Navigieren im Textuniversum. Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae
Abstract
Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae ist die vielleicht umfangreichste Wissenssamm- lung, die ein einzelner Mensch je in der frühen Neuzeit erstellte. Das Werk wurde erstmals
1565 in Basel gedruckt. Seine Editionsgeschichte reicht bis 1707, als eine Umarbeitung des Jesuiten Lorenz Beyerlinck in letzter Ausgabe erschien. Blickt man auf die Zahl der Ausgaben, ihre Überlieferung in europäischen Bibliotheken, die lange Editionsgeschichte und die Brisanz, die ihm die katholische Zensur verlieh, gehört das Theatrum humanae vitae (so der Titel ab der Ausgabe 1586) sicherlich auch zu den erfolgreichsten frühneuzeitlichen Wissenssammlungen. Der Beitrag untersucht die innere Ordnung von Zwingers Wissens- theater. Leitende Fragen sind: Wie kann Wissen gesucht werden? Welche Textmaterialien werden wie verarbeitet? Welche Aufschlüsse ermöglicht das „Theatrum“ für die Praktiken der gelehrten Wissensordnung und -verarbeitung in der frühen Neuzeit?
The Theatrum Vitae Humanae is perhaps the most comprehensive compilation of knowledge ever achieved by a single human being in the Early Modern Period. It was first printed in
1565, and repeatedly re-issued until a final edition, revised by the Jesuit Lorenz Beyerlinck, appeared in 1707. If we consider the number of editions and copies in European libraries, its long editorial history and the explosiveness conferred on the book by Catholic censorship, it becomes clear that the Theatrum humanae vitae (as the title of 1586 edition reads) was certainly one of the most successful early modern compilations of knowledge. This contribution ana- lyses the internal structure of Zwinger's Theater of Knowledge. The main aspects are: How can knowledge be gathered? Which textual materials are used? What can the Theatrum tell us about the practices of the scholarly order and processing of knowledge in the Early Modern Period?
1. Buchtheater
Seitdem wir in digitalen Welten navigieren, über Suchmaschinen nach Infor- mationen, nach Zitaten, Texten, Sachverhalten und Bildern suchen, ziehen auch die vormodernen Such- und Wissensmaschinen neue Interessen auf sich. Das zeigt die Konjunktur von Forschungen zur frühneuzeitlichen Enzyklopä- distik und ganz allgemein das Interesse für die Historizität von Wissen, seine besonderen Ordnungen und Praktiken, seine Übertragungen und Zirkulatio- nen. Standen bei den Klassikern der Enzyklopädieforschung Fragen der Begriffsgeschichte und Wissenschaftsklassifikation im Zentrum, hat sich inzwischen der Fokus auf das breite Spektrum enzyklopädischer Literatur und
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ihre Funktion im Gefüge frühneuzeitlicher Wissensvermittlung und Wissens- verarbeitung verlagert.1
„Encyclopaedia“ heißen bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts nur wenige enzyklopädische Werke. Auch spielt das Wort im frühneuzeitlichen gelehrten Diskurs eine vergleichsweise marginale Rolle.2 Noch das Vorwort von Zedlers Lexikon ruft bei der Rechtfertigung des Titels „Universal- Lexicon“, das „schlechte Wörtgen Lexicon oder Wörterbuch“, wie es heißt, gegenüber den traditionell üblichen „weit mächtigern Nahmen“ für Wissenssammlungen nicht Enzyklopädie, sondern eine Liste von Namen auf, deren Beziehung zur Wissensrepräsentation heute nur mehr Spezialisten einleuchtet: „Theatra; Thesavri; Polyantheae; Bibliothecae; Mvsae; Armamentaria; Fora; Archiva; Palatia; Promtvaria; Pandectae; Specvla; Polymathiae; Aristarchi; Critici; Adversaria“.3
Theatrum steht in dieser Liste nicht zufällig an erster Stelle. Das Wort war im
16. und 17. Jahrhundert der beliebteste Titel für enzyklopädische Werke, aller- dings von Werken unterschiedlicher Art, Form und Provenienz.4 Ein solches Buch-Theater soll hier etwas näher aufgeschlüsselt werden: Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae. 1565 erstmals gedruckt, entwickelte es sich im Laufe seiner bis in das frühe 18. Jahrhundert reichenden Editionsgeschichte zur wohl umfangreichsten vormodernen Wissenssammlung, die ein einzelner Mensch je zusammenstellte. Die Erstausgabe von 1565 (vgl. das Titelblatt Abb. 1) umfasst annähernd 1500 Seiten, die letzte zu Zwingers Lebzeiten publizierte Ausgabe
1586 4500 Seiten, die letzte Ausgabe einer Umarbeitung des Werks durch Lorenz Beyerlinck aus dem Jahr 1707 weit über 8000 Seiten, alle Ausgaben ge- druckt in mächtigem Folioformat.
