Wie viele Köpfe soll der Drache tragen - oder: Wie mehrsprachig sind Schule und Gesellschaft in Luxemburg?
Abstract
Linguistic diversity is a fundamental feature of Luxembourgish society. Throughout its history Luxembourg has been shaped by the multilingual skills of its inhabitants and by its support for plurilingualism in language policy and practice. As a fundamental site of language contact, Luxembourg schools face a profound challenge. In the classroom language diversity exists not just as a plurality of languages, but as a complex and dynamic field of practice. In analysing the diversity of language practices at Luxembourgish schools, through the combination of language ecology and a metaphorical approach, we tend to show perspectives of sustainable development and harmonization for language education, at both the national and the international level.
In diesem Beitrag möchte ich am Beispiel von Luxemburg untersuchen, inwieweit die Diskurse zur Mehrsprachigkeit in der Schule den vielfältigen Anforderungen gerecht werden, welche die heutige Gesellschaft an sie stellt. Dazu werde ich zunächst die sprachökologischen Grundlagen Luxemburgs aufzeigen und sie dann anhand von Metaphern illustrieren, welche die Verwendung der verschiedenen Sprachen betreffen. Aufgrund meiner Erfahrung in der Lehrerausbildung, in der sprachpolitischen Beratertätigkeit und ausgehend von ethnographischen Beobachtungen im sprachlichen Alltag des Landes werde ich abschliessend versuchen, einige Vorschläge für eine Dynamisierung der Sprachdidaktik vorzustellen, die sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene umgesetzt werden können.
1. Mindestens vier Sprachen und eine Schule? Eine komplexe
Situation
Luxemburg bietet als eines der Länder Europas mit den höchsten Einwanderungsquoten und der Verwendung von mindestens vier Sprachen im Laufe des Schulkurrikulums1 ein sehr komplexes Bild im Hinblick auf die Sprachensituation. In meinem Beitrag will ich aufzeigen, welche Metaphern zur Beschreibung dieser speziellen Lern- und Arbeitsumgebung verwendet werden und inwieweit sie bei der Sprachplanung für die Didaktik des Unterrichts der Sprachen und in den Sprachen eine Hilfe darstellen können.
1 Zur Struktur und Geschichte des luxemburgischen Schulsystems mit besonderer Bezugnahme auf die Migration, siehe Ehrhart 2008f und Ehrhart mit Marie-Paule Maurer- Hetto, im Druck.
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Dabei werde ich eine ethnographische Methodologie im Sinne der Sprachökologie und des Soziokonstruktivismus in den Mittelpunkt stellen und Aussagen von Lehrern, Schülern, Schülereltern, Sprachplanern, Studierenden und in der Lehrerbildung Tätigen heranziehen, die ich im Zeitraum von 2006-2009 im Rahmen meiner Tätigkeit als Professorin für Ethnolinguistik in der Lehrerausbildung für Kindergärten, Primar- und Sekundarschulen an der Universität Luxemburg (in den Ausbildungsgängen BScE und FOPED)2 zusammengetragen habe. Konkret heisst das, dass ich die Verwendung aller Sprachen eines jungen Menschen betrachte, sowohl im Klassenraum als auch im weiteren schulischen und familiären Umfeld, mit dem Ziel, eine möglichst grosse Harmonisierung zwischen diesen Bereichen herbeizuführen und somit jedem Schüler oder jeder Schülerin die besten Möglichkeiten zur Kommunikation und zur persönlichen Entwicklung zu bieten. Dabei inspiriere ich mich in der Vorgehensweise vor allem bei van Lier (2004), Kramsch (2002) und Creese/Martin (2004).
2. Welche Rolle hat die Metapher bei der Beobachtung und
Beschreibung der Sprachensituation in der Schule?
