1.
1. Einleitung
Das Jahr 2015 markiert für Europa einen tiefen Einschnitt: Geprägt durch Terroranschläge sowie die Euro- und Flüchtlingskrise avanciert es im kommunikativen Gedächtnis zu einem Krisenjahr. Für die europäische Flüchtlingskrise bildet es den Auftakt eines bis ins Folgejahr anhaltenden Trends, bei dem ein Rekordniveau Schutzsuchender erreicht wurde. Nach Angaben des vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNCHR) vorgelegten Jahresberichts verließen im Jahr 2015 weltweit insgesamt 65,3 Millionen Menschen ihre Heimat. Die Zahlen des europäischen Statistikamts Eurostat zeigen, dass in der Europäischen Union allein in den ersten sechs Monaten des Jahres eine Steigerung von 85 Prozent Schutzsuchender zu verzeichnen war (vgl. Lehmann 2015). Im Laufe des Jahres 2015 flohen allein mehr als eine Million Menschen über das Mittelmeer nach Europa.
Vor diesem Hintergrund wollen wir der Krise, wie sie vermittelt über Metaphern und Metonymien ihren Weg ins Bewusstsein der Öffentlichkeit findet, an ihrem europäischen Ursprungsort nachgehen, dort wo sie erstmals ins europäische Bewusstsein und den öffentlichen Diskurs eindrang – und dann beinahe vergessen worden schien: im italienischen Lampedusa. Aufgrund der Lage von Lampedusa mit einer Entfernung von rund 100 km von der tunesischen Grenze wird die 20 km² große Mittelmeerinsel geographisch Afrika zugeordnet, politisch gehört sie jedoch zu Italien (vgl. Reckinger 2013). Diese Konstellation bewirkt, dass das rund 5700 Einwohner zählende Lampedusa – bereits vor der „Flüchtlingskrise“ – als Einwanderungsziel und – metaphorisch gesprochen – Tor zu Europa geradezu prädestiniert war. Verstärkend wirkten sich die Bestimmungen des Schengener Abkommens aus:
Seit die Europäische Union 1995 begonnen hat, ihre inneren Grenzkontrollen abzubauen, bedeutet die Einreise in ein europäisches Land auch gleichzeitig die Reisemöglichkeit in alle anderen Schengen-Länder. Wer einmal illegal die europäische Außengrenze überschreitet, kann ungehindert in die anderen EU-Länder reisen. Die illegale Zuwanderung wird dadurch von einem nationalen zu einem gesamteuropäischen Problem. Die Staaten mit einer EU-Außengrenze sichern diese nicht nur in ihrem eigenen Interesse, sondern setzen damit die Interessen aller EU-Länder durch. Die illegale Einreise in die Festung Europa hat mit der innereuropäischen Grenzöffnung für Flüchtlinge an Attraktivität gewonnen (Fohrn 2009: 96).
Bereits in den 1990er Jahren legten vereinzelt Flüchtlingsboote auf Lampedusa an. Ein erster Höhepunkt wurde 2008 mit der Ankunft von 36000 Flüchtenden erreicht (vgl. Reckinger 2013). Die Lage eskalierte im Januar 2009 und löste einen Generalstreik aus: Nachdem binnen drei Tagen rund 2000 Bootsflüchtlinge das überfüllte Auffanglager der Insel erreicht hatten, solidarisierten sich die lampedusani mit den Migranten und protestierten gegen die unhaltbaren hygienischen Zustände und die Unterbringung im Freien trotz winterlicher Temperaturen. In der Folge sorgten Silvio Berlusconi und Roberto Maroni (Lega Nord) mit ihrer drastischen Abschiebepolitik für einen Rückgang der Flüchtlingszahlen. Das Auffanglager Contrada d'Imbriacola wurde geschlossen, bis der Arabische Frühling 2011 ein erneutes Hochschnellen der Flüchtlingszahlen bewirkte (vgl. Reckinger 2013). 2015 fand die Zahl der Geflüchteten, die auf Lampedusa Zuflucht suchten, dann ihren vorläufigen Höhepunkt. Im Zuge der Flüchtlingskrise von 2015 ist Lampedusa jedoch nicht mehr das unangefochtene mediale pars pro toto in der Berichterstattung über der Flüchtlingskrise. Es ist fast gänzlich aus den Nachrichtensendungen des europäischen Kontinents verschwunden, verdrängt von einer paneuropäischen Überwältigung von Bildern, Orten und Geschichten der Flucht sowie der Flüchtenden. Ein pars pro toto, so scheint es im Jahr 2015, wird dieser europa- sowie weltweiten humanitären Krise nicht mehr gerecht. Der Kontinent braucht offenbar andere sprachliche Strategien, um diese Krise zu erfassen und zu verstehen. Wie aber sehen diese Strategien aus? Wie begreift der Mensch das für das seit Jahrzehnten friedliche Europa so Unbegreifliche? In welche Worte kleidet er das Leid, die Angst, die Hoffnung? Die Vermutung, dass diese bildgewaltige und medial dauerpräsente Krise im öffentlichen Diskurs mit Metaphern und Metonymien versprachlicht wird, liegt nahe. Sie drücken Denkmuster in verdichteter Form aus und entwickeln somit in komplexen Krisen erfolgversprechende Kategorisierungsmuster und Argumentationsstrategien. Von entscheidender Bedeutung dabei ist die Frage, welche Metaphern und Metonymien Anwendung finden.