Blickt man auf die Zahl der Ausgaben, ihre Überlieferung in europäischen Bibliotheken und die lange Editionsgeschichte, nicht zuletzt auch auf die Brisanz, die ihm die katholische Zensur verlieh,5 gehört das Theatrum humanae
1 Vgl. den kritischen Überblick zu neueren Forschungen von Völkel (2007).
2 Vgl. Seifert (1983).
3 Zedler: Universal-Lexicon, Bd. I, Vorrede, S. 1f.
4 Vgl. die Überblicke von West (2002) und M. Friedrich (2004).
5 Zum Theatrum auf den „Indices librorum prohibitorum“ die Belege bei De Bujanda: Index;
eine purgierte Ausgabe erschien bereits 1571 (Zwinger 1571b); auch in „Indices expurgatorii“
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Zedelmaier, Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae
vitae (so der Titel ab der Ausgabe 1586) zu den erfolgreichsten frühneuzeitlichen Wissenssammlungen.
Abb. 1: Titelblatt
Im Vergleich zu anderen frühneuzeitlichen Enzyklopädien hat das Werk des zu Lebzeiten berühmten Basler Medizinprofessors, der, wie sein voluminöser,
ist das Theatrum vertreten, vgl. etwa Brasichell: Indicis Librorum Expurgandorvm, S. 573 (betrifft die Ausgabe Zwinger 1586).
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weitgehend unpublizierter Briefwechsel belegt, mit der europäischen Gelehr- tenrepublik dicht vernetzt war, in der modernen Forschung eher wenig Auf- merksamkeit auf sich gezogen. Das mag mit dem heute erklärungsbedürftigen Titel Theatrum zusammenhängen, erklärt sich jedoch auch aus der formalen und inhaltlichen Besonderheit. Die Zahl der modernen Zugänge zu Zwingers Theatrum, in Form von Aufsätzen und Abschnitten von Büchern, ist überschaubar. Einige wichtige Arbeiten seien genannt. Carlos Gilly (1977/1979) untersuchte den biographischen und theologisch-philosophischen Kontext des Werks, Walter J. Ong (1976:111-120) die Frage seines Verhältnisses zur langen Tradition von „Loci communes“-Sammlungen, Arno Seifert (1976:79-88) und neuerdings Ann Blair (2005) thematisierten Zwingers Geschichtsbegriff, Udo Friedrich (2002:395-401) beschäftigte sich mit Zwingers Ordnungssystem.
Das Theatrum vitae humanae verzeichnet Textausschnitte, Einträge kleineren und größeren Umfangs, in einem feingliedrigen Ordnungsrahmen. Im Vor- wort bezeichnet Zwinger sein Werk als „Zeughaus für Geschichten“ („Historiarum promptuarium“), in das „alles, was man liest und hört“ („omnia ea quae leguntur et audiuntur“), eingelagert und zu gegebener Zeit bei Bedarf wieder hervorgeholt werden könne.6 Die Architektur dieser Vorratskammer visualisieren zahlreiche tabellarische Aufrisse, die in den Ausgaben von 1586 und 1604 mehrere hundert Seiten umfassen. Wie Petrus Ramus, der Reformator aristotelischer Logik, den Zwinger bei einem Studienaufenthalt in Paris persönlich kennen gelernt hatte und der ihn später in Basel besuchte (Gilly 1979:130), setzte Zwinger auf ein Gliederungssystem, in dem, ausgehend von einem Leitbegriff, Begriffe fortgesetzt in jeweils zwei Unterbegriffe untergliedert werden. Jeder Gegenstand sollte sich in die dichotomische Begriffshierarchie einordnen und dadurch leicht im Gedächtnis einprägen lassen.
Zwinger verstand die Anordnung („dispositio“) des Textmaterials wie Ramus als logisch abgeleiteten, in sich geschlossenen Systemzusammenhang, den er mit den Begriffen „ars“ und „methodus“ identifizierte (Zwinger 1565:8,24). Er hielt die Ordnungsstruktur seines Theatrums für eine außergewöhnliche, ja un- übertreffliche Leistung. Als erster habe er „Philosophiae ductu“, heißt es im
6 Zwinger (1565: Praefatio,16).
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Vorwort, in die konfuse Masse an Beispielmaterialien eine allgemeingültige Ordnung gebracht („in eum ordinem exemplorum confusam prius et indigestam farraginem contraxi“).7
Zwinger hat die Ordnungskategorien, aus denen er sein Theatrum baute, aus- führlich begründet. Auch über die Gattungstradition, in die sich sein Werk einschrieb, handelt er ausführlich im Vorwort.8 Das soll hier nicht weiter interessieren, auch nicht die Frage der Grenzen seines Systems, das schon zeitgenössisch, so von dem Danziger Logiker Bartholomäus Keckermann, und dann seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, etwa von Daniel Georg Morhof, als umständlich kritisiert wurde, dessen großen Nutzen aber noch Leibniz ausdrücklich rechtfertigte (Gilly 1979:148-150). Im Folgenden geht es um die innere Ordnung und das Funktionieren des Theatrums, darum, wie Wissen in ihm gesucht werden kann, welche Textmaterialien wie in die kleinteilig gegliederte Ordnungsarchitektur eingefügt sind, um welche Art von „Vorratskammer“ es sich also handelt. Das soll in einer möglichst genauen Beschreibung der besonderen Informationsarchitektur des Theatrums etwas deutlicher werden.9
2. Textzugänge
Bei unserem notwendig kursorischen Navigieren in Zwingers monumentalem Werk interessieren zunächst mögliche Zugänge in sein Textuniversum. Im Unterschied zu bloß alphabetischen Nachschlagewerken, die es ja auch damals schon gab und die, um aufschlussreich zu werden, eine spezielle Fragestellung voraussetzen, damit die Suche in Gang kommen kann, bietet das Theatrum verschiedene Möglichkeiten, um auf das in ihm verzeichnete Wissen zuzugreifen. Eine graphische Tabelle am Beginn des Werks stellt die gesamte Wissensstruktur als einprägsamen Zusammenhang vor (vgl. Abb. 2).
