Theatralität des Wissens als Raum und als Text1
Abstract
The stage of a theatre place or building offers the space for dramatic action representing the world. It is thus not astonishing that theatre provides a number of metaphors for storing knowledge, together with other forms of storing knowledge, e.g. a museum, a library, a castle, or a whole town. The most renowned example of knowledge located in a building is, besides utopian conceptions (Rabelais, Campanella, Andreae), the Escorial near Madrid, called by contemporaries a Noah‘s ark of all kinds of sciences and cultural activities. There are traces in the Escorial leading back to Giulio Camillos Idea del theatro, a main text of the
16th century discussion about mnemonic art. Camillo imagines an amphitheatre displaying on its rows the knowledge of the world in a well ordered systematic way. Thus, he converts the normal theatrical perspective: the visitor no longer sits on the terraces looking at the drama performed on the stage, but stands himself admidst the scene viewing the (not existing) auditory. Camillo takes leave thereby of the closed world of contemporary anatomical auditories (Bologna, Padova, Amsterdam etc.) where students are looking upon the central demonstration table where the professor is teaching with authority. Camillo‘s Idea del theatro does not open, however, the way to modern science, because it still depends on cabbalistic and esoteric presuppositions. In modern times an encyclopedia structuring all our knowledge is not possible any more. A modern form of encyclopedia could be in turn a permanent self-correcting dialogue.
Die Bühne eines Theaters gibt Raum für dramatische Handlungen, in denen die Welt in all ihren Aspekten repräsentiert wird. Es ist daher nicht erstaunlich, daß das Theater in dieser Funktion auch als Metapher für die Speicherung von Wissen verwendet worden ist, so wie auch das Museum, die Bibliothek, ein Gebäude oder eine ganze Stadt. Das bekannteste Bei- spiel für ein Wissensgebäude ist, sieht man einmal von utopischen Konzepten ab (Rabelais, Campanella, Andreae), der Escorial bei Madrid, den die Zeitgenossen eine Arche Noah des Wissens nannten. Es gibt Spuren, die vom Escorial zurück zu Camillos Idea del theatro führen, einem kanonischen Text der Gedächtniskunst-Debatte des 16. Jahrhunderts. Camillo stellt sich ein Amphitheater vor, auf dessen Rängen das Wissen in systematischer Form unterge- bracht ist. Er kehrt so die normale Theaterperspektive um: Die Zuschauer sitzen nicht mehr auf den Rängen und betrachten die dramatische Handlung auf der Bühne, sondern der Wissensuchende steht dort und findet das Wissen auf den Rängen. Camillo befreit den Blick aus dem geschlossenen Gehäuse der zeitgenössischen Anatomie-Theater (Bologna, Padua, Amsterdam), in denen die Studenten auf den zentralen Demonstrationstisch schauen, an dem der Professor als Autorität agiert. Camillos Idea del theatro öffnet gleichwohl nicht den Weg zur modernen Wissenschaft, da seine Idee noch kabbalistischen und esoterischen Vor- stellungen verhaftet ist. Eine moderne Enzyklopädie, die unser gesamtes Wissen erfassen und strukturieren würde, ist nicht mehr möglich. An ihre Stelle aber könnte der sich ständig selbst korrigierende wissenschaftliche Dialog treten.
1 Der Autor legt Wert auf die Anwendung der alten Rechtschreibung.
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1.
Wenn wir von Theater sprechen, meinen wir zum einen das Theater als dramatische Handlung und zum anderen das Gebäude oder den Ort, in oder an dem diese dramatische Handlung gezeigt wird. Im ersten Falle haben wir es mit dem performativen Kernbereich des Begriffs ‘Theater’ zu tun, im zweiten mit der metonymischen Übertragung dieses Kernbereichs auf den Ort, wo Theater stattfindet. Bemerkenswert ist daran, wie sich die Dynamik des dramatischen Spiels semantisch zur Statik eines Gebäudes verfestigt hat, in dem dieses Spiel sich ereignet. Dieser Wechsel im Mobilitätsgrad – Aggregatzustand wäre das falsche Wort – gewinnt, wie wir sehen werden, besondere Bedeutung, wenn der Begriff ‘Theater’ wie hier mit dem Problem der Ordnung und Repräsentation von Wissen in Verbindung gebracht werden soll.