Um dieser Fragestellung nachzugehen, analysieren wir in diesem Beitrag den öffentlichen Diskurs in der italienischen Presse zur Flüchtlingskrise auf Lampedusa im Jahr 2015. Wir tun dies für einen Zeitraum, in dem Lampedusa im Flüchtlingsdiskurs des gesamten europäischen Kontinents eine entscheidende Rolle zu spielen begann, also nach der schweren Schiffskatastrophe im Frühling 2015. Dieses im Zentrum von Zivilgesellschaft und Politik angesiedelte, öffentlich ausgehandelte, brisante Thema lässt sich in theoretischer und methodischer Hinsicht mit einem diskursanalytischen Ansatz fassen:
Die Diskursanalyse ist Methode, Theorie und Haltung zugleich. Sie zielt […] auf die semantische Tiefenstruktur vorzugsweise schriftlicher Texte, die in ihrem Zusammenspiel einen individuellen Diskurs bilden. Die Diskursanalyse ist erkenntnis- und sprachtheoretisch konstruktivistisch orientiert und teilt damit die Stärken, aber auch die Probleme solcher Ansätze. Ihre Stellung im Fach wird von diesem konstruktivistischen Credo bestimmt, dem Verständnis von Sprachwissenschaft als einer Kulturwissenschaft und, damit einhergehend, der Ablehnung einer als reduktionistisch verstandenen Linguistik. […] In methodischer Hinsicht bedeutet die Etablierung der Diskursanalyse eine attraktive Erweiterung der Möglichkeiten eines linguistischen Interpretierens (Gardt 2007: 40).
Die deskriptive Diskursanalyse, die an der Schnittstelle von Sprach- und Gesellschaftswissenschaft angesiedelt ist, bildet damit den einenden und rahmenden Ausgangspunkt unserer Untersuchung.
2. Diskurslinguistische Metaphernanalyse: Metaphern als Argumentationslinien in Krisendiskursen
In der deskriptiven Diskursanalyse werden Metaphern nicht als rhetorisches Mittel bzw. Ornament, sondern als semantisches Vehikel verstanden, mit dem „Einstellungen und Werte“ (Pielenz 1993: 141) sowie „Mentalitäten“ (Wengeler 2009: 1637) und Argumentationen komprimiert versprachlicht werden können:
Metaphern [...] ist ein argumentatives Inferenzpotential inhärent, das auf dem Projektionsprozess basiert. Durch die bloße Nennung der Metapher kann mit ihnen ein Schlussprozess in Gang gesetzt werden. Das Inferenzpotential von Metaphern kann zudem persuasiv fungieren […]. Einzelne Metaphernlexeme können innerhalb von Diskursen die Funktion von Argumentationsmustern erhalten. Mit ihnen können Meinungen evoziert und bedient sowie Einstellungen vermittelt werden (Spieß 2017: 101).
Die von Spieß angesprochene argumentatorische Leistung der Metapher qua Argumentationsmuster führt Pielenz (1993: 173) darauf zurück, dass sie analog wie ein Topos im Sinne von Aristoteles gebraucht wird und „bei alltäglicher Argumentationsnot quasi-topisch zum Einsatz kommt“. Die argumentative Kraft von Metaphern speist sich außerdem aus ihrem breit angelegten pragmatischen und semantischen Funktionsspektrum. So werden sie verwendet, um Abstraktes oder Neues zu konzeptualisieren und zu bezeichnen, um durch eine ihnen inhärente Bildlichkeit zu plausibilisieren. „Dabei ist mit dem Gebrauch von Metaphern häufig ein Effekt der Übertreibung und Dramatisierung oder auch Untertreibung und Euphematisierung verbunden. Daher können Metaphern eine argumentative Überzeugungsfunktion der […] unterschwellig-suggestiven Art übernehmen“ (Böke 2000: 131). Über diese Funktion, Argumentationsmuster im Diskurs aufzudecken, haben Metaphern das Potenzial, im vorliegenden Kontext einen Zugang zur sprachlichen Konstruktion und Aushandlung brisanter öffentlicher Themen und damit letztlich zu Gesellschaftserzählungen zu eröffnen. Durch die Sicht auf den metaphorischen Sprachgebrauch als Bestandteil bzw. Spiegel der Zeit- und Sozialgeschichte steht nicht das kognitive, den Alltag strukturierende Potential von Metaphern im Fokus des Ansatzes, sondern ihre Auffassung als sozio-pragmatisches Phänomen (vgl. Spieß 2017a: 95), das im Hinblick auf die Erforschung brisanter Semantiken fruchtbar gemacht wird.
Um die thematische Verfasstheit und das Implikationspotential des aktuellen Diskurses zur Flüchtlingskrise in Lampedusa offenzulegen, stehen nicht vereinzelte, okkasionelle Metaphern (bzw. Metonymien), sondern habitualisierte Metaphern – also usuelle Bestandteile von Diskursen – und ihre Organisation in semantischen Feldern im Vordergrund der Analyse. Diese Perspektive auf systematisierte Metaphernkomplexe geht davon aus, dass sich um eine bestimmte Metapher herum weitere, ähnliche Metaphern aus dem gleichen Sachbereich finden und somit Isotopien ausbilden. Dieses gehäufte Auftreten von Metaphern aus dem gleichen Bildspenderbereich lässt sich mit dem Textsortenkonzept, aber auch mit Diskurstraditionen und diskursiven Bildfeldgemeinschaften (Weinrich 1976) erklären:
Die Beachtung der gängigen Bildbereiche und -felder verspricht […] kommunikativen Erfolg. […] Die Schöpfung von Metaphern durch die Sprecher folgt also nicht nur fundamentalen Regeln der Assoziation, sie kann vielmehr ganz konkreten sozialen, kulturellen und sprachlichen Konventionen folgen (Blank 1997: 176).