7 Zwinger (1565: Praefatio,17).
8 Vgl. Seifert (1976:79f.; 86f.); daran anknüpfend Zedelmaier (1992:233-241).
9 Dazu auch Kahl (2006:39-51).
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Abb. 2
Gleichsam auf einen Blick bekommt der Leser die Topographie des verzeich- neten Wissens vor Augen gestellt. Das jeweilige Thema der 19 Wissens- abteilungen („libri“), in die die Erstausgabe von 1565 unterteilt ist, steht als Stichwort mit Angabe des Buches, in dem es behandelt wird, an den Endpunkten der dichotomischen Auffächerung. Welche besonderen Gesichts- punkte in den einzelnen „libri“ behandelt werden, erläutert die „Series Titulorum“ (vgl. Abb. 3). Sie schließt an die einleitende graphische Tabelle an und listet die „tituli“ der einzelnen Bücher in der Abfolge, in der sie im Theatrum behandelt werden, mit Seitenverweisen auf. Die zweispaltig gesetzte
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Liste (in der Erstausgabe umfasst sie 21 Seiten) ist also eine Art feingliedriges Inhaltsverzeichnis. Haupttitel, Titel und Untertitel sind in ihr durch unter- schiedliche Schrifttypen und andere graphische und semantische Aus- zeichnungen markiert. Insgesamt, also Haupttitel, Titel und Untertitel zusammengenommen, verzeichnet die Titelserie der Erstausgabe von 1565 annähernd 2200 Einträge.
Abb. 3: Series titulorum
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Die grafische Tabelle am Beginn des Werks instruiert über die formale Ge- samtstruktur des Wissenstheaters. Eine exakte Lokalisierung der dargestellten Wissensfächer („libri“) im Gesamtwerk ist auf diesem Weg nicht möglich, es sei denn, der Leser geht das Werk auf der Suche nach einem bestimmten Wis- sensfach durch, etwa mit Hilfe der Einträge in den Kopfzeilen, die jeweils auf der rechten Seite die Themen der Bücher bezeichnen. Zu Beginn eines jeden Buchs findet er dann wiederum grafische Tabellen, die nun die Themen, also die „tituli“ der Bücher, dichotomisch auffächern. Genaue Aufschlüsse über die innere Struktur des Theatrums ermöglicht jedoch die Liste „Series Titulorum“. Den dort verzeichneten Themen sind Seitenzahlen zugeordnet, mit deren Hilfe die Einträge, die für das jeweilige Thema einschlägig sind, exakt lokalisiert werden können.
Der Leser kann aber auf die einzelnen „tituli“ auch ohne diesen systema- tischen Weg, für den modernen Leser gewiss eher ein Umweg, zugreifen, d.h. ohne die Benutzung der grafischen Tabellen und das mühsame Durcharbeiten der umfangreichen Titelliste. Ein „Theatri vitae humanae titulorum ordine alphabetico digestorum elenchus“, der das Werk beendet, ermöglicht es, das Theatrum sozusagen von außen aufzuschließen, also ausgehend von einer nicht vom systematischen Zusammenhang geleiteten Fragestellung. In diesem Index, der in der Erstausgabe dreispaltig gesetzt ist und 20 Seiten umfasst, finden sich die „tituli“ der einzelnen Bücher alphabetisch mit Seitenverweisen verzeichnet. So jedenfalls wirbt der zitierte lateinische Titel des Index. Offen- sichtlich ist er aber nicht aus einer bloßen alphabetischen Umsortierung der
„Series Titulorum“ entstanden. Eine grobe Schätzung ergibt nämlich an- nähernd 3.000 eingetragene Lemmata, während die „Series Titulorum“ ja nur annährend 2.200 Titel umfasst. Außerdem verweist das alphabetische Titel- Register bei einzelnen Einträgen auf mehr als nur eine Seitenzahl, also auf mehrere „tituli“ zum gleichen Thema (vgl. Kahl 2006:49f.). Die Frage, wie die Abweichung von der Ankündigung im Titel des Index zu erklären ist, muss einer eingehenderen Untersuchung, als sie hier vorgelegt werden kann, vorbehalten bleiben.
3. Textstruktur
Ab der Ausgabe von 1571 gibt es einen weiteren (äußeren) Zugang zu Zwin- gers Wissenstheater: einen alphabetischen „Index exemplorum“. Er erschließt
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die Texteinträge zu den Titeln. Auf welche Weise dieser und ein weiterer
„Index“ ab der Ausgabe 1586 („Catalogus auctorum“) funktioniert, welche Lemmata also in den beiden Registern stehen, ergibt sich erst aus der Analyse der Texteinträge und ihrer Präsentation.
Was also erwartet den Leser, der sich für einen Titel, d.h. ein spezielles Thema, interessiert, wie auch immer er das Thema identifiziert oder lokalisiert haben mag? Das soll kurz an Hand der Bücher „De historia“ und „De vita academica“ verdeutlicht und erläutert werden, in diesem Fall auf der Grundlage der Ausgabe 1586, also der letzten Ausgabe, die zu Lebzeiten von Zwinger – er starb 1588 – gedruckt wurde.