In der Schule findet ein Wissenstransfer an Kenntnissen in und über Sprachen statt. Gerade die zur Beschreibung dieser Lernprozesse gebrauchten Metaphern konzeptualisieren außer dem Sprachenlernen an sich auch die kulturelle Einbettung und das soziale Umfeld, in dem sich Lerner und Lehrer bewegen, sind also abhängig von metaphorisch motivierten Strömungen und Modebewegungen. Der hier untersuchte Diskurs ist bei aller Variabilität klar in der westlichen Denkweise der ausgehenden Moderne oder der beginnenden Postmoderne angesiedelt und spiegelt daher die Paradigma wider, die diesen räumlichen und zeitlichen Kontext charakterisieren.
Allgemein ist die Erwartung an Sprache(n) abhängig von der jeweiligen Le- benssituation des Betrachters und von Lernsituationen, die er durchlebt hat. Sein persönlicher Gebrauch von Metaphern, die er zur Beschreibung der
2 Zur Beschreibung des luxemburgischen Lehrerausbildungssystems siehe auch die
Internetseite der Universität Luxemburg www.uni.lu .
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Wirklichkeit verwendet, ist ein Schlüssel dazu.3 Unser Denken und unser soziales Umfeld bestimmen also unsere Wahl von Metaphern und umgekehrt bestimmen auch die Metaphern, die wir zur Beschreibung von Sprache ver- wenden, unser Denken und unser soziales Verhalten – mit Lakoff/Johnson (1980) könnten man auch sagen: Wir leben in Metaphern. Die Metapher ver- bindet die – metaphorisch gesprochen – Funktion einer Lupe mit der einer Visitenkarte.
Als ein Beitrag zur Rahmenthematik „Metapher und Wissenstransfer“ sollen im Folgenden nun beispielhaft einige Metaphern aus dem aktuellen Diskurs zur Schule in Luxemburg und deren jeweilige Grenzen für den Erkenntnisge- winn vorgestellt werden.
3. Metaphern zur Beschreibung des Platzes von Sprache(n) in der
Schule und in der sie umgebenden Gesellschaft
Aus welchen Quellen speist ein Beobachter von heute seine Metaphern, wenn er den Platz von Sprache(n) in der Schule und in der Gesellschaft für Luxem- burg beschreibt?
3 Dies gilt übrigens auch für die Sprachen von Wissenschaftlern mit einer Sozialisierung mit verschiedenen geographisch-kulturellen und disziplinären Verortungen – ich plädiere mit meinem Beitrag aus der Sicht der Sprachökologie für einen Dialog zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Sichtweisen und für eine flexible Öffnung hin zur Annhame der Alterität im Blick auf die Realität.
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Abb. 1: Der mehrköpfige Drache
Der titelprägende mehrköpfige Drache4 (Abb.1) hat mich gleich ganz zu Beginn meiner Tätigkeit in der Lehrerausbildung an der Universität Luxemburg begrüßt, als ich zutiefst beeindruckt nach einem sehr polyglott abgelaufenen Treffen einen Kollegen fragte, auf welche Weise sich die verschiedenen Spra- chen bei den Luxemburgern verteilen würden – wie ich nun weiss, eine klassische Frage für frisch angekommene Ausländer. Er hatte mir daraufhin das Bild des dreiköpfigen Drachens gezeichnet, dessen Kopf in der Mitte die luxemburgische Sprache spricht; der in dieselbe Richtung weisende zweite Kopf weiter hinten symbolisiert das Deutsche und noch weiter hinten und mit einem etwas verdrehten Hals ist das Französische zu erkennen. Das Tier hat auch drei Schwanzfortsätze und eine gute Bodenhaftung durch stabile Pfoten. Der Verfasser des Kunstwerks hatte darauf hingewiesen, dass der Drache alle
4 Herzlichen Dank an Ingo Schandeler für seine Erklärungsversuche und für die freundliche Bereitschaft, mir die Veröffentlichungsrechte für seine Kreation zur Verfügung zu stellen.