Das Theater als dramatische Handlung braucht einen Ort, an dem es statt- finden kann, so wie das Theater als Ort die dramatische Handlung braucht, um zum Raum zu werden, in dem etwas passiert, d.h. vorgeht oder eigentlich vorübergeht. Das Passieren als Vorübergehen ist sogar die essentielle Seins- weise des Theaters und der ihm vorausliegenden und mit ihm verschwisterten dramenähnlichen Seinsweisen, dem Spiel, dem Fest oder dem Ritus. Ihnen allen ist das Ephemere, Vergängliche als Daseinsweise eingeschrieben, das effimero, wie die Italiener sagen. Doch während Spiel, Fest und Ritus bestimm- ten Regeln folgen, die ihre Wiederholbarkeit garantieren, gilt das für das Theater nur in eingeschränktem Maße. Die dramatische Handlung hat sich seit den griechischen Anfängen des Theater immer stärker aus der Abhängigkeit vom rituell oder religiös bestimmten Spielort gelöst und in die des frei variierbaren Textes als Raum der Handlung begeben. Waren die griechischen Theater zunächst nur für religiöse Weihehandlungen bestimmt, mit einem Altar als Zeichen dieser Funktion in der Mitte der Bühne, so übernimmt mit der Einführung zunehmend heterogener dramatischer Stoffe mehr und mehr der Text die Herrschaft und verdrängt seit der Renaissance die sich alljährlich wiederholenden Riten, auch wenn sich Mysterien-, Oster- und Fronleichnams- spiele noch bis ins 17. Jahrhundert als dramatische Gattungen halten (Berthold
1968). Die unendliche Vielfalt von möglichen Handlungen, die das Theater seither und bis heute so attraktiv und lebensfähig macht, sei es, daß es die
Wirklichkeit jenseits der Bühne abbildet, sei es, daß es Theater im Theater
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spielt, findet ihre Begrenzung nur noch in bestimmten Gattungsregeln, wie sie, um nur zwei poetologische Extreme zu benennen, Aristoteles im vierten Jahrhundert vor Christus in seiner Poetik und Lope de Vega in seiner Neuen Theaterkunst (Arte Nuevo de hacer comedias en este tiempo, 1609) zu Beginn des 17. Jahrhunderts formuliert haben.
Das nach den Regeln des Aristoteles gestaltete Theater kommt mit einer Bühne von minimaler Veränderbarkeit aus, sei es, daß der Bühnenabschluß ganz fehlt wie in den griechischen Amphitheatern, sei es, daß er unabhängig von den jeweils vor ihm gespielten Stücken in Stein errichtet wird, wie dies die römische frons scenae tut, aber auch noch das Teatro Olimpico in Vicenza als der Versuch einer Wiederbelebung des antiken Theaters in der Hoch- renaissance (Beyer 1987) oder die Tragödie der französischen Klassik im 17. Jahrhundert mit ihrer extrem sparsamen Kulissenhandhabung.