Das Buch „De historia“ ist Teil des sechsten, „De philosophicis habitibus practicis“ überschriebenen Volumens. Die einzelnen Bücher werden also in der Ausgabe 1586 zu Volumina zusammengefasst. „De historia“ umgreift die Seiten 1579 bis 1594, also 15 Seiten. Das ist im Rahmen der insgesamt 112
Bücher in 28 Volumina der Ausgabe von 1586 mit ihren 4.500 Seiten ein eher kleineres Buch.
„De historia“ beginnt mit allgemeinen Ausführungen zum Begriff. Zwinger
(1586:1579) profiliert hier seinen weit gefassten Historia-Begriff („historia“ ist
„ocularis et sensata cognitio“). Das Buch selbst thematisiert aber nur die engere Historie („historia per se“). Der Vorspann dient vor allem der logischen Verknüpfung des allgemeinen mit dem speziellen Historia-Begriff in Form dichotomischer Begriffsdifferenzierungen, die im Anschluss daran im üblichen tabellarischen Aufriss (vgl. Abb. 4) entsprechend visualisiert werden
(Zwinger 1586:1582).
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Abb. 4
Nach dem Vorspann beginnt das eigentliche Historia-Buch mit den folgenden zehn Haupttiteln: 1. „Inventores historiae“; 2. „Historici ecclesiastici“;
3. „Historici universales, qui vel a condito orbe, vel suae tantum aetatis gestae
diversorum populorum simul scripsere“; 4. „Historici particulares, qui res
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gestas descripsere";
5. "Vitarum scriptores"; 6. "Exemplorum rhapsodi";
7. Historiae
usus"; 8. "Historica exercitatio"; 9. "Historiae studium, amor,
cultus";10. "Historiae contemtus, odium, neglectus" (Zwinger1586:1583ff.).
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Abb.5
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Fünf von diesen Haupttiteln sind nicht weiter untergliedert.10 Nach der zen- triert über die ganze Seite in großen Versalien positionierten Haupttitelüber- schrift folgen, zweispaltig gesetzt, Texteinträge von unterschiedlicher Länge. Ein Eintrag bildet jeweils einen Absatz, der jeweils hängend formatiert ist (das charakterisiert überhaupt alle Texteinträge des Theatrums). Das Ende von Haupttiteln markieren jeweils über die ganze Seite durchgezogene Linien. Die anderen fünf Haupttitel von „De historia“ sind jeweils in weitere Titel unter- gliedert, so der Haupttitel „Historici particulares“ in Titel, die einzelne Völker- geschichten bezeichnen, beginnend mit „Historici Iudaeorum“ und endend mit „Historici Novi orbis“ (Zwinger 1586:1584-1587). Die Titelüberschriften sind wie die Haupttitelüberschriften zentriert positioniert, jedoch in kleineren Versalien gesetzt und sie übergreifen nur die Spalten. Entsprechend wird auch das Ende der Texteinträge zu einem Titel jeweils mit Linien markiert, die nur über die Spalten durchgezogen sind (vgl. Abb. 5).
Es gibt aber auch Haupttitel mit mehreren Titelebenen wie im Fall des Haupt- titels „Vitarum scriptores“ (Zwinger 1586:1587ff.). Die beiden Titel sind hier in Untertitel gegliedert, so der erste Titel über Verfasser von Lebensbeschrei- bungen „in genere“ in Lebensbeschreibungen von Männern und von Frauen. Im zweiten Titel „in specie“ sind sogar Untertitel weiter untergliedert, so der Untertitel „Animi bonis malisve illustrium“ in fünf Kategorien: 1. „Piorum, Sanctorum, Martyrum, Confessorum, Prophetarum“; 2. „Impiorum, Haereticorum, Magorum“; 3. „Doctorum, Philosophorum“; 4. „Bellica laude Illustrium“; 5. „Meretricum“. Untertitelüberschriften sind wie diejenigen der Titel über die Spalte zentriert positioniert, jedoch in kleineren Versalien gesetzt. Dasselbe gilt für die Überschriften ihrer Unterabteilungen, nur dass diese nicht durch Versalien, sondern durch Kursivierung ausgezeichnet sind. Abgrenzungen der Einträge zu Untertiteln und ihren Abteilungen gibt es im Unterschied zu Haupttiteln und Titeln nicht.
4. Texteinträge
Zu den Einträgen selbst. Unter den ersten Haupttiteln finden sich überwie- gend kurze Einträge von nur wenigen Zeilen, und zwar meist biobibliogra- phische Notizen zu Werken von Historikern, die einem bestimmten Schema