Im Diskurs zur Immigration in der BRD sowie im spanischen und italienischem Diskurs spielt nach einem ersten Einblick die Wassermetaphorik (Strom-, Zustrom- und Wellenmetaphern) eine herausragende Rolle (vgl. Böke 2000: 131ff.; Gruber i. Dr.). Nach Weinrichs Theorie der abendländischen Bildfeldgemeinschaft (Weinrich 1976: 285) gehen wir also von der These aus, dass auch die Wassermetaphorik eines der zentralen Bildfelder darstellt, das den italienischen Flüchtlingsdiskurs strukturiert.
3. Wie untersucht man den Metapherngebrauch bei brisanten Themen im öffentlichen Diskurs? – Zum Korpusdesign und methodischen Vorgehen
Um einen Zugang zu einem brisanten Thema in der öffentlichen Diskussion wie dem Einwanderungsdiskurs in Italien zu schaffen, wurde ein Korpus mit italienischen Pressetexten zusammengestellt. Auch wenn gegenwärtig nur etwa 15 % der italienischen Bevölkerung Zeitungen kaufen, zeigen Erhebungen, dass bedingt durch Mehrfachnutzung von Zeitungsexemplaren aktuell rund 20 Mio. Italiener regelmäßig eine Zeitung lesen (vgl. Buffagni/ Foschi Albert/Hepp 2016: 391). Diese Reichweite des Mediums Zeitung spricht für seine grundlegende Bedeutung im öffentlichen Diskurs, und mithin für seine Eignung als Gegenstand einer diskurslinguistischen Auswertung. Vor dem Hintergrund ihrer Mehrfachadressierung sowie ihres transtextuellen Charakters bieten sich Pressetexte außerdem für (deskriptive) Diskursanalysen an, weil durch sie diskursive Musterhaftigkeiten abgeleitet werden können (vgl. Kuck 2015: 97, 100).
Die Erhebung des Korpus erfolgte mithilfe der Datenbank LexisNexis. Das Recherchetool ermöglicht den Zugriff auf internationale Zeitungen und Zeitschriften in digitalisierter Form und enthält über 36.000 Quellen, die als Volltextversion bereitgestellt werden. Für das Italienische sind die wichtigsten überregionalen und auflagestärksten quotidiani wie etwa Corriere della Sera, La Stampa, Il Sole 24 Ore, Il Giornale und La Repubblica enthalten. Außerdem sind im Korpus auch Wochenzeitungen (z.B. L'Espresso) sowie Onlinezeitungen wie Il Messaggero Online vertreten.
Damit ist LexisNexis eine profunde Ausgangsbasis für die Bildung eines Korpus zur Beantwortung diskurslinguistischer Fragestellungen, weil es die Zusammenstellung einer Vielzahl verfügbarer Texte des Gesamtdiskurses ermöglicht. Zugleich bildet es unterschiedliche Diskurspositionen ab, da ein breites Spektrum von Meinungen – Mitte (La Stampa), Mitte-Links (La Repubblica) und Mitte-Rechts (Il Giornale) – abgedeckt wird (vgl. Fohrn 2009: 97). Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die massenmedial relevanten und meinungsbildenden Organe und deren Inhalte berücksichtigt sind und dass der Blick auf den Flüchtlingskrisendiskurs nicht durch eine Beschränkung auf eine bestimmte politische Ausrichtung vorab eingeschränkt wird.
Mikrostrukturell betrachtet sind unterschiedliche Pressetextsorten im Korpus enthalten, die ein breites Spektrum abdecken, das graduell von eher informationsbetont – la notizia ‘Nachricht’, il bollettino ‘Bericht’ – bis hin zu eher meinungsbetont – l'articulo di fondo/l'editoriale ‘Leitartikel’, il commento ‘Kommentar’, il corsivo ‘Glosse’ – reicht (vgl. Buffagni/Foschi Albert/Hepp 2016: 381-382; Haßler 2003: 116). Innerhalb der Zeitungen werden diese Pressetextsorten nach Rubriken wie commenti e incheste ‘Kommentare und Umfragen’, Idee & opinioni ‘Ideen & Meinungen’, lettere e commenti ‘Briefe und Kommentare’ etc. geordnet (vgl. ausführlich Buffagni/Foschi Albert/Hepp 2016: 389).
