wird noch zu klären sein, wie sich dieser Befund mit dem von Vec (1998:173) im Anschluss an Berns (1982:337) unterstellten Fortwirken der barocken Theatrum-Mundi-Lehre vereinbaren lässt.
Trotz solcher theoretischer Einsichten blieb die symbolische Inszenierung sozialer Unterschiede in der Praxis jedoch schlechthin unverzichtbar. Im Zeremoniell vergewisserte sich die frühneuzeitliche Ständegesellschaft ihrer hierarchisch gegliederten Ordnung. Politisch-soziale Unterschiede und Rang- abstufungen wurden im Rahmen zeremonieller Inszenierungen nicht nur sichtbar gemacht, aktualisiert und bekräftigt, sondern auf diese Weise streng genommen stets aufs Neue performativ hergestellt (Stollberg-Rilinger
1997:95f., Füssel/Weller 2005:11). Eben weil äußeres Zeichen und Bezeichnetes dabei aus Sicht der Zeitgenossen nicht mehr notwendig zur Deckung kamen, wurde die Sammlung und Archivierung zeremoniellen Wissens immer wichtiger. So erklärt sich wohl auch die wahre Flut an präzedenzrechtlicher und zeremonialwissenschaftlicher Literatur seit der Mitte des 17. Jahrhunderts.
Bei der Sammlung und Präsentation dieser Wissensbestände ging es aber nicht etwa um bloße Zurschaustellung höfischen Glanzes oder um die Befriedigung der Sensationsgier des zeitgenössischen Lesepublikums, wie man als moder- ner Leser vielleicht vermuten würde. Mit den modernen Erzeugnissen der Regenbogenpresse hatten die Publikationen der Zeremonialwissenschaftler des 18. Jahrhunderts trotz scheinbar ähnlicher Sujets rein gar nichts zu tun. Die Beschreibungen von Fürstenhochzeiten, Krönungen und dergleichen mehr, wie sie sich bei Lünig und anderen finden, richteten sich nicht nur an einen gänzlich anderen Adressatenkreis, sie dienten auch einem sehr konkreten Zweck.
2. Die zeremonialwissenschaftliche Literatur zwischen gelehrtem
Diskurs und sozialer Praxis
Schon aus dem Titel von Zacharias Zwantzigs Theatrum Praecedentiae wird ersichtlich, an wen sich das Werk vornehmlich richtete: „Jungen Standes- Personen, antretenden Negotianten und Ministern zur nützlichen Nachricht“, heißt es dort. Im Vorwort führt der Autor diese Zueignung weiter aus:
„Weilen die Materie jungen Politicis, negotianten, Standes-Personen und Hoff-
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Leuthen, um den Etat der Illustren Welt kennen zu lernen, höchstnöhtig und important zu wissen ist“, man aber „rarement davon [...] zulängliche publique Nachricht findet [...]“, habe der Autor sich zur Publikation des von ihm gesammelten Materials entschlossen (Zwantzig 1706:[2] [unpag. Vorrede]). Ganz ähnliche Formulierungen finden sich auch in anderen zeremonialwissenschaftlichen Werken. Adressaten waren also unter anderen junge Adelige oder Gesandte, die bei ihrem Aufenthalt an fremden Höfen über ein umfangreiches Handlungswissen verfügen mussten, um erfolgreich kommunizieren zu können (vgl. Vec 1998:192-204; Weber 1992:31-42). Welche Fallstricke sich einem angehenden Aulicus Politicus dabei bieten konnten, sei zunächst kurz an einem Beispiel demonstriert.