10 Und zwar die Titel 1.-3., 6., 10.
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folgen: Name und Herkunft des Historikers, Titel bzw. Kurzcharakteristik der Schrift, Lebenszeit („claruit“) und Belegangabe. So lautet der erste Eintrag des Titels „Historici universales“:
„Moses schrieb ein Buch über die Ursprünge, vom Beginn der Welt bis zur Auswanderung der Hebräer aus Ägypten nach Palästina. Es umgreift die Geschichte der ganzen Welt in 1452 Jahren. Moses lebte in den Jahren 1519 vor Christus. Bodin im Methodus historiarum“.11
Der Eintrag folgt dem Schema biobibliographischer Notationen, wie es Johannes Trithemius in De scriptoribus ecclesiasticis (erstmals 1494 gedruckt) und Konrad Gessner – Zwinger nennt ihn im Vorwort des Theatrums seinen Lehrer12 – in einer Bibliotheca universalis (gedruckt 1545/48) entwickelt hatten (vgl. Zedelmaier 1992:9-50). Auch Historik-Traktate des 16. und 17. Jahr- hunderts benutzen dieses Schema in den für sie typischen Rubriken „de historia legenda“, so auch der von Zwinger hier als Beleg zitierte Jean Bodin in der Methodus ad facilem historiarum cognitionem, die 1566, also ein Jahr nach der Erstausgabe des Theatrums, erstmals gedruckt wurde.13
Anders gebaut sind die Einträge zum ersten Haupttitel „Inventores historiae“. Im zweiten Eintrag heißt es:
„Der Milesier Cadmus begründete als erster von allen die Geschichte, wie Plinius im 7. Buch sagt. Josephus aber überliefert im ersten Band der Antiquitates, dass Cadmus, weit jünger als Moses, nur der erste bei den Griechen war, der Historien schrieb. Ähnlich wie die Ältesten der Hebräer, die heilige Bücher schrieben, auch als Erste Historien begründeten, so auch die Priester der Ägypter, wie derselbe Josephus im ersten Buch gegen Apion überzeugt ist. Eusebius Buch 10 und 11, Praeparatio Evangelicae“.14
11 Zwinger (1586:1583): „MOSES Originum librum ab orbe condito scripsit, usque ad migrationem Hebraeorum ex Aegypto in Palaestinam. Historiam universi mundi complectitur annorum II MCCCCL. Claruit ante Christum annis 1519. Bodinus in Methodo historiarum.“
12 Zwinger (1565: Praefatio,14).
13 Zu Bodins Methodus und die frühneuzeitliche „ars historica“ jetzt Grafton (2007).
14 Zwinger (1586:1583): „Historiam, ut Plinius lib. 7. ait, Cadmvs Milesius omnium primus condidit. Sed Josephus in primo Antiq. uolumine cum apud Graecos duntaxat primum historias scripsisse tradit, multo iuniorem Mose. Nam uero similius est, antiquissimos Hebraeorum, qui sacros libros scripserant, historias primo condidisse: uel Aegyptiorum sacerdotes, sicut ipse Josephus in primo contra Apionem sentire uidetur. Eusebius lib. 10. &
11. Praeparat. Euangelicae.“
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In diesem Fall werden also zwei Quellenzitate verzeichnet. Sie betreffen eine zentrale frühneuzeitliche Fragestellung, exzerpiert aus der Praeparatio Evangelicae des Kirchenvaters Eusebius von Caesarea, einem Grundbuch vor- moderner christlicher Archäologie. Die Gegenüberstellung von griechischem und hebräischem Ursprung der Geschichte betrifft aber dasselbe Axiom der jüdisch-christlichen Geschichtstheologie wie der zuerst zitierte Eintrag: Moses ist der älteste Historiker, und dieser Vorzug markiert nicht nur zeitlich, sondern auch hinsichtlich der Wahrheit der Geschichte die Überlegenheit der
„heiligen Geschichte“ („historia sacra“) gegenüber allen profanen Ge- schichten. Unüberschaubar ist die Zahl der Belege, in denen dieses Argument in der Frühen Neuzeit zum Einsatz kommt, ob nun mit oder ohne die hier angeführten Quellenzeugen (vgl. Zedelmaier 2003:11-21).
Wiederum andere Einträge begegnen unter den Titeln, die dem Nutzen und den Praktiken der Historie gewidmet sind (vgl. Abb. 5). So heißt ein kurzer Eintrag unter dem Haupttitel „Historiae studium, amor, cultus“: „Kaiser Karl dem Großen wurden bei den Mahlzeiten hervorragende Historien der Alten vorgelesen. Cranzius im zweiten Buch der Saxonia, 8. Kapitel“.15 Der Beleg re- feriert auf die 1520 gedruckte Sächsische Geschichte des Historikers Albert Krantz.16 Eingeordnet ist das Exzerpt unter dem Titel „Kunst“ („ars“) (Zwinger 1586:1592f.), der in die Themen Schreiben („Historias scribendo“), Überlieferungsauftrag („Historias committendo ut scribantur“), Aufzeichnen („Historias notando“), Lesen („Historias legendo“), Hören („Historias audiendo“), Lernen („Historias ediscendo“) und Ratgeben („Historias consulendo“) untergliedert ist.