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drei Köpfe brauche und bei Verlust nur eines davon nicht mehr überlebensfähig sei. Das Bild ist eine metaphorische Ad-hoc-Kreation, der Drache ist nicht im gängigen Diskurs der Luxemburger Gesellschaft zu finden. Weitere Interpretationen durch den aufmerksamen Betrachter sind möglich, so z.B. zur Lage des luxemburgischen Kopfes – er ist etwas niedriger als die beiden anderen angelegt, dafür aber folgt er der Körperachse. Die drei Köpfe repräsentieren genau die drei Amtssprachen im Land: es ist kein Platz für Sprachen vorgesehen, die über den Rahmen der offiziellen Triglossie hinausgehen, sie haben also genau die Sprachen der Macht im Visier, schwächere und weniger bedeutende Sprachen werden nicht mit abgebildet. Diese Art der metaphorisch motivierten Bestandsaufnahme lässt auch keine zeitliche Dynamik zu, es gibt keine Angaben zu eventuell früher gesprochenen (und zum Teil dem Sprachverlust anheim gefallenen Sprachen wie z.B. im Umfeld der Migration) oder zur Möglichkeit des weiteren Sprachenlernens im Rahmen des life-long-learning. Auch Sprachmischung, code-switching (Myers- Scotton 2002) und translanguaging (Garcia 2009) kommen in der Metapher des dreiköpfigen Drachens nicht vor. Deswegen haben wir angeregt, die Metapher des Chamäleons, so wie wir sie im Chamäleoneffekt beschrieben haben (Ehrhart 2003b:68) auf die luxemburgische Sprachsituation anzuwenden. Im angegebenen Artikel hatten wir unsere Beobachtungen im Rahmen des Forschungsprojektes zur Begleitung des Frühfranzösischen in saarländischen Grundschulen dargelegt, speziell in Bezug auf die Anpassungsfähigkeit der Kinder an die Sprachökologie der Klasse. Uns war nämlich bei den Untersuchungen aufgefallen, dass Kinder mit guten bis hervorragenden Vorkenntnissen der französischen Sprache (einige wohnten in Frankreich, hatten dort zum Teil auch die école maternelle besucht oder hatten französische Familienangehörige und Spielgefährten), diese beim Eintritt in die deutsche Grundschule nur wenig oder gar nicht aktivierten, obwohl dort sofort ab Schulbeginn zwei Wochenstunden Französisch durch französische Lehrerkräfte abgehalten wurden.
Die Sprachkenntnisse hatten wir – und nach unserem Hinweis darauf auch die Lehrkräfte - im individuellen Gespräch ausserhalb des Klassenzimmers klar erkennen können, im Unterricht selber waren diese Fähigkeiten nicht aufgefallen. Die Kinder hatten uns dafür die Erklärung gegeben, dass sie im Klassenverband auf keinen Fall auffallen wollten, auch nicht durch zusätzliche
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Kenntnisse, welche nicht dem Klassenmittel entsprachen und sich daher lieber nach unten hin anpassten, deswegen hatten wir hier an das Chamäleon gedacht.
Darüber hinaus versprechen die von Jerôme Jaminet in seiner Dissertation durchgeführten Studien zum Thema Plurilingual interactants as human chameleons – A metaphor to understand hybrid discourses in- and outside the classroom sehr interessante Ein- und Ausblicke in diese Richtung.5 Diese Darstellung mehreren Sprachen in einem Körper ist jedoch sehr aussagekräftig für die Luxemburger Art der Sprachenverteilung: die Mehrsprachigkeit ist in Luxemburg nämlich tatsächlich in den einzelnen Personen angesiedelt und nicht vorrangig räumlich nach Territorien verteilt wie in anderen mehrsprachigen Ländern (wie in der Schweiz oder Belgien).6
Der Drache ist daher aussagekräftiger als die Ausmalarbeiten, die man mehrsprachige Kinder im Rahmen der language awareness ausführen lässt und die ebenfalls von der Beziehung zwischen Körper und Sprache ausgehen. Bei diesen Übungen legt man den Schülern die Umrisse eines Körpers vor und sie malen z.B. ihr Herz in einer Farbe, die Arme in einer anderen, den Kopf in einer weiteren und den Rest des Körpers in noch einer anderen Farbe aus – dabei soll jede Farbe eine Sprache ausdrücken, die im Leben des Befragten vorkommt. Durch die Bedeutung der Körperteile wird gezwungenermassen eine Hierarchisierung eingeführt, die im wirklichen Leben nicht immer als solche empfunden wird.7
In einer stärker sprachökologisch geprägten Sicht bieten sich andere Möglichkeiten der Arbeit mit den Schülern in Luxemburg an, die genauer auf deren spezifische Umwelt eingehen: so könnte es didaktisch äusserst sinnvoll sein, ihnen kreativ die Möglichkeit zu geben, den Platz aller ihrer Sprachen in
5 Seitdem es beim ersten Europäischen Sprachentag 2001 Maskottchen war, ist das Chamäleon auch in den Veröffentlichungen der Europäischen Institutionen zu finden, allerdings geht es dabei mehr um die Versinnbildlichung des Überschreitens von Ländergrenzen und nicht um die Mehrsprachigkeit, die in einem einzelnen Land angesiedelt ist. In diesen Dokumenten fehlt auch eine vertiefte wissenschaftliche Behandlung der Fähigkeit zum Sprachwechsel, für die das Chamäleon ja stehen soll.