Am 1. Januar des Jahres 1688 traf ein junger Adeliger aus Sachsen in Beglei- tung seines Hofmeisters und etlichen Gefolges in Madrid ein. Der Graf von Leisnig, wie er sich selbst nannte, befand sich auf einer Kavalierstour, die ihn zunächst nach Frankreich geführt hatte, wo er sich bereits mehrere Monate bei Hof aufgehalten hatte (vgl. zum Folgenden Keller 1994:181-390, 429-49; allg. zum Phänomen der Kavalierstour Babel/Paravicini 2005; Leibetseder 2004; Stannek 2001). Wie zuvor schon in Versailles erhielt man indes auch in Madrid bald Kenntnis von der wahren Identität des Grafen. Hinter dem Pseudonym verbarg sich der damals achtzehnjährige sächsische Kurprinz Friedrich August, der spätere August der Starke. Dass der nachgeborene Sohn aus dem sächsischen Kurhaus nur fünf Jahre später anstelle seines überraschend ver- storbenen älteren Bruders Kurfürst von Sachsen und 1697 gar polnischer Kö- nig werden sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt freilich noch niemand ahnen. Dennoch reiste er nicht ohne Grund inkognito, wobei er dem Beispiel anderer junger Adeliger aus regierenden Fürstenhäusern folgte (vgl. Conrads 2005). Gerade für die deutschen Kurfürsten stand bei ihren Kontakten mit anderen Höfen stets besonders viel auf dem Spiel. Dies hing damit zusammen, dass ihr völkerrechtlicher Status umstritten war (vgl. Stollberg-Rilinger 2002:16-22; Duchhardt 2000:82; Gotthard 1999:742, 819). Um daraus resultierende Proble- me, das hieß vor allem zeremonielle Rangstreitigkeiten zu vermeiden, reiste Friedrich August also als Graf von Leisnig. Schon die Wahl des Pseudonyms konnte jedoch als Hinweis auf seine wahre Identität aufgefasst werden. Die Familie der Grafen von Leisnig war schon seit langem im Mannesstamm aus- gestorben und ihre Herrschaft in den Besitz des sächsischen Kurhauses über-
gegangen (Keller 1994:481).
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In Frankreich erfüllte dieses keineswegs unübliche Spiel mit dem Inkognito auch seinen Zweck. Nur wenige Tage nach Friedrich Augusts Ankunft in Paris kam es zu einem informellen Zusammentreffen mit Ludwig XIV. unter Umge- hung des sonst in Versailles üblichen Zeremoniells (Keller 1994:201-204). In Madrid hingegen gestalteten sich die Dinge ungleich schwieriger. Nach mehr als dreiwöchigen, überaus zähen Verhandlungen mit dem Königlichen Kam- merherrn, dem Conde de Galve, bei denen der Hofmeister des jungen Prinzen Beistand vom kaiserlichen Gesandten in Madrid, Graf von Mansfeld, erhielt, willigte man auf spanischer Seite endlich in ein informelles Treffen ein. Und am 29. Januar 1688 konnte Friedrich August seinem Vater endlich stolz nach Hause berichten: „Der König hat mir mit den hut under den armen und in einem abarten gemage empfangen, welches noch keinen wieder fahrren ist“ (Keller 1994:266).
Die tiefere Bedeutung dieser ebenso knappen wie emphatischen Mitteilung er- schließt sich dem modernen Betrachter nicht sofort. Um sie zu begreifen, muss man zunächst wissen, dass dem Lüften der Kopfbedeckung innerhalb des zeit- genössischen diplomatischen Zeremoniells eine Bedeutung zukam, die weit über die uns noch heute vertraute Geste der Ehrerbietung hinausweist. Das Privileg, mit bedecktem Haupt das Wort an einen Monarchen zu richten, kam zu dieser Zeit auch an den anderen europäischen Höfen grundsätzlich nur den Gesandten anderer gekrönter Häupter und denen der ‚freien Republiken’ Venedigs und der Niederlande zu. Überspitzt formuliert könnte man sagen: die Frage der Souveränität eines Staatsoberhaupts, war auch und nicht zuletzt eine Frage der Kopfbedeckung seiner Gesandten (vgl. Corfield 1991:11; Wolf
2006:158).
