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metaphorik.de 14/2008

Theatralität des Wissens als Raum und als Text

Sebastian Neumeister
  • Zugänge zum (Welt-)Wissen: Frühneuzeitliche Bedeutungsdimensionen der Theatrum-Metapher

 

Abstract

The stage of a theatre place or building offers the space for dramatic action representing the world. It is thus not astonishing that theatre provides a number of metaphors for storing knowledge, together with other forms of storing knowledge, e.g. a museum, a library, a castle, or a whole town. The most renowned example of knowledge located in a building is, besides utopian conceptions (Rabelais, Campanella, Andreae), the Escorial near Madrid, called by contemporaries a Noah‘s ark of all kinds of sciences and cultural activities. There are traces in the Escorial leading back to Giulio Camillos Idea del theatro, a main text of the 16th century discussion about mnemonic art. Camillo imagines an amphitheatre displaying on its rows the knowledge of the world in a well ordered systematic way. Thus, he converts the normal theatrical perspective: the visitor no longer sits on the terraces looking at the drama performed on the stage, but stands himself admidst the scene viewing the (not existing) auditory. Camillo takes leave thereby of the closed world of contemporary anatomical auditories (Bologna, Padova, Amsterdam etc.) where students are looking upon the central demonstration table where the professor is teaching with authority. Camillo‘s Idea del theatro does not open, however, the way to modern science, because it still depends on cabbalistic and esoteric presuppositions. In modern times an encyclopedia structuring all our knowledge is not possible any more. A modern form of encyclopedia could be in turn a permanent self-correcting dialogue.


Die Bühne eines Theaters gibt Raum für dramatische Handlungen, in denen die Welt in all ihren Aspekten repräsentiert wird. Es ist daher nicht erstaunlich, daß das Theater in dieser Funktion auch als Metapher für die Speicherung von Wissen verwendet worden ist, so wie auch das Museum, die Bibliothek, ein Gebäude oder eine ganze Stadt. Das bekannteste Beispiel für ein Wissensgebäude ist, sieht man einmal von utopischen Konzepten ab (Rabelais, Campanella, Andreae), der Escorial bei Madrid, den die Zeitgenossen eine Arche Noah des Wissens nannten. Es gibt Spuren, die vom Escorial zurück zu Camillos Idea del theatro führen, einem kanonischen Text der Gedächtniskunst-Debatte des 16. Jahrhunderts. Camillo stellt sich ein Amphitheater vor, auf dessen Rängen das Wissen in systematischer Form untergebracht ist. Er kehrt so die normale Theaterperspektive um: Die Zuschauer sitzen nicht mehr auf den Rängen und betrachten die dramatische Handlung auf der Bühne, sondern der Wissensuchende steht dort und findet das Wissen auf den Rängen. Camillo befreit den Blick aus dem geschlossenen Gehäuse der zeitgenössischen Anatomie-Theater (Bologna, Padua, Amsterdam), in denen die Studenten auf den zentralen Demonstrationstisch schauen, an dem der Professor als Autorität agiert. Camillos Idea del theatro öffnet gleichwohl nicht den Weg zur modernen Wissenschaft, da seine Idee noch kabbalistischen und esoterischen Vor¬stellungen verhaftet ist. Eine moderne Enzyklopädie, die unser gesamtes Wissen erfassen und strukturieren würde, ist nicht mehr möglich. An ihre Stelle aber könnte der sich ständig selbst korrigierende wissenschaftliche Dialog treten.
 

Ausgabe: 

Jahrgang: 

Seite 89

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