Das Korpus wurde via LexisNexis thematisch insofern eingegrenzt, als dass jeder Artikel die Schlüsselwörter Lampedusa sowie profug* oder rifugiat* enthalten muss, um sicherzustellen, dass die Beiträge thematisch dem Einwanderungsdiskurs in Lampedusa zuzuordnen sind. Daher wurde die Suchanfrage „Lampedusa AND rifugiat* OR profug*“ gestellt. Weiterhin wurde darauf geachtet, dass Zeitungen sowie Agentur- und Pressemitteilungen mit einbezogen wurden, um den Diskurs auch in seiner vollen Breite abzudecken. Beim Parameter des Zeitraums wurde die Spanne vom 19. April 2015 bis zum 26. April 2015 gewählt. Diese Eingrenzung ist nicht zufällig im Sinne einer randomisierten Stichprobe gesetzt. Vielmehr ist der Startpunkt mit einem disruptiven Ereignis im Diskurs, einem Schiffsunglück, verknüpft, das sich in der Nacht vom 18. auf den 19. April 2015 ereignete. Ein von Libyen aus gestartetes überladenes Flüchtlingsboot mit Kurs auf Italien kenterte im Mittelmeer, dabei ertranken mehrere Hundert Flüchtende. Der zeitliche Endpunkt wurde auf eine Woche gelegt, um die Latenzphase der Hauptberichterstattung über dieses Schlüsselereignis abzudecken, bevor diese wieder abebbt (vgl. ausführlich Kolb 2005 zu Phasen medialer Berichterstattung). Über das punktuelle Ereignis der Tragödie hinaus befindet sich der gewählte Zeitraum in der Hochphase der Flüchtlingskrise und ist damit in die einhergehende Berichterstattung einzuordnen. Während die Tragödie zweifelsohne ein Höchstmaß an Berichterstattung über die Flüchtlingskrise ausgelöst haben dürfte, ist davon auszugehen, dass sie diesen von ihr initiierten Diskurs gleichermaßen (in Richtung Empathie) selbst verschoben hat. Dies ist allerdings nicht problematisch, sondern – im Gegenteil – für die vorliegende Untersuchung sogar fruchtbar: Es kann davon ausgegangen werden, dass neben nun entstandenen neuen Diskurslinien die alten weiterhin bestehen, sodass an dieser Stelle der Flüchtlingskrise eine diskursanalytische Untersuchung, die sich auf ein diversifiziertes Korpus stützt, ein umfassendes Bild der im Flüchtlingsdiskurs verwendeten Metaphern zeichnen kann (von rechts, von links, von empathisch bis nicht empathisch).
Mit den o.g. Voreinstellungen zu Zeit und Suchbegriffen erhält man über LexisNexis 106 Ergebnisse, wobei es, bedingt durch die mit „OR“ verbundenen Suchbegriffe und durch das Aufnehmen derselben Pressemitteilungen in verschiedenen Lokalzeitungen, hier einige Mehrfachnennungen gibt. Bereinigt man das Korpus um die Mehrfachnennungen, lassen sich die Texte nach den Kategorien Zeitungen (18) und Agentur- und Pressemitteilungen (18) aufschlüsseln. Alle 36 Texte sind in italienischer Sprache geschrieben. Nach einer ersten Durchsicht der Agentur- und Pressemeldungen ergaben sich so gut wie keine Metaphern in diesen Texten. Dies ist wenig überraschend und textsortenbedingt, da Agenturmeldungen den informationsbetonten Textsorten zuzurechnen sind und ein Stil vorzufinden ist, den Liesem (2015: 54) als „objektiv, neutral, wahrheitsgemäß“ charakterisiert. Liesem (2015: 54) führt weiterhin aus, dass „eigene Bewertungen und Einschätzungen sowie subjektive Empfindungen des Journalisten in der Meldung nichts zu suchen [haben].“ Aus diesem Grund wurde das der vorliegenden Untersuchung zugrundeliegende Datenkorpus um die Agentur- und Pressemeldungen bereinigt, so dass im Korpus nur Ergebnisse aus der Kategorie Zeitungen enthalten sind. Insgesamt umfasst das Korpus damit 18 Artikel und hat einen Umfang von 10.248 token. Die einzelnen enthaltenen Artikel sind größtenteils entweder nachrichtlichen Berichten bzw. meinungsbetonten Beiträgen zuzuordnen.
Die bereits erwähnte Konzentration auf eine Woche ist auch forschungspraktischen Gründen der Korpusauswertung geschuldet. Metaphern sind mit Bubenhofer (2009: 82) als tiefensemantische Phänomene einzuordnen, deren sprachliche Realisierung formal sehr heterogen ausfallen kann. Daher bietet sich eine data-driven und (semi-)automatische Vorgehensweise zur Identifikation der Metaphern und Metonymien im Korpus nicht an. Stattdessen wurde das Korpus qualitativ-hermeneutisch durch Sichten der einzelnen Presseartikel im Hinblick auf das Vorkommen von Metaphern ausgewertet. Bei dieser Untersuchung wurden zur Bildung metaphorischer Kategorien die bildspendenden Domänen der Metaphern ermittelt und ihre jeweilige Gebrauchsfrequenz erfasst. Außerdem wurde die jeweilige Position (z. B. headline, subheadline etc.) sowie die textuelle Einbettung berücksichtigt und den Funktionen der Metaphern im Diskurs zur Flüchtlingskrise mittels einer hermeneutisch-qualitativen Interpretation nachgegangen.
4. Analyse: Metaphern im italienischen Diskurs zur Flüchtlingskrise
Als erstes Ergebnis der Auswertung des Pressetextkorpus lässt sich festhalten, dass die Mehrzahl der Artikel nicht ausschließlich auf das Unglück vom 19. April 2015 vor der Küste Lampedusas beschränkt bleibt, sondern auch auf die Flüchtlingskrise sowie auf die Einwanderungssituation in Lampedusa insgesamt abhebt. Denn die Insel verweist auf ein gesamteuropäisch brisantes Thema. Mit dem Diminutiv isolotto in (1) wird auf den Punkt gebracht, dass Lampedusa nur ein kleiner Ausschnitt einer viel größeren, umfassenderen Krise ist. Auf diese Weise wird Lampedusa als pars pro toto greifbar gemacht:
Intanto né a livello nazionale né europeo si staglia un’idea precisa, concreta, su come evitare l’odissea di un continente verso un isolotto chiamato Lampedusa [Il Resto del Carlino, 26.04.2015].