In Spanien wurde dieser im ganzen frühneuzeitlichen Europa übliche Zei- chengebrauch jedoch noch durch eine ganz spezifische, innerspanische
‚Hutsemantik’ überlagert. Innerhalb des spanischen Hofzeremoniells war es nämlich das exklusive Privileg der Granden, also der Angehörigen des spani- schen Hochadels, den Hut in Gegenwart des Königs aufzubehalten bzw. ihn nach der Aufforderung: „¡Cubríos!“ durch den Monarchen wieder aufzusetzen. So lautete auch der für die Verleihung des Titels Grande konstitutive per- formative Sprechakt. (vgl. Carrillo 1998 [1657]:32-52). Da nun bei einer offiziellen Audienz für einen auswärtigen Diplomaten stets auch die gerade
am Hof befindlichen Granden anwesend waren, konnten sich äußerst diffizile
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Rangfragen ergeben (zum diplomatischen Zeremoniell am spanischen Hof vgl. Hofmann 1985:135-139; speziell zum Problem interkultureller Verstän- digungsschwierigkeiten Weller 2007a, b, c). Und eben dies war auch im vorliegenden Fall der Grund dafür, dass sich die Verhandlungen in die Länge zogen. Ein informelles Treffen zwischen dem König und dem inkognito reisenden sächsischen Kurprinzen wurde von spanischer Seite zunächst kate- gorisch abgelehnt. Bei einer offiziellen Audienz aber hätten die anwesenden Granden Friedrich August kaum gestattet, den Hut aufzubehalten. Christian August von Haxthausen, der Hofmeister des jungen Prinzen, wusste jedoch genau, was aus Sicht des sächsischen Kurhauses auf dem Spiel stand und zeigte sich daher in den Verhandlungen unnachgiebig. Wenn es durchaus nicht möglich sei, dass sein Herr „ […] dem Könige ohne ceremonien den reverentz macht“, so ließ er den Conde de Galve wissen, „ […] sondern es in gegenwart der Grandes geschehen müste, welche gedeckt weren“, obwohl sie doch dem sächsischen Kurprinzen „an geburt und stande bey weitem nicht gleich kämen“, dann würde Friedrich August lieber auf eine persönliche Be- gegnung mit dem König verzichten, „alß etwas zuthun, dass seinem hohen hauße prejudicirlich seyn könnte“ (Keller 1994:256).
Der geschilderte Vorfall macht zunächst deutlich, dass es hier jedenfalls aus Sicht der Beteiligten keineswegs um Äußerlichkeiten oder persönliche Eitel- keiten ging. Hinter der scheinbar nebensächlichen Frage nach der Kopfbede- ckung des Königs und des inkognito reisenden sächsischen Kurprinzen ver- bargen sich schwerwiegende völkerrechtliche Probleme. Der Anspruch der sächsischen Kurfürsten auf Souveränität und damit auf Gleichrangigkeit mit den gekrönten Häuptern bzw. auf Präeminenz vor dem übrigen europäischen Hochadel wurde durch die nach langen Verhandlungen gefundene Lösung weder zurückgewiesen noch bestätigt. Dies unterstreicht zugleich, dass der Rang des sächsischen Kurhauses innerhalb der europäischen Adelsgesellschaft keineswegs feststand, sondern gewissermaßen stets aufs neue symbolisch gel- tend gemacht und austariert werden musste. Schon ein einmaliges Zugeständ- nis gegenüber den konkurrierenden Geltungsansprüchen anderer Akteure konnte dabei ein Präjudiz für künftige Fälle schaffen und die eigene Position dauerhaft schwächen. Das Agieren auf der zeremoniellen Bühne verlangte also höchstes Geschick und setzte vor allem umfangreiche Kenntnisse über zeremonielle Fragen voraus, ein Wissen, dass sich Friedrich August zu dieser
Zeit erst aneignen musste, wobei er auf die Dienste eines erfahrenen
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Hofmeisters angewiesen war, da dergleichen Dinge, wie Zwantzig in seinem Theatrum Praecedentiae so treffend bemerkt, „rarement publique“ zu finden waren.