Der Eintrag zum historischen Interesse Karls des Großen, der auf Einhards Vita Caroli Magni zurückgeht, ist dem Untertitel „Hören“ zugeordnet. In diesem Fall geht es also um einen historischen Handlungszusammenhang, wie auch bei einem weiteren Eintrag zu Karl dem Großen mit gleichem Beleg, den der Untertitel „Überlieferungsauftrag“ (er ist mit zahlreichen Einträgen belegt) aufführt: „Karl der Große befahl, die nicht schriftlich überlieferten erinnerungswürdigen Handlungen aller Völker, die ihm unterstanden, zum
15 Zwinger (1586:1593): „CAROLVS Magno Imp. in coena & prandio legebantur historiae antiquorum praeclarae. Cranzius libro secundo Saxoniae, capite 8.“
16 Zu Krantz vgl. Bollbuck (2006).
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Zedelmaier, Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae
Gedächtnis aufzuschreiben. Cranzius im zweiten Buch der Saxonia, 8. Kapitel“.17
Die meisten Einträge zu den Titeln über den Nutzen und die Praktiken der Historie umfassen etwa 15 bis 20 Zeilen, sind also wesentlich länger als die zitierten. Das gilt auch für die meisten Einträge zum Buch „De vita academica“ (Zwinger 1586:4062-4069), auf das hier noch kurz und summarisch verwiesen sei. Das Buch besteht aus den beiden Haupttiteln „Academia materialiter considerata“ und „Academia formaliter considerata“. In der ersten Kategorie finden sich unter den Titeln öffentliche Akademien, private Akademien, Studenten, Ämter, Privilegien und Orte Exzerpte mit ent- sprechenden Informationen zu historischen, aber auch gegenwärtigen Schulen und Universitäten (auch zu außereuropäischen). Die zweite Kategorie thematisiert Schul- und Universitätsgründer sowie universitäre Lehr- und Verfassungsformen. Zwinger verarbeitet in diesem Buch, wie er in einem kurzen Vorspann zum ersten Haupttitel mitteilt,18 besonders Exzerpte aus den Academiarum celebrium universi terrarum orbis libri, ein vielfach aufgelegtes, 1572 erstmals gedrucktes Werk des katholischen Historikers Jakob Middendorp (vgl. Benz 2003:121ff.).
5. Textverarbeitung
Soweit zu Aufbau und Inhalt einzelner Einträge aus Zwingers Wissenstheater. Den Befund zum Buch über die Historie gilt es nun im Blick auf die generelle Struktur und Funktion der Einträge im Theatrum sowie im Blick auf die Verän- derung der Werkstruktur im Verlauf der Editionsgeschichte zu differenzieren und zu relativieren. Das kann hier nur sehr knapp und kursorisch geschehen. Insbesondere die Untersuchung von Lorenz Beyerlincks Umschreiben des Theatrums in ein alphabetisches Lexikon (das aber dennoch weiterhin mit
17 Zwinger (1586:1593): „Carolvs Magnus omnium nationum, quae illi subessent, memorabilia gesta, quae scripta non erant, scribi & memoriae mandari iussit. Cranzius lib. 2. Saxoniae, c. 8.“
18 Zwinger (1586:4062): „De Academiis peculiarem commentarium edidit Iacobus Middendorpius, in argumento a paucis uel nullis tractato & ingeniosus & laboriosus, e quo nos etiam huc non pauca transtulimus.“
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alphabetischen Indices arbeitet) muss weiteren Forschungen vorbehalten werden.19
Abb. 6: Catalogus auctorum
19 Vgl. einstweilen zu Beyerlincks Magnum theatrum (1707) im Blick auf die formale Struktur
Kahl (2006:64-73).
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Wie gezeigt, verarbeiten die Einträge in Zwingers Wissenstheater unterschied- liches Wissen, jedenfalls nicht nur (wie Zwingers Begrifflichkeit es nahelegt) historische „exempla“. Gemeinsam ist allen Einträgen, dass sie Textaus- schnitte aus Texten, also Exzerpte sind, teils im identischen Wortlaut der Vorlage, teils leicht, manchmal auch stark bearbeitet. Bei der gewaltigen Masse an Einträgen konnte dies selbstverständlich auch in diesem Fall nur an Hand von Stichproben untersucht werden.
Bei den Belegen, die Zwinger anführt, handelt es sich in erster Linie um Kompilationsliteratur unterschiedlicher Art und Provenienz, aus Antike, Mittelalter und Humanismus. Einige Titel solcher Werke zitiert Zedlers Vorwort. Zwinger belegt aber auch Fachliteratur und historische Literatur. Ein
„Catalogus Auctorum“ (vgl. Abb. 6), einer der beiden genannten zusätzlichen
Indices der Ausgabe 1586, listet alphabetisch nach Vornamen, teilweise zusätzlich nach Familiennamen, jedoch ohne Seitenverweise jene Verfasser auf, aus deren Werke, so die Erläuterung, die meisten „exempla“ gezogen worden seien („e quorum monumentis pleraque exempla sunt desumpta“). Die allerdings, wie wiederum Stichproben ergaben, keineswegs vollständige Liste umfasst annähernd 450 differente Lemmata.20
Wie in dieser Liste, so finden sich auch in den Belegen zu den Einträgen selbst, die zitierten Einträge verdeutlichen es, oft nur Verfassernamen, nicht immer mit Stellenangaben, teilweise auch Werktitel. Manchmal sind in den Einträgen auch zwei und mehr Belege angeführt. Etwa fünf Prozent der Einträge bleiben dagegen ohne einen Beleg (vgl. Blair 2005:277). Offensichtlich handelt es sich in diesen Fällen nicht um Textexzerpte, sondern um Erfahrungswissen Zwingers. Das legt etwa ein Eintrag unter dem Titel „öffentliche und private Bibliotheken“ („Bibliothecae, tam publicae quam privatae“) über die Fugger- bibliothek nahe.21 Ob diese Erklärung allerdings für alle unbelegten Einträge zutrifft, konnte auch in diesem Fall nicht systematisch überprüft werden.