In Bezug auf die Verwendung von Metaphern zeigt sich in der Zusammenschau der Korpusauswertung, dass diese zumeist im Fließtext auftreten, zum Teil kommen sie auch im Untertitel vor, während sie in den Schlagzeilen seltener zu finden sind. Innerhalb eines Artikels fällt auf, dass vermehrt Metaphern konzentriert in einem Absatz auftreten und zumeist aus demselben Bildbereich stammen. Die im untersuchten Diskursausschnitt identifizierten Metaphern stammen über alle Texte hinweg betrachtet vor allem aus den bildspendenden Bereichen Krieg, Tod und Wasser (Meer und Maritimes), die den analysierten Flüchtlingsdiskurs maßgeblich semantisch strukturieren.
Ein weiteres Ergebnis der Analyse besteht darin, dass Metaphern in unserem Korpus nicht zur Bezeichnung der Flüchtlinge verwendet werden. Vielmehr wird mit ihnen auf andere Konkreta Bezug genommen, die den Diskurs semantisch ordnen und ihm durch rekurrentes Auftreten eine Struktur und Musterhaftigkeit verleihen: Im Fokus der Berichterstattung – und damit auch der Analyse – stehen Metaphern, die die Beweggründe für die Flucht, das Meer, die Flucht über das Meer, die zur Flucht genutzten Schiffe sowie die Flüchtlingspolitik konzeptualisieren. Metaphern werden v.a. dann herangezogen, wenn Unsagbares im Sinne von Tabus wie dem Tod oder im Sinne eines unvorstellbaren Ausmaßes an Leid (wie etwa in Beleg (2) l’inferno) angesprochen wird. Durch ihre Verbildlichung emotionalisieren, dramatisieren oder machen Metaphern Unsagbares greifbarer. Diesem Aspekt wird im Folgenden qualitativ anhand von Belegen aus dem Korpus nachgegangen.
Zunächst lässt sich feststellen, dass die Beweggründe der Flucht Gegenstand der Berichterstattung sind. Die jeweilige Motivation zur Flucht wird – teils in Zitaten der Geflüchteten – mit Metaphern illustriert, die in expressiv-drastischer Funktion herangezogen werden, um die Ausweg- und Alternativlosigkeit zur Sprache zu bringen:
All'inizio del 2011 andammo in trasferta a Tripoli e dopo la partita la squadra del figlio di Gheddafi ci propose un provino. Stava scoppiando l‘inferno [La Stampa, 22.04.2015].
Auch aus europäischer Perspektive stellt sich die Situation in Libyen derart dramatisch dar, dass vor dem Hintergrund der zu erwartenden Flüchtlingsbewegung eine Metapher aus dem Bereich der Zerstörung durch Feuer herangezogen wird:
La bomba libica è ormai scoppiata e nell’ultima settimana ne sono arrivati 11 mila, oltre 1.500 al giorno [La Gazzetta dello Sport, 20.04.2015].
Die Metapher der Hölle in (2) und der libyschen Bombe (i.S. einer „tickenden Zeitbombe“) in (3) haben das Bild der Zerstörung und des Todes durch Feuer gemein, das offenbar vor allem dann zur Anwendung kommt, wenn eine (statische, „aufgeheizte“) Situation beschrieben werden soll. Feuer, das ist zu bedenken, stellt jedoch nicht das prominenteste Element im Flüchtlingsdiskurs dar.
In seinem Mittelpunkt steht vielmehr das Meer, das im Zusammenhang mit Metaphorik auf zwei Arten bedeutsam ist: zum einen als Spenderbereich – vor allem in dieser Hinsicht spielt das Meer generell eine tragende Rolle im Flüchtlingsdiskurs:
Im Gegensatz zu fließenden Gewässern, wie der Fluss oder der Strom, als Geschichtsmetapher, die Linearität, Kontinuität und Gerichtetheit ausdrücken, meist im Sinne einer sinnhaften Entwicklung, steht das Meer […] häufig [für] Unvorhersehbarkeit und Unbestimmtheit (Schmuck 2015: 26).
Zum anderen konnten wir das Meer – zweifellos aufgrund der Schiffskatastro-phe, die am Ausgangspunkt unserer Diskursanalyse steht – auch als Empfänger einer metaphorischen Übertragung identifizieren. Die Formel, auf die sich letztere Metaphern bringen lassen, lässt sich zu Tod durch Wasser verdichten. Die Korpusauswertung zeigt also, dass die Bildlichkeit dieser Meeresmetaphern noch deutlich dramatischer ausgestaltet wird, als es die obigen Feuermetaphern andeuten. Die zahlreichen Todesfälle bei der Flucht rufen unterschiedliche metaphorische Versprachlichungen hervor, die als einende Merkmale das Meer als tödliche Gefahr konzeptualisieren und in drastisch-expressiver Weise versprachlichen, wie hier als riesigen Friedhof:
Numeri, anzi uomini. Sogni annegati in quell’enorme cimitero che chiamiamo canale di Sicilia. Continua a riempirsi di barconi in fuga, fantasmi senza nome, e intanto si aggiornano le statistiche di morte [La Gazzetta dello Sport, 20.04.2015].