Nachrichten über die zeremoniellen Gepflogenheiten etwa bei Gesandten- empfängen wurden zwar an den Höfen archiviert, um aus gegebenem Anlass darauf zurückgreifen und sich bei etwaigen Zeremonialstreitigkeiten auf die bisherige Observanz berufen zu können. Das entsprechende Material gehörte aber in der Regel zu den Arcana und war für Unbefugte nicht ohne weiteres zugänglich (Vec 1998:251-255; vgl. dazu allg. Stolleis 1980; Kunisch 1997). Mit der Veröffentlichung dieses Wissens war stets auch ein gewisses Risiko ver- bunden, wie etwa das Beispiel des Ceremoniale Brandenburgicum zeigt, dessen Verkauf noch im Jahr seines Erscheinens (1699) verboten wurde (Vec 1998:15,
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„Verwunderung“ der Leser zu erregen (Lünig 1719:5), um so die Majestas des
Monarchen zu befördern.
Auf das Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Geheimnis im Zusammenhang mit der Verbreitung zeremoniellen Wissens kann hier nicht näher eingegangen werden (vgl. dazu ausführlich Vec 1998:227-269; Berns
1982; allg. Hölscher 1979). Vor diesem Hintergrund lässt sich aber leicht
ermessen, von welch kaum zu überschätzendem Wert eine Materialsammlung wie die Lünigs war, zu deren Zusammenstellung ein ausgedehntes Netzwerk von Informanten und ein schier unerschöpflicher Sammeleifer erforderlich waren. Nach Lünigs eigenen Angaben habe das Werk vornehmlich seine „ […] bisherige weitläuffige Correspondenz zum Fundament“ (Lünig 1719:[6] [unpag. Vorrede]). Der Verfasser hatte nach einem Studium der Jurisprudenz an den Universitäten Jena und Halle weite Reisen im Gefolge von Adeligen und im Militärdienst unternommen. Schon zu dieser Zeit hatte er wohl auch damit begonnen, einschlägiges Material zu sammeln und Kontakte zu Infor- manten zu knüpfen. Lünigs Sammel- und Publikationseifer beschränkte sich allerdings keineswegs auf das Gebiet der Zeremonialwissenschaft. Vielmehr
machte der seit 1700 als Leipziger Stadtschreiber tätige Autor noch durch eine
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ganze Reihe weiterer Publikationen zu unterschiedlichen Rechtsgegenständen von sich reden.2
Zwar ist über die Auflagenhöhe von Lünigs Theatrum ceremoniale nichts bekannt, aber die Zahl der Nachweise in heutigen Bibliothekskatalogen deutet darauf hin, dass sich Lünigs Werk ausgesprochen gut verkaufte. Das heute im Besitz der Universitätsbibliothek Münster befindliche Exemplar stammt übri- gens aus dem Nachlass der Familie von Haxthausen. Allerdings handelte es sich dabei um den westfälischen und nicht um den sächsischen Zweig der Fa- milie (vgl. Czach 1988, Heßelmann 1992). Christian August von Haxthausen, der den jungen Kurprinzen 1688 nach Spanien begleitete und später unter August dem Starken noch bis zum Geheimen Rat und zum Oberkämmerer am sächsisch-polnischen Hof aufstieg, scheidet als Vorbesitzer überdies schon deshalb aus, weil er das Erscheinen von Lünigs Werk nicht mehr erlebte; er verstarb 1696 (vgl. Rennert 1929:177). Für seine Tätigkeit als Reisebegleiter des jungen Prinzen und als kursächsischer Diplomat in Wien hätte es ihm aber sicher gute Dienste geleistet. So finden sich bei Lünig (1719:343, 469-474;