6 C.M. Riehl 2004 beschreibt ausführlich anhand von Beispielen die Grundtypen der
Mehrsprachigkeit aus individueller, territorialer und institutioneller Sicht.
7 Dieser Vorschlag findet sich in zahlreichen europäischen Dokumenten, so z.B. der von der
Stadt Hamburg 2003 herausgegebenen Portfoliohandreichung.
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ihrem Leben auszudrücken – auch in einer freien Zeichnung oder einem Text, wobei eine größtmögliche Freiheit im Ausdruck auch einem optimalen empowerment entspricht (de Mejía 2002; Hélot/de Mejía 2008). Unsere Erfahrung durch Untersuchungen im Forschungsprojekt LACETS8 zeigen uns, dass besonders die Sprachen der Migration nur dann von ihren Sprechern sichtbar gemacht werden, wenn die Schüler merken, dass alle im Klassenzimmer existierenden Sprachen durch die Lehrkräfte und die Mitschüler dieselbe Wertschätzung erfahren.
Die in anderen Kontexten sehr produktive Brückenmetapher (Ehrhart 2005b) kommt nur bei ausgewählten Autoren zum Einsatz. Weber 2008b verwendet vor allem das Modell der literacy bridge als Vorschlag zur Stärkung von Schülern, die mit Vorkenntnissen in anderen Sprachen – auch anderer Schriftsysteme – das luxemburgische Klassenzimmer betreten.
Bei einer Auswertung der Literatur zur Mehrsprachigkeit in Luxemburg fällt auf, dass eine klare Kampfmetapher im Sinne von einer guerre des langues (Calvet 1999) nur sehr selten vertreten ist, manchmal klingt sie im Diskurs von vereinzelten Journalisten an.
Die Zahlenmetapher ist eine zentrale Komponente der Sprachplanung – die Häufigkeit der Verwendung von Begriffen wie Einsprachigkeit, Zweisprachigkeit, Mehr- und Vielsprachigkeit belegen dies auch in den luxemburgischen Lehrplänen.
Die vorgestellten Metaphern gehen immer von einem klaren Sprachbegriff aus, den man zählen kann, berühren oder in der Aktion mit der Umwelt beobachten, aber entspricht dies überhaupt der Wirklichkeit?
4. Das Zählen von Sprachen im Kontext von Viel- und/oder
Mehrsprachigkeit
Ist es überhaupt möglich, eine eindeutige Antwort auf die Fragen: «wie viele
Sprachen gibt es in Luxemburg» oder «wie viele Sprachen spricht der
8 Langues en contact dans l’espace et dans le temps et leur impact sur le milieu scolaire au Luxembourg, ein von der Universität Luxemburg finanziertes Projekt zur Erforschung der sprachökologischen Diversität in Luxemburgs Schulen unter besonderer Berücksichtigung von Mobilität und Migration mit Laufzeit von 2008 bis 2011.