Die Bedrohung des Lebens durch das Meer ist dabei gewissermaßen eine anthropologische Konstante, die sich in der Menschheitsgeschichte weit zurückverfolgen lässt. Bereits im Alten Testament wird das Meer mehr als einmal zum Menschheitsgrab – wie im vorherigen Beleg –, wenn beispielsweise im Buch Genesis die Sintflut fast alles Leben auf Erden vernichtet (vgl. 1. Moses 6, 1-9, 29) oder das Heer des Pharaos im zweiten Buch Mose (Exodus) im Roten Meer ertrinkt (vgl. 2. Moses 14, 21-29). Auch für die Seefahrer der Menschheitsgeschichte war das Meer nie nur Sehnsuchtsort, sondern immer auch tödliche Gefahr und (potenziell) letzte Ruhestätte. Die Metapher vom Meer als Friedhof bzw. – das ihr übergeordnete Konzept – Meer ist Tod darf also vermutlich einen gewissen Grad an Universalität beanspruchen, der im
kulturellen Gedächtnis der Menschheit wurzelt und dort Spuren der Geschichte einzubetten und zu aktualisieren vermag.
Eine weitere, aufgrund des Mangels an externer Gewalteinwirkung in diesem Zusammenhang überraschende, Variante des Meer ist Tod-Metaphernkonzeptes liegt mit ecatombe ‚Blutbad/Blutopfer‘ vor, das die Zeitung Corriere della Sera als wörtliches Zitat der Pressesprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Carlotta Sami, aufgreift:
C’è chi dice che «l'ecatombe» dell’altra notte, per usare le parole di Carlotta Sami, portavoce dell'agenzia Onu per i rifugiati, sia stata la più grave che mai abbia colpito il mondo dell'emigrazione. Probabile, per il Mediterraneo [Corriere della Sera, 20.04.2015].
Mit der Verwendung der Blutbad-Metapher, die üblicherweise zur Beschreibung von Schlachten oder aber besonders grausamen Gewalttaten verwendet wird, findet neben einer dramatischen Dynamisierung der Schiffskatastrophe – die einen Gegenpol zum Bild des Friedhofes als Ort der Ruhe und Stille bildet – auch eine Zuschreibung der Verantwortlichkeit statt, die auch deshalb besonders deutlich ist, weil ecatombe etymologisch aus dem Ritual des „Blutopfers“ hervorgegangen ist. Dabei wird der Tod auf dem Meer mit einem gewaltsamen Tod, beispielsweise im Krieg, verglichen. Damit wird der Tod durch das Meer nicht mehr als unaufhaltsame Naturkatastrophe metaphorisch gerahmt, sondern als vermeidbare und (in Gesellschaften, die Gräueltaten dieser Art ablehnen) zu vermeidende Gewalttat. Denn im Gegensatz zu einer Katastrophe gibt es bei einem Blutbad stets ein Agens, wenn auch hier nur implizit. Der Tod durch das Meer wird durch das Sprachbild des Blutbades auf eine bestimmte Art fokussiert, weil hier an das Blut als Symbol der Gewalt und des Sterbens angeknüpft wird, und dessen Symbolgehalt im Kontext einer Kampf- bzw. Kriegsmetaphorik noch drastisch gesteigert wird (vgl. Catani 2012: 59). Der Tod durch das Meer erscheint in der Blutbad-Metapher dank implizitem Agens auch nicht mehr als „Schicksal“, sondern als konkrete „Tat“. Eine solche Tat braucht einen Verantwortlichen, denn ein Blutbad ist immer ein Gewaltakt von Menschenhand und nicht Ergebnis einer Naturgewalt. Die Blutbad-Metapher kann also als intentional gelten, um die Verantwortlichkeit für den Tod durch das Meer dem Meer selber zu entziehen und sie der europäischen Politik zuzuschreiben. Die Blutbad-Metapher vermittelt also in ihrer funktionalen Zuschreibung von Verantwortung an menschliche Akteure indirekt Kritik an deren bisherigem Verhalten, das zu diesem Blutbad geführt hat. Das gleiche Bild transportiert auch die Metapher la strage ‚Blutbad/Gemetzel‘ in (6), die als Versalie im Untertitel an herausragender Position des Artikels platziert ist:
LA STRAGE nel Canale di Sicilia è la più grave della storia del Mediterraneo ed è anche l’ultima di una lunga serie. Ma è soprattutto il naufragio dell'umanità nella civilissima Europa [Il Resto del Carlino, 21.04.2015].