1720:1036) denn auch alle relevanten Informationen über das Hutzeremoniell am spanischen Hof im Allgemeinen und bei Gesandtenempfängen im Beson- deren.3
Die Leser zeremonialwissenschaftlicher Literatur waren aber nicht ausnahms- los Adelige oder in höfischen Diensten stehende Gelehrte. Auch im stadtbür- gerlichen Kontext erfreuten sich die Werke der Zeremonialwissenschaftler augenscheinlich größter Beliebtheit, was nicht unbeträchtlich dazu bei- getragen haben dürfte, dass das „Ceremonie=Werck“ mehr und mehr „auch unter geringen Personen einreißen will“, wie Christian Weise (1693:82) beklagte. Auch Lünig (1720:1316) sah es als ein Faktum an, dass „die
2 Am bekanntesten ist wohl das zwischen 1710 und 1722 in 24 Bänden erschienene Teutsche Reichs=Archiv, die zu seiner Zeit wichtigste Sammlung von Reichsgesetzen, sowie der eben- falls von Lünig zusammengestellte Codex Augusteus, eine vergleichbare Gesetzessammlung für das Kurfürstentum Sachsen. Darüber hinaus publizierte Lünig noch rund 80 weitere Bän- de zu unterschiedlichen Gegenständen (vgl. Repgen 1981: 241–242; Roeck 1987).
3 Über den gerade geschilderten Zeremonialkonflikt zwischen dem jungen sächsischen Kurprinzen und den spanischen Granden berichtet Lünig allerdings nichts. Dies ist um so er- staunlicher, als das Hofreisejournal, das Christian August von Haxthausen während der Ka- valierstour des Kurprinzen anlegte, nicht nur im Geheimen Archiv des Dresdener Hofes auf- bewahrt worden ist. In der Universitätsbibliothek Leipzig lässt sich auch eine Abschrift aus den Beständen der ehemaligen Leipziger Ratsbibliothek nachweisen (Keller 1992:15), die Lü- nig als Leipziger Stadtschreiber zugänglich gewesen sein muss.
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Geringern denen Obern gerne nachäffen“, wobei „das Hof=Ceremoniel am meisten Grund zur Nachahmung“ biete. Und er musste sich zugleich darüber im Klaren sein, dass er mit seinem Theatrum ceremoniale dieser Entwicklung Vorschub leistete. Seiner Auffassung nach war die Nachahmung des höfischen Zeremoniells „ […] auf gewisse Maße nicht unrecht [...], wenn es [das Zeremoniell – T.W.] nur auf eine geziemende Weise applicirt wird, und jeder seinem Stande nach, hierinnen ab- und zugiebet, auch nichts outriret und sich ridicul machet“ (Lünig 1720:1316).
Die Befürchtung, sich „ridicul“ zu machen, hegte Lünig selbst offenbar nicht, als er kurz nach dem Antritt seiner Stelle als Stadtschreiber in Leipzig in Streit mit einigen jüngeren Ratsherren über den ihm vom Amts wegen zustehenden Rang in der Trauerprozession geriet (vgl. Weller 2006:1-3). In sein siebzehn Jahre nach diesem Vorfall veröffentlichtes Theatrum Ceremoniale fand Lünigs eigener Rangstreit jedoch keine Aufnahme, wie überhaupt das „Ceremoniel der Privatpersonen“ und die „ritus subditorum“ Lünig (1720:1316-1317, 1338) allenfalls kurze Erwähnungen wert waren. Der enzyklopädische Anspruch von Lünigs Materialsammlung – immerhin finden sich dort auch Abschnitte über so exotische Gegenstände wie das Zeremoniell am Hof des Kaisers von Japan oder des Königs von Siam (Lünig 1720:1461-1463) – hatte hier also seine Grenzen.