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Schüler/die Schülerin in meiner Klasse» zu finden? Das Zählen wird zunächst einmal dadurch erschwert, dass manche Sprachen gar nicht sichtbar werden, so wird z.B. das häufig vertretene Kapverdianisch von den meisten Lehrern unter „Portugiesisch“ eingestuft, Sprecher des Kroatischen, Serbischen und manchmal auch des Slowenischen oder Albanischen werden auch heute noch im Schulalltag als „Jugoslawisch“ bezeichnet, bei manchen Kindern ist die Angabe zur Muttersprache nur „Asiatisch“. Diese Unschärfe oder Namenlosigkeit ist der Ausdruck von Machtverhältnissen, in denen die dominanten Sprachen einen Grossteil der Aufmerksamkeit erhalten.9
Eine Festlegung der Zahl der Sprachen – wie z.B. die kürzlich proklamierte Dreisprachigkeit der Universität Luxemburg, für die Englisch, Deutsch und Französisch angegeben wurden – ist immer gleichzeitig eine Einengung von sich ansonsten flexibel entwickelnden Systemen und ein Negieren einer Reichhaltigkeit, die weit über die Zählbarkeit hinausgeht. Man muss sich überlegen, in welchen Situationen es sinnvoll ist, nach der Zahl der vorhandenen Sprachen zu fragen, wobei hier das Problem auftaucht, wann eine Sprache eine Sprache ist und sie als solche gezählt werden kann .
In Gesellschaften mit einem grossen Sprachreichtum und einem intensiven Sprachkontakt – wie die Regionen im Südpazifik, die ich in über 10 Jahren Feldforschung an Kreolsprachen und melanesischen Kanakensprachen untersucht habe, aber auch in der Gesellschaft Luxemburgs – kann man beobachten, wie sich in einem neuen Raum eine neue eigene sprachliche und kulturelle Gruppenidentität ausbildet, die Elemente verschiedener Sprachen und Kulturen beinhaltet, diese aber auf eine neue Weise kombiniert und damit völlig neue Strukturen entwickelt, welche keineswegs als einfache Verlängerung der Ausgangselemente anzusehen sind. In der interkulturellen Forschung hat sich dafür das Konzept des dritten Raumes durchgesetzt, aber auch dieses Konzept stößt in Fällen von hoher Komplexität an seine Grenzen. Die Tradition der asiatischen Kulturen des espace médian, das Dazwischens, ist hier oft noch besser angebracht, gerade auch weil ihm das hierarchisch gliedernde Element, welches beim Verwenden von Zahlen immer mitschwingt, abgeht. Auch der Europäische Referenzrahmen beschreibt die Zielvorstellungen für das heutige Sprachenlernen in dieser dynamischen
9 Vgl. Hélot 2007 : Du bilinguisme en famille au plurilinguisme à l’école.
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Form, Forderungen nach absoluter Sprachreinheit oder strikte Trennung zwischen den Verwendungsbereichen verschiedener Sprachen werden eher den Modellen der Vergangenheit zugeordnet:10
„In den letzten Jahren hat das Konzept der Mehrsprachigkeit im Ansatz des Europarats zum Sprachenlernen an Bedeutung gewonnen. ’Mehrsprachigkeit' unterscheidet sich von 'Vielsprachigkeit', also der Kenntnis einer Anzahl von Sprachen, oder der Koexistenz verschiedener Sprachen in einer bestimmten Gesellschaft. Vielsprachigkeit kann man erreichen, indem man einfach das Sprachenangebot in einer Schule oder in einem Bildungssystem vielfältig gestaltet, oder indem man Schüler dazu anhält, mehr als eine Sprache zu lernen, oder indem man die dominante Stellung des Englischen in internationaler Kommunikation beschränkt. Mehrsprachigkeit jedoch betont die Tatsache, dass sich die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert, von der Sprache im Elternhaus über die Sprache der ganzen Gesellschaft bis zu den Sprachen anderer Völker (die er entweder in der Schule oder auf der Universität lernt oder durch direkte Erfahrung erwirbt). Diese Sprachen und Kulturen werden aber nicht in strikt voneinander getrennten mentalen Bereichen gespeichert, sondern bilden vielmehr gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren. In verschiedenen Situationen können Menschen flexibel auf verschiedene Teile dieser Kompetenz zurückgreifen, um eine effektive Kommunikation mit einem bestimmten Gesprächspartner zu erreichen. […]
Aus dieser Perspektive ändert sich das Ziel des Sprachunterrichts ganz grundsätzlich. Man kann es nicht mehr in der Beherrschung einer, zweier oder vielleicht dreier Sprachen sehen, wobei jede isoliert gelernt und dabei der
'ideale Muttersprachler' als höchstes Vorbild betrachtet wird. Vielmehr liegt das Ziel darin, ein sprachliches Repertoire zu entwickeln, in dem alle sprachlichen Fähigkeiten ihren Platz haben. Dies impliziert natürlich, dass das Sprachenangebot der Bildungseinrichtungen diversifiziert wird und dass die
10 Kapitel 1 des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen, Conseil de la Coopération culturelle/Comité de l’education & Division des langues vivantes, Strasbourg 2000 oder eine seiner Übersetzungen ins Deutsche.