Das neuere Theater entfaltet demgegenüber eine immer größere Vielfalt der Bühnengestaltung, wie gesagt nunmehr in wachsender Abhängigkeit vom Text und sozusagen getrieben von dem Wunsch, mit seinen dramatischen Stoffen aus der starren Ankettung des klassischen Bühnenprospekts in die Freiheit inszenatorischer Disponibilität zu gelangen. Diese von den Dramen- texten diktierte Flucht ins Freie erfolgt bei Sebastian Serlio in der Mitte des 16. Jahrhunderts zunächst in der Weise, daß im Anschluß an den römischen Architekten Vitruv für jede der drei klassischen Gattungen Tragödie, Komödie und Schäferspiel ein fest montierter, gemalter Bühnenprospekt vorgesehen ist (Pochat 1990:241-320). Diese gattungsbezogene Fixierung wird jedoch in Italien schon früh aufgegeben, sei es durch bewegliche Kulissenelemente, die seit der Antike bekannten drehbaren Dreieckselemente mit Kulissenbemalung, die sog. Periakten, sei es durch die komplette Freigabe des Bühnenhinter- grundes für auf die dramatische Handlung bezogenen Kulissen. Diese können sich wie im englischen Theater der Shakespeare-Zeit oder in den spanischen corrales, zu Theatern umgewandelten Innenhöfen, auf bloße Andeutungen beschränken, sie führen aber auch über die prunkvollen, technisch hoch- gerüsteten Theater der Barockzeit direkt in die Moderne, zu den Illusions- und Wechseldekorationen unserer Zeit. Jedenfalls wird nunmehr möglich, worüber sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Don Quijote von Cervantes
der Pfarrer ereifert: die absolute Freiheit in der Verfügung über Raum und
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Zeit, welche sich die spanische comedia nueva ebenso wie zur selben Zeit das elisabethanische Theater in England erlauben:
„¿Qué diré, pues, de la observancia que guardan en los tiempos en que pueden o podían suceder las acciones que representan, sino que he visto comedia que la primera jornada comenzó en Europa, la se- gunda en Asia, la tercera se acabó en África, y aun, si fuera de cuatro jornadas, la cuarta acababa en América, y, así, se hubiera hecho en todas las cuatro partes del mundo? Y si es que la imitación es lo principal que ha de tener la comedia, ¿cómo es posible que satisfaga a ningún mediano entendimiento que, fingiendo una acción que pasa en tiempo del rey Pepino y Carlomagno, el mismo que en ella hace la persona principal le atribuyan que fue el emperador Heraclio, que entró con la Cruz en Jerusalén, y el que ganó la Casa Santa, como Godofre de Bullón, habiendo infinitos años de lo uno a lo otro [...]“ (Cervantes 2004:606).
(Was soll ich von der Art sagen (so klagt der Pfarrer), wie die Zeit eingehalten wird, binnen deren die Handlung in diesen Schauspie- len vorgehen kann oder konnte, was soll ich anders sagen, als daß ich manches Drama gesehen habe, wo der erste Aufzug in Europa anfing, der zweite in Asien und der dritte in Afrika zu Ende ging und gewiß, wenn es vier Aufzüge gewesen wären, der vierte in Amerika schließen und also das Stück in allen vier Weltteilen spielen würde? Und wenn tatsächlich die Nachahmung der Wirklichkeit das hauptsächlichste Erfordernis eines Schauspiels ist, wie kann sich ein auch nur mittelmäßiger Kopf befriedigt fühlen, wenn bei einer Handlung, die der Dichter in die Zeiten des Königs Pippin und Karls des Großen verlegt, als Hauptperson der Kaiser Heraklius auf- tritt, der mit dem Kreuz in Jerusalem einzieht und das Heilige Grab erobert wie Gottfried von Bouillon, während doch zahllose Jahre zwischen diesem und jenem Ereignis liegen [...].).
Was Cervantes hier den Pfarrer kritisieren läßt, ist nichts anderes als die Beerdigung der Theaterpoetik des Aristoteles mit ihren drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung zugunsten von Freiheiten, mit denen Shakespeare und Calderón, Gryphius und Joost van den Vondel im 17. Jahrhundert die Welt in allen ihren Aspekten in das Theater holen.
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2.