Lünigs Streit mit den jüngeren Ratsherren war aber beileibe kein Einzelfall, sondern ist nur eines von vielen Beispielen für eine kaum zu überblickende Zahl von Präzedenzstreitigkeiten und Zeremonialkonflikten unter Ratsherren, Gelehrten, landesherrlichen und städtischen Beamten bis hinunter zu Hand- werkern und Dienstmägden (vgl. Peters 1985; Stollberg-Rilinger 2001; Füssel
2006; Weller 2006). Die offenkundige Zunahme solcher Auseinandersetzungen auch auf den unteren Ebenen der sozialen Hierarchie, wie sie sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nachweisen lässt, ist sicherlich nicht allein der Verbreitung und Diffusion zeremoniellen Handlungswissens durch die Publikationen der Zeremonialwissenschaftler zuzuschreiben, zwischen gelehr- tem Diskurs und sozialer Praxis bestand aber gleichwohl eine nicht zu über- sehende Wechselwirkung (vgl. Weller 2006:383-398).
Dabei war vor allem eines nicht mehr zu übersehen: Die gesellschaftliche Ord- nung, wie sie im Zeremoniell sichtbar gemacht und stets aufs Neue symbo- lisch bekräftigt und performativ hergestellt wurde, erwies sich in der Praxis
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als weitaus dynamischer und flexibler, als dies die tradierten und nach wie vor wirkmächtigen kosmologischen Ordnungsvorstellungen suggerierten. Der Umstand, dass die von den Autoren beschriebenen Zeremonien ständigen Veränderungen unterlagen, dass die vermeintlich starre, gottgegebene Ord- nung, wie sie im Zeremoniell zum Ausdruck kommen sollte, eben gar nicht so starr – und vielleicht nicht einmal gottgegeben – war, musste langfristig zu einer Entzauberung des Zeremoniells und damit auch der Zeremonial- wissenschaften führen. Dieser Prozess lässt sich am weiteren Schicksal von Lünigs Werk geradezu exemplarisch ablesen: Das Theatrum ceremoniale wurde zwar noch bis über das 18. Jahrhundert hinaus immer wieder als Quellen- sammlung verwendet – wenngleich Pütter (1789:54) bereits bemängelte, das Werk sei in Teilen veraltet –, erlebte aber bezeichnenderweise keine zweite Auflage mehr und fand auch keine Nachahmer. Offenbar war niemand mehr bereit, derartige Mühen auf sich zu nehmen, um die verstreuten und einem immer schnelleren Wandel unterliegendenden zeremoniellen Wissens- bestände zusammenzutragen, zu ordnen und vor allem zu aktualisieren.
3. Theatrum mundi oder Wissenstheater? Die Theatrum-Metapher und ihr Bedeutungsgehalt im Kontext der Zeremonialwissenschaft
Mit den Werken von Zwantzig und Lünig hatte die Zeremonialwissenschaft also bereits ihren Zenit erreicht. Um so augenfälliger ist es, dass sich gerade diese beiden Autoren für einen Theatrum-Titel entschieden. Es erscheint keineswegs abwegig, in der Titelwahl Reminiszenzen an die barocke Lehre vom Theatrum Mundi zu sehen. Betrachtet man besonders Lünigs Theatrum ceremoniale näher, so erscheint diese Lesart jedoch in mindestens einer Hinsicht fragwürdig. Wenn die Präsentation des zeremoniellen Wissens in erster Linie dazu dienen sollte, den Sinn des Spiels, die hinter dem Geschehen auf dem Theatrum verborgene göttliche Ordnung zu erkennen, wie Vec (1998:173) un- terstellt, so muss die mangelnde Ordnung und Systematik der Darstellung doch irritieren – ein Defizit, dass übrigens auch die Zeitgenossen verschiedent- lich bemängelten. So schrieb etwa Carl Renatus Hausen (1766: 29) über Lünigs Theatrum ceremoniale:
„Seine Sammlungen sind dahero auch sehr mangelhaft und unvoll- kommen, ohne alle Wahl, Ordung, Verbindung, mit einem Worte ohne Geist, und ohne Geschmack, und sie würden gewiß schon alle
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der Vergessenheit, und einer traurigen Zerstörung aufgeopfert seyn [...] wenn wir andere an deren Stelle hätten, die von einem mehr ausgebreiteten Nutzen wären“.