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Lernenden die Möglichkeit erhalten, eine mehrsprachige Kompetenz zu entwickeln. […]
Welche Implikationen dieser Paradigmenwechsel letztlich hat, muss noch genauer herausgearbeitet und in praktisches Handeln übertragen werden.“
Wie im Abschlusssatz herausgestellt, muss diese viel versprechende Zielvorstellung für den Platz der Sprachen in den Schulen Europas erst noch umgesetzt werden. Ein wichtiger Schritt dazu ist die Lehrerbildung, denn sie ist ein Ort, an dem Innovationen erprobt werden können, bevor sie in die Realität der Schulen getragen werden (Ehrhart/Hélot/Le Nevez, im Druck).
Ein weiterer Bereich, der eine umfassende Untersuchung verdient hätte, ist der der Ferne und Nähe und der Gruppenbildung im Bezeichnen von Sprachen. Ganz besonders interessant und aufschlussreich ist hier die Verwendung des Possessivs in Verbindung mit Sprache (oder auch Sprachen im Plural): meine Sprache – deine/Ihre Sprache – seine/ihre Sprache – unsere Sprache oder auch die Bezugnahme auf Referenzräume (mein Land – unser Land etc). Wir haben Studentenarbeiten und Schülerbeobachtungen von mehreren Semestern auf diese Kriterien hin ausgewertet und dabei vor allem festgestellt, dass sich die Eigen- und die Fremdsicht in vielen Fällen nicht decken. So kann ein Schüler mit Migrationshintergrund sich in der Schule als Luxemburger verstehen, von seinen Mitschülern oder Lehrern aber nicht unbedingt als solcher eingestuft werden. Diese Mitgliedschaft kann auch für ein und dieselbe Person je nach Gruppenzugehörigkeit variieren, so ist die Integration in einen Sportclub meist einfacher zu bewerkstelligen als in einen Literaturzirkel.