20 Die von Ong (1976:112) genannte Zahl von 510 Autoren ist übertrieben; offensichtlich hatte Ong übersehen, dass Zwinger manche Autoren zweifach verzeichnet, also sowohl nach Vornamen als auch nach Familiennamen.
21 Vgl. Zwinger (1565:21): „FVGGERI nostra aetate inter reliquas Magnificentiae laudes hac prima habuere, quod non modo (ut multi) in optimorum authorum uoluminibus maximo sumptu uniq; conquirendis laborarunt, uerumetiam summa liberalitate in Reip. Christianae utilitatem eosdem typis excudi curauerunt.“
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Zur formalen Struktur der Einträge. Wie gezeigt umgreifen einzelne Einträge nur zwei Zeilen, im Durchschnitt beträgt der Umfang 10 bis 15 Zeilen. Es gibt aber auch Einträge von 40 Zeilen und seltener auch solche von mehr als einer Spalte Umfang. In allen Einträgen findet man einen Begriff, der in Versalien gesetzt ist, öfters auch zwei oder mehrere auf diese Art ausgezeichnete Be- griffe (vgl. Abb. 5). Gewöhnlich handelt es sich dabei um Personennamen („quidam“ bezeichnet anonyme Personen), teilweise aber auch um Völker-, Städte- und Ländernamen, seltener auch um Namen von Institutionen, Titeln oder sozialen Stellungen; sehr selten sind auch abstrakte Begriffe entsprechend markiert. Die in Versalien gesetzten Begriffe sind sozusagen die Marker des Eintrags, die Stichworte, die den Eintrag identifizieren. Entsprechend bilden sie die Lemmata des alphabetischen „Index Exemplorum“, der die Einträge des Theatrums, wie bereits erwähnt, seit der Ausgabe 1571 aufschließt (vgl. auch Blair 2005:281).
In welcher Folge stehen die Einträge unter den Titeln des Theatrums? Bei eini- gen Titeln erübrigt sich diese Frage, denn sie besitzen nur einen einzigen Eintrag. Gewöhnlich sind es aber mehrere, manchmal bis zu 50 Treffer. Auf den ersten Blick scheint ihrer Abfolge, wie auf den ersten Blick bei den Treffern der Suchmaschine Google, keine bestimmte Ordnung zugrunde zu liegen, jedenfalls keine formale, etwa alphabetische Ordnung. Schaut man genauer hin, zeigt sich ein komplexes Ineinandergreifen unterschiedlicher Ordnungskriterien: Sachverhalte der biblischen Geschichte stehen oft, aber nicht immer, vor solchen aus der profanen Geschichte, auch Kriterien der Chronologie spielen häufig, aber auch hier nicht immer, eine Rolle. Im Vor- wort zum Theatrum hat Zwinger zur Ordnung der „exempla“ einige Hinweise gegeben.22
Einige Titel listen überhaupt keine Einträge auf. Teils finden sich hier Ver- weise auf Einträge, die unter anderen Titeln verbucht sind – das Theatrum besitzt also auch eine interne Verweisstruktur –,23 teils handelt es sich tatsächlich um bloße Leerstellen. Das verweist auf die heuristische Funktion von Zwingers Ordnungsraster sowie auf den Projektcharakter seines Wissens- theaters, das, wie viele Wissenssammlungen der Frühen Neuzeit, auf künftige
22 Vgl. Zwinger (1565: Praefatio,10f.)
23 Zum damit verbundenen Programm Zwinger (1565: Praefatio, 22).
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Vervollständigung hin angelegt ist. In dieser Hinsicht ist das Theatrum humanae vitae ein „work in progress“, wie dies auch die lange Geschichte seiner Ausgaben bestätigt. In späteren Editionen sind Leerstellen der Erst- ausgabe mit Einträgen versehen, Einträge verbessert und um neue Belege erweitert sowie unter einzelnen Titeln zusätzliche Einträge verzeichnet, aber auch Einträge getilgt. Zwinger hat in seine Ordnung auch neue Systemstellen und Titel eingebaut, Titel verschoben, getilgt und vor allem weiter ausdifferenziert (vgl. Blair 2005:282f.).
6. Wissenstheater
Zwinger verstand sein Wissenstheater, auch das verbindet ihn mit weiteren frühneuzeitlichen Wissenssammlungen, als ein Projekt zum Nutzen der „res publica literaria“, der Gemeinschaft aller Gelehrten. Das verdeutlicht ein ein- dringlicher Appell am Schluss des ausführlichen Vorworts der Erstausgabe:
„Bitten möchte ich einstweilen alle Doktoren und Gelehrten, welche die gelehrte Welt mit ihren Studien vorantreiben wollen, dass sie, wenn sie irgendwelche verborgenen Schätze an Beispielen oder Sen- tenzen haben, diese doch der Allgemeinheit zur Verfügung stellen und im Interesse des gesamten Erdkreises ihre Mühe auf die Vollen- dung dieses Theaterbaus verwenden möchten“.24
Die Utopie eines universalen Wissenstheaters, in das alle Gelehrten ihr Wissen fortwährend einspeisen (Analogien zur Gegenwart liegen auf der Hand), ist keineswegs auf jene Aufbereitung von Wissen beschränkt, die in antiker und mittelalterlicher Tradition mit „exempla“ und „dicta“ verknüpft war. Beide Begriffe stehen bei Zwinger für Exzerpte unterschiedlicher Art und Pro- venienz, die aus entsprechend unterschiedlichen Texten zu ziehen sind, aber auch Erfahrungen fixieren, die nicht durch Texte vermittelt sind. In eben diesem Sinn ist Zwingers Theatrum, so die eingangs zitierte Umschreibung, ein
24 Zwinger (1565: Praefatio, 29): „Rogatos interim volo omnes doctos et eruditos viros, qui Rempub. literariam studijs suis promovere possunt atque volunt, ut si quos vel exemplorum, vel sentantiarum reconditos habent thesauros, eos in commune depromere, et universo orbi in huius Theatri structura perficienda operam locare velint.“ Als ein Vorbild solch gelehrter arbeitsteiliger Projektforschung rühmt und empfiehlt Zwinger in diesem Zusammenhang die zeitgenössische protestantische Kirchengeschichtsschreibung der „Magdeburger Zenturien“ (vgl. ebd.).