Obgleich Hausen also den praktischen Nutzen der Materialsammlung hervor- hebt, so erscheint ihm die Art und Weise, wie das Material zusammengestellt worden ist, doch geradezu willkürlich und ohne jede erkennbare Ordnung.
Die Kritik der Zeitgenossen darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Lünig selbst ganz ausdrücklich für eine systematische Darstellung aus- spricht. So lobt er in seiner Vorrede unter seinen Vorgängern besonders Stieve (1715), weil dieser im Gegensatz zu Leti (1685) und Winterfeld (1702)
„methodicè geschrieben“ und „allenthalben eine gute Ordnung gehalten“ habe (Lünig 1719:[5] unpag. Vorrrede). Dies legt die Vermutung nahe, Lünig sei gewissermaßen wider besseren Willens an der schier überbordenden Kom- plexität seines Gegenstandes gescheitert. Hinter der Art und Weise, wie Lünig dem Leser sein Material präsentiert, steckt aber sicher mehr als nur Unvermö- gen.
Zwischen der auch bei Lünig immer noch virulenten Vorstellung einer letzt- lich gottgegebenen, objektiven Ordnung der Dinge, die auch in den hierarchi- schen Beziehungen der Menschen untereinander zum Ausdruck kommt – oder besser: idealiter zum Ausdruck kommen sollte –, und der in der sozialen Praxis zu beobachtenden Dynamik und Komplexität eben dieser Beziehungen, tat sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereits eine gewaltige Kluft auf. Die unmittelbare Verweisfunktion des Zeremoniells als idealer Ausdruck der gott- gegebenen Ordnung war fragwürdig geworden. Der zeremonielle Rang galt vielen Autoren nur noch als äußeres Zeichen, das sich mit seinem inneren Gehalt nicht mehr notwendig decken musste. Angesichts dieses Dilemmas empfahlen viele Zeremonialwissenschaftler den zuständigen Obrigkeiten als einzig probates Mittel den Erlass möglichst detaillierter Rangreglements, um auf diese Weise die Lesbarkeit der zeremoniellen Zeichen zu gewährleisten beziehungsweise wiederherzustellen. So schrieb etwa Julius Bernhard von Rohr (1990a [1728]:107) noch im Jahre 1728:
„Es wäre zu wünschen, daß in den Landes=Gesetzen und Policey=Ordnungen mehr darauf gesehen würde, also nicht zu ge- schehen pflegt. Hätte man allgemeine Rang=Ordungen, darinnen die Range aller Unterthanen, so viel als möglich vorgeschrieben [...] so würde mancher hieraus zu erwachsenden Unordnung, und
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manchen unnützen Rang=Streitigkeiten vorgebeuget werden, und die Richter hätten nahgehends sichrere und bessere Fundamenta darnach sie zu sprechen hätten“.
Wie andere Autoren war sich allerdings auch von Rohr der begrenzten Reich- weite der von ihm empfohlenen Maßnahme durchaus bewusst. So muss er im selben Atemzug einräumen, dass dort, wo solche positiven Rangordnungen bereits existierten, nämlich an den Fürstenhöfen, die vorhandenen Ordnungen
„ […] größtentheils ein gar unvollständiges principium regulativum […]“ ab-
gäben (von Rohr 1990a [1728]:108). In der Praxis blieb als einziges mögliches Regulativ bei Präzedenzstreitigkeiten meist nur „ […] die wenige Observanz und Possess […]“, wie von Rohr (1990a [1728]:108) überaus treffend feststellte. Dies galt um so mehr für Rangstreitigkeiten zwischen souveränen Fürsten, die keinen Richter über sich akzeptierten. So stellt auch Zacharias Zwantzig im Vorwort fest, dass die Rang- und Präzedenzstreitigkeiten „ […] niemahlen allesamt finaliter definiret noch decidiret werden können“, weswegen „sich offtgedachte hohe Potentzen [...] an die Possession hielten, nemlich [...] wie hoch eines jeden Rang und Praecedentz von alters oder die letzten Zeiten her gegangen“.