Die Sprachwissenschaft orientiert sich bei der Wahl ihrer Terminologie seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert sehr intensiv an der Biologie: Sprachentod, Sprachenfamilie und Muttersprache sind Metaphern, die seither zur Konzeptualisierung und Kategorisierung von Sprachen herangezogen werden, stammen aus dieser Quelle. Es wäre sinnvoll, den heutzutage als Einheit verstandenen Begriff der Muttersprache wieder in seine Bestandteile aufzubrechen, zu dekonstruieren und die Motivationen zu hinterfragen, welche zu seiner Entstehung führten, ihn also wieder auf eine konstituierenden Metapher zurückzuführen, sein unsichtbares metaphorisches Potenzial neu aufzudecken. Dies würde zu einer größeren Klarheit in der Beschreibung von Sprachen helfen. In der Aktualität gibt es immer mehr Familien, in denen sich die Muttersprache, die Vatersprache, die
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Grosselternsprache(n), die Schulsprache(n), die Geschwistersprachen, die Tanten- und Onkelsprachen, und die Familiensprache(n) allgemein voneinander unterscheiden – hier böten sich neben der Metapher der Muttersprache die erwähnten anderen Metaphern an. Wie sieht es im Falle von Adoption aus, bei den immer häufiger werdenden familles recomposées, oder für Kinder mit Vätern als Alleinerzieher mit wenig oder keinem Kontakt zur Mutter? Meine Studien im Pazifik haben mich viele Menschen treffen lassen, die in jungen Jahren durch Internatsbesuch ihrer „Muttersprache“ so entfremdet wurden, dass sie diese heute nicht mehr als Erstsprache ansehen können, in extremen Fällen wurde sie sogar fast völlig vergessen. Wenn Kinder mit Migrationshintergrund in streng monolingual orientierten Schulen der neuen Heimat unterrichtet werden, kann man unter bestimmten Bedingungen und bei geringer Loyalität der Herkunftssprache gegenüber ähnlich geartete Formen von Attrition feststellen. Ebenso wie es in der heutigen soziologischen Beschreibung den Lebensabschnittspartner gibt, könnte man die Bedeutung von Sprachen im Leben eines Menschen auch nach Lebensabschnitten angeben Lebensabschnittsprachen unterteilen (Babyalter und passive Spracherfahrung, Kleinkindphase mit intensivem Spracherwerb, Kindheit und Jugend mit institutionell gestütztem Ausbau der Kenntnisse in und durch Sprache, Erwachsenenzeit mit intensiven sozialen Netzwerken und Kommunikationsstruktur und Alter; diese Etappen können je nach Bedarf noch weiter unterteilt werden) – dies würde unseren Lebensmustern in den vielen Fällen besser entsprechen.
5. Metaphern zur Beschreibung des Platzes von Sprache(n) in der
Schule Luxemburgs – Erkenntnisgewinn oder Wissenstransfer?
Das Betrachten einiger in Luxemburg im Diskurs um Sprache in der Schule verwendeter Metaphern gibt Einblicke in eine sehr komplexe Situation, die auf anderen Wegen nur schwer zugänglich gewesen wäre. Der interdisziplinäre Ansatz von Metaphern erlaubt es, einen Sachverhalt in kurzer Zeit von mehreren Seiten zu beleuchten; ihre prägnante Form bringt Kontexte mit einer Vielfalt von Parametern oft übersichtlich auf den Punkt. Ihr Beitrag zum Erkenntnisgewinn ist unumstritten, dabei agiert sie vor allem auf der heuristischen und der kreativen Ebene (Musochranowa/Ehrhart 2008), kann aber auch zum Aufbrechen konventionalisierter Denkschemata genutzt
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werden. Die Begrenztheit eines jeglichen Beschreibungsmodells im Bezug auf die darzustellende Realität – ist dies nun metaphorisch geprägt oder auch nicht – sollte dabei jedoch immer im besonderen Maße im Auge behalten werden.
Das Ziel dieser Ausführungen lag zunächst einmal in der Verbesserung der Observation einer noch differenziert zu untersuchenden Sprachensituation. Die Analyse von Metaphern kann einen Ausgangspunkt für den weiteren Umgang mit Wissen darstellen. Aus unserer Sicht, und im Sinne eines sozialkonstruktivistisch motivierten Ansatzes, kann der Wissenstransfer dann nur davon ausgehend, dass Lehrer und Schüler gemeinsamen an Inhalten und didaktischen Konzepten arbeiten.
Auf diese Weise kann jeder an der Interaktion Beteiligte weiterhin aus der Analyse konstituierender Metaphern lernen, d.h. sein Verhalten im Alltag besser an die tatsächlich existierenden Gegebenheiten anpassen und seinen Entscheidungen einen guten Sitz im Leben sichern.
Ausgehend von diesen Beobachtungen wird man es begrüßen können, wenn in Zukunft das Chamäleon neben dem Drachen immer mehr in luxemburgische Klassenzimmer einziehen wird.
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