Waren das Meer und das Schiffsunglück bisher Empfänger, so werden sie zum Spenderbereich in der sich im Folgesatz anschließenden Metapher il naufragio dell‘umanità nella civilissima Europa (‚der Schiffbruch der Menschheit im so zivilen Europa‘). Indem das moralische Versagen bildlich als Schiffsbruch der Menschheit greifbar gemacht wird, wird es gleichermaßen dynamisiert und dramatisiert. An dieser Stelle wird die in der Blutbad-Metapher noch indirekte Zuschreibung von Verantwortlichkeit expliziert und wie in (4) offen Kritik am Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik geübt. Hier wird nun deutlich, dass der moralische und politische Verfall Europas die humanitäre Katastrophe, das Blutbad, erst ermöglicht hat. Die Metapher des Schiffbruchs verbildlicht damit ein moralisches Endzeitszenario. Die gleiche Metapher, jedoch ohne moralischen Impetus, findet sich bereits bei Ortega y Gasset, der Europa nach dem Zweiten Weltkrieg metaphorisch als Schiffbruch beschreibt (vgl. Schmuck 2015: 28) – ein Befund, der als Hinweis in Richtung einer paneuropäischen Metaphorik innerhalb eines Diskursbereichs gedeutet werden könnte (vgl. auch Blumenberg 1997).
Das Meer als tödliche Gefahr wird außerdem auch durch Synekdochen, einen Sonderfall der Metonymie, zum Ausdruck gebracht:
(7) Ma del viaggio tutti i migranti parlano con fatica, perché è sempre un'esperienza drammatica»; nelle stiva chiusa come la notte si mescolano preghiere e superstizioni; si fanno riti per allontanare la morte che viene con le onde [La Nazione, 21.04.2015].
(8) Nessuno si affiderebbe alle mafie dei trafficanti, nessuno viaggerebbe sui barconi della morte, nessuno rischierebbe di morire tra le onde [Il Resto del Carlino, 21.04.2015].
In (7) und (8) wird mit onde das Ganze, also das Meer, durch einen Teil bezeichnet, so dass hier jeweils eine pars pro toto-Relation vorliegt. Funktional hebt die Synekdoche die Eigenschaft der Dynamik und Beweglichkeit des Meeres hervor, aber auch die damit einhergehende Unsicherheit und Gefahr. Damit bezeichnet sie die Ursache anstelle der Wirkung, die aber in (7) und (8) keineswegs ausgespart, sondern ungeschönt expliziert wird (la morte, morire).
In der Presseberichterstattung wird auch die Flucht selbst thematisiert. Im folgenden Beleg kommt mit einer Flüchtenden eine unmittelbar beteiligte Akteurin selbst zu Wort und berichtet von der Überfahrt, die sie metaphorisch als Odyssee bezeichnet:
(9) MACALOU, ci racconti come è stato il suo arrivo in Italia? «Una vera e propria odissea, durata sei giorni di navigazione su una barca piccola, con altre 143 persone. Io provengo dal Mali [Il Resto del Carlino, 21.04.2015].
Die (literarische) Metapher der Odyssee ist eng verknüpft mit einer „mythopoetologischen Geschichte des Meeres, […] mit Vorstellungen von bedrohten Schifffahrtswegen und von Irrfahrten auf stürmischer See“ (Schneider 2012: 268), eine Lesart, die auch durch Homers Odyssee tradiert wird. Auch wenn die Odyssee nicht zum vollständigen Untergang führt, schließlich findet Odysseus zurück nach Hause, wenn auch mit dem Preis vieler Opfer und mit einem dramatischen Ende. Im Flüchtlingsdiskurs ist die Metapher der Odyssee in journalistischen Texten weit verbreitet; auch in literarischen Texten der Migrationsliteratur hat sie den Status eines „zentralen Topo[s]“ (Schmuck 2015: 25).
Die Flucht als Reise, an deren Anfangspunkt die Hoffnung steht, die aber im Untergang endet, wird auch im folgenden Beleg thematisiert, bei dem die Metapher Apokalypse in die phraseologische Modellbildung dalla … all‘ eingebettet ist:
(10) Dalla speranza all'Apocalisse. Da Catania impossibile stabilire il numero delle vittime: «Sono oltre 700» La tragedia più grave nel Mediterraneo dal dopoguerra. Quei corpi in mare ricordano quando a morire erano i nostri nonni, […] [Corriere della Sera, 20.04.2015].
Die Metapher der Apokalypse steht für den Weltuntergang und bringt eine endzeitliche Stimmung zum Ausdruck, die bereits in Beleg (4) deutlich wurde. Die Funktion der Metapher ist in diesem Kontext emotionalisierend. Sie verdichtet expressiv-drastisch die Flucht zur ausweglosen Katastrophe und rahmt sie so, dass alle Hoffnungen auf einen Neuanfang und auf ein besseres Leben zunichte gemacht werden.
Auch die Schiffe, die zur tödlichen Falle mutieren (können), sind im Flüchtlingskrisendiskurs präsent und werden metonymisch zu Todesschiffen:
(11) C'è un solo modo per salvare le vite dei migranti in fuga da guerre e persecuzioni che ogni giorno muoiono attraversando il Mediterraneo su imbarcazioni di fortuna: consentire a tutti gli esseri umani di muoversi liberamente, permettendo loro di giungere in Europa in modo legale e sicuro. Nessuno si affiderebbe alle mafie dei trafficanti, nessuno viaggerebbe sui barconi della morte, nessuno rischierebbe di morire tra le onde [Il Resto del Carlino, 21.04.2015].
(12) Attualmente sono 353 le persone sbarcate dai barconi della morte nella zona di Ferrara [Il Resto del Carlino, 21.04.2015].