Entscheidend in Rangfragen war also letztlich die zeremonielle Praxis selbst und nicht mehr das, was sie dem Anspruch nach bezeichnen sollte. Und so er- klärt sich vielleicht auch die Art und Weise der Darstellung des zeremoniellen Wissens bei Lünig und Zwantzig. Der bewusste Verzicht auf eine systemati- sche Durchdringung der Materie und die bloße Zurschaustellung des gesam- melten Materials war letztlich die dem Gegenstand angemessenste Form der Darstellung. In diese Richtung äußert sich auch Zwantzig (1706:[2] [unpag. Vorrede]) in seiner Vorrede:
„[...] desfals man in ipso Contextu & Serie dieses Tractats in denen titulis & Capitibus auch keine Ordnunge halten, sondern nur dasje- nige, was man in Praecedentz-Streit-Sachen und Ceremonialibus grosser Printzen, Staaten und Herren und von dergleichen Rang und Dignität [...] fürnehmlich in Authentiquen Nachrichten gelesen und bei grosser Herren Verschickung gehöret, gesehen und verzeichnet, dem Geneigten und Geliebten Leser kund zu machen“.
Der Leser wird also selbst in die Position des Zuschauers versetzt, das
Theatrum Praecedentiae präsentiert sich ihm in seiner Unmittelbarkeit, die beschriebenen Zeremonien und Konflikte sind im buchstäblichen Sinne
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Anschauungsmaterial. Damit gewinnt auch die Theatrum-Metapher im Titel eine andere Bedeutung. Die barocke Vorstellung von der Welt als Theater ist bei Lünig und Zwantzig zwar immer noch präsent; im Mittelpunkt steht hier aber bereits weniger die Präsentation eines als weitgehend statisch imaginierten, wohlgeordneten sozialen Kosmos, der als unmittelbares Spiegelbild der gottgegebenen Ordnung gelesen werden kann, als vielmehr die Zurschaustellung von dynamisch aufeinander bezogenen zeremoniellen Inszenierungen, deren kosmologische Verweisfunktion inzwischen fragwürdig geworden ist, die aber für den Fortbestand der sozialen Ordnung gleichwohl weiterhin konstitutiv und unverzichtbar sind. Zwantzigs Theatrum Praecedentiae und Lünigs Theatrum Ceremoniale sind in diesem Sinne Schau- Plätze – allerdings aus Sicht der Zeitgenossen durchaus keine Schauplätze der Eitelkeiten.
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Teutschen Landes-Fürsten insonderheit, so wohl in ihren Häusern, in Ansehung ihrer selbst, ihrer Familie und Bedienten, als auch gegen ihre Mit-Regenten, und gegen ihre Unterthanen bey Kriegs- und Friedens-Zeiten zu beobachten pflegen; Nebst den mancherley Arten der Divertissements vorträgt / sie so viel hin und wieder mit einigen historischen Anmerckungen aus den alten und neuen Geschichten erläutert, ausgearbeitet von Julio Berhard von Rohr, Weinheim [Neudr. d. 2. Aufl. Berlin 1733].
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Winterfeld, Friedrich Wilhelm von (1700): Teutsche und Ceremonial-Politica, Deren Erster Theil Eine vollständige Politicam, der andere aber Eine Ceremonial-Politicam Durch Aufführung der neuesten Exempel / so wohl bey Freuden- Trauer und anderen Fällen / Reichs- Wahl- und Deputation-Tägen und Conventen / Crönungen / Absetz- und Abdancken hoher Personen / Lehens- Empfängnüßen / Kriegs- und Friedenshandlungen / Gesandtschafften /
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