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„Historiarum promptuarium“, in das „alles, was man liest und hört“, ein- gelagert und zu gegebener Zeit bei Bedarf wieder hervorgeholt werden kann.
Entscheidend ist nicht, wie in der antiken und mittelalterlichen Tradition, die moralische Qualifizierung, entscheidend ist die exakte Verortung der Ex- zerpte. Dadurch kann das Wissen zu gegebener Zeit und bei Bedarf wieder aufgerufen werden. Bedarf und Zeit aber sind dem Nutzer anheimgestellt, sind abhängig von seinen besonderen Interessen und Urteilen. Zwingers Wissenstheater bietet die Ordnungsstruktur und die Instrumente, um im Text- universum navigieren zu können, aber keine Vorschriften zur Anwendung des verzeichneten Wissens.25 Unser Theater, erklärt Zwinger in der Vorrede den Unterschied zum wirklichen Theater, ist kein flüchtiges Spiel, es stellt die Erfahrungen des gesamten Universums, von Anbeginn bis in unsere Zeit, in strenger Ordnung vor Augen, erlebbar nicht nur für diejenigen, die gerade anwesend sind, vielmehr zum Nutzen und zur Vervollkommnung der Nachkommen.26
Die Funktionsweise von Zwingers Theater als Wissensmaschine wurde hier beschränkt auf wenige Aspekte vorgeführt. Es gibt noch viele Fragen zu klären, will man genauer verstehen, wie in der frühen Neuzeit, „als das Buch noch High-Tech war“ (Kahl 2006:131), das Navigieren nicht nur in Zwingers Wissenstheater funktionierte.
25 Vgl. auch Blair (2005:286f.), die Zwingers Theatrum in den Kontext der Entstehung wis- senschaftlicher Tatsachen stellt.
26 Vgl. Zwinger (1565: Praefatio, 18f.): „Quemadmodum enim in theatris olim, et literaria et athletica certamina, naumachiae itidem, et venationes peregrinorum animalium exhibebantur, de quibus omnibus iudicare spectatorum erat: ita quoque in nostro Theatro non unica fabula, non unius diei venatio, non unius gentis res gestae, sed in universum omnia ea quae a conditio mundo ad nostram usque aetatem contigerunt, si non describuntur, at certe positis iam titulis describi possunt. Quodque maius est, ex spectaculis antiquorum illi tantum qui praesentes erant, voluptatem capere poterant: at quae nos hic exhibemus, ad seros fortasse nepotes magno cum fructu, nec minore cum accessione (si quid mea carmina possunt) pervenient. Praeterea sicuti fabulae Comicorum in Actus primum, deinde in Scenas dividuntur: ita nos (si dispositionem et formam consideres) totum hoc opus, quod humanae vitae generalem fabulam continet, in Actus suos, hoc est, in libros novemdecim distinximus: singulos deinde libros in titulos, tanquam in Scenas quasdam.“
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Zwinger, Theodor (1571b): Theatrum vitae humanae [...]. Primum a Conrado Lycosthene Rubeaquense [...] inchoatum: deinde Theodori Zwinggeri philosophi et medici Basiliensis studio et labore eousque deductum, ut omnium ordinum hominibus ad vitam praeclare instituendam utile et iucundum sit futurum: Hac vero editione permultis locis et exemplis auctum et locupletatum: a multis etiam haeresibus erroribus, quae pio lectori et vero catholico nauseam movere potuissent, consulto vindicatum et repurgatum. Adiecto praeterea indice locupletisißimo, cum rerum, tum nominum propriorum, eo studio arteque
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concinnato, ut omnia hoc opere contenta, tanquam per compendium, ordine alphabetico digesta lectori exhibeat, Paris [Chesneau].
Zwinger, Theodor (1586): Theatrum humanae vitae [...]. Tertiatione nouem voluminibus locupletatum, interpolatum, renouatum. Cum tergemino elencho, methodi scilicet, titulorum & exemplorum [...], Basel [Episcopius].
Zwinger, Theodor (1604): Theatrum humanae vitae [...]. Tertiatione novem voluminibus locupletatum, interpolatum, renovatum Jacobi Zvingeri fil. recognitione plurium inprimis recentiorum exemplorum auctario, Titulorum et Indicum certitudine ampliatum. Cum (...) quadrigemino elencho, methodi scilicet, titulorum, exemplorum, rerum et verborum, Basel [Henripeter].
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