In die journalistische Berichterstattung bettet der Corriere della Sera auch literarische Verarbeitungen der Immigrationsthematik ein, wie einen Auszug des Gedichts Gli emigranti (1882) des italienischen Autors Edmondo De Amicis (1846-1908):
(13) E a rileggere questi racconti di disperati ammassati su carrette del mare dalle incerte fortune tornano in mente i versi di Edmondo De Amicis sui nostri nonni: «Ammonticchiati là come giumenti / sulla gelida prua mossa dai venti / migrano a terre ignote e lontane / laceri e macilenti / varcano i mari per cercar del pane. / Traditi da un mercante menzognero / vanno, oggetto di scherno, allo straniero / bestie da soma, dispregiati iloti / carne da cimitero / vanno a campar d'angoscia in lidi ignoti» [Corriere della Sera, 20.04.2015].
Der Auszug verdichtet prototypische Szenen auf den Etappen einer Flucht, die auch bis heute in der journalistischen Aufarbeitung der Situation 2015 als rekurrente, diskursstrukturierende Elemente transtextuell präsent sind. Die Metaphern und Metonymien des Gedichts, die einerseits auf den Opferstatus der Schutzsuchenden abheben (bestie da soma im Sinne von ‚Lasttieren‘), und andererseits den Tod bildlich und drastisch mit carne da cimitero in den Fokus rücken, finden sich als Kontinuitätslinie auch noch über 130 Jahre später im aktuellen Flüchtlingsdiskurs wieder, wenn wie in Beleg (4) das Mittelmeer metonymisch als Friedhof bezeichnet wird.
5. Fazit
Lampedusa als äußerster Punkt der EU im Süden steht symbolisch als Eingangspforte zu Europa und nimmt daher in der Flüchtlingskrise und im ‑diskurs eine Schlüsselrolle ein.
Unser Ziel war es, exemplarisch Metaphern- und Metonymienmuster im italienischen Flüchtlingsdiskurs zu identifizieren, die mit dem Fokus auf Lampedusa Verwendung fanden und so den Flüchtlingsdiskurs in Italien mit strukturierten. Zeitlicher Ausgangspunkt unserer Analyse war die schwere Schiffskatastrophe vor Lampedusa im Frühjahr 2015, in deren Nachgang wir den printmedialen Diskurs in Italien mithilfe von LexisNexis untersuchten. Es zeigte sich dabei, dass das disruptive Ereignis der Schiffskatastrophe offenbar zu einer etwas anderen Verwendung von Metaphern und Metonymien führte. So fehlt in der Woche nach der Katastrophe völlig die von anderen Studien als musterhaft für den Flüchtlingsdiskurs identifizierte metaphorische Kopplung von Migration und Naturkatastrophen (wie in Flüchtlingswelle). Stattdessen werden im medialen Diskurs Metaphern in den Pressetexten fast durchgängig zur Emotionalisierung und Selbstkritik verwendet. Empathie und auch Schuld sind dabei die vorherrschend vermittelten Emotionen zum Thema Flucht. Metaphern finden sich vor allem um die einzelnen Etappen der Flucht und – in diesem Fall besonders – deren katastrophales Ende begreifbar zu machen. Der Diskurs ist musterhaft geprägt durch das metaphorische Erzählen dieser Fluchtetappen – von den Beweggründen bis in die Katastrophe und der Zuschreibung von Verantwortlichkeiten. Die Metaphern werden dabei von Geflüchteten, die zu Wort kommen, wie von den Journalisten selbst zumeist in drastisch-expressiver Funktion zur Konzeptualisierung und zur Emotionalisierung verwendet und dienen dazu, dem Leser das für ihn Unbegreifbare und Abstrakte der Flucht und ihrer einzelnen Etappen – die Situation in den Herkunftsländern, die Todesgefahr in den Booten, die schiere Katastrophe selbst und den moralischen Verfall, über den sie Auskunft gibt – begreifbar zu machen.
Die Meinungen, die zur humanitären Katastrophe im Mittelmeerdrama dargestellt werden, erhalten eine verschärfte Argumentation durch das Heranziehen von Metaphern und Synekdochen. Musterhaft zeichnet sich dabei ab, dass die dominanten bildspendenden Bereiche den Domänen Krieg, Tod und Wasser (Meer und Maritimes) zuzuschreiben sind – ein Befund, der in Zusammenschau mit Studien wie von Böke (1997), Gruber (i. Dr.) und Spieß (2017b) im Hinblick auf eine paneuropäische Metaphorik erweitert werden kann. Dabei muss beachtet werden, dass die hier identifizierte Metaphorik in ihrer Gerichtetheit zweifellos einen Spezialfall des Flüchtlingsdiskurses darstellt, der auf die Prävalenz der Katastrophenthematik im Untersuchungszeitraum zurückzuführen ist. Gleichwohl handelt es sich dabei nicht um eine (italienische) Singularität im Diskurs. Vielmehr scheint der von uns untersuchte Zeitraum im gesamteuropäischen Kontext eine Veränderung in Richtung Empathie und Selbstkritik zu markieren, die sich bspw. in Deutschland in dem Kommentar von Markus Preiß zeigt, der von der „Schande für Europa“ spricht. Auch wenn die Ausschließlichkeit einer auf Empathie gerichteten Metaphernverwendung, die wir feststellen konnten, sich also im späteren Verlauf der Krise relativiert haben dürfte, so zeichnet sich hier ein wichtiger Teil des Flüchtlingsdiskurses ab. Deutlich wird, dass eine umfassende Arbeit zur Veränderung der Metaphorik im Zeitverlauf spannende Ergebnisse erwarten lässt.
6. Literaturverzeichnis
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