Angesichts eines solchen Reichtums der Stoffe und der Möglichkeiten kann es eigentlich nicht verwundern, ja es läßt sich damit geradezu historisch erklären, daß es gerade das Theater ist, das im 17. Jahrhundert zur Leitmetapher der frühneuzeitlichen Welterfassung wird (West 2002). Das gilt für den dra- matischen Zugriff auf die Welt als Ganzes ebenso wie für den enzyklopädi- schen Rundumschlag, für Calderóns Fronleichnamsspiel Das Große Welttheater (El gran teatro del mundo) in 1572 Versen ebenso wie für Theodors Zwingers Theatrum vitae humanae in 29 Bänden.2 Dennoch ist es eine Überlegung wert, warum das Theater und nicht das Museum oder die Bibliothek zu Leitmeta- phern der Wissensspeicherung werden konnte. Das Museum und seine Vor- form, die Kunstkammer (Pomian 1986), haben mit dem Theater immerhin die Möglichkeit der anschaulichen Inszenierung und Visualisierung gemeinsam, wobei der Titel Theatrum oder Schaubühne gerade auch für solche Bücher gewählt wird, die diese Visualisierung nicht leisten und das Wissen nur verbal präsentieren. Bibliothek und Theater andererseits erheben beide den An- spruch, das Ganze der Welt, das theatrum vitae humanae zu enthalten, auch wenn dies im Theater nur in Teilaspekten und stellvertretend geschieht. Das Theater als Metapher steht so mit seiner tatsächlichen oder auch nur behaup- teten Visualisierung genau in der Mitte zwischen Museum und Bibliothek, auch wenn es diesen Platz als Gebäude im allgemeinen nicht in der Mitte der Stadt hat.
Dennoch dürfen wir den räumlichen Kontext des Theatergebäudes nicht ver- gessen, die Stadt und ihr Zentrum, den zentralen Platz, den Petersplatz in Rom, die Plaza Mayor in Madrid oder den Platz des himmlischen Friedens in Peking als Kreuzungspunkt der Lebensspuren, die hier aus allen Richtungen kommend zusammenlaufen – es ist genau jene Piazza universale, die Tommaso Garzoni 1575 als Titel für seine Zusammenstellung von 550 Berufen und 5000 dabei erwähnten Personen gewählt hat: Allgemeiner Schaw-Platz oder Marckt und Zusammenkunft aller Professionen, wie der Titel der deutschen Ausgabe von
1626 lautet. Calderón wird nur wenig später ein Fronleichnamsspiel schreiben,
Der große Weltmarkt (El gran mercado del mundo), das die gleiche Denkfigur
2 Vgl. dazu die Beiträge von Christian Weber und Helmut Zedelmaier in diesem Band.
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dramatisch aktiviert – es wurde 1992 auf der Plaza Mayor von Madrid – wo sonst? – wiederaufgeführt.
Der Marktplatz als der Ort, an dem alle Berufe und alle Objekte, mit denen sie zu tun haben, zu besichtigen sind, der Marktplatz als Enzyklopädie, wie sie auch das Theater als Darstellung der Welt anstrebt, und natürlich die Stadt: In ihnen allen ist die ganze Welt versammelt: in urbe mundus (Schabert 1988). Die Welt aber ist, wie bei Calderón Gott zur Welt sagt, nichts anderes als ein Theater:
„Seremos, yo el Autor en un instante,
tú el teatro, y el hombre el recitante“ (Calderón 1973:106) . (Derweil ich dirigiere, sei du die Bühne und der Mensch agiere.)
Was nun das Wissen von der Welt und in der Welt angeht, so gilt es dafür die geeignete Ordnung, d. h. Anordnung des Wissens zu finden, eine Anordnung, die dem jeweiligen Weltverständnis entspricht. Vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert kommen dafür, sofern es sich um die Stadt handelt, bevorzugt zwei geometrische Idealformen in Anwendung, der Kreis und das Quadrat, die Kreisform des irdischen Jerusalem, so wie es sich in mittelalterlichen Stadt- ansichten darstellt, und die quadratische Form des himmlischen Jerusalems, so wie es der Apostel Johannes im Neuen Testament geschaut hat, das eine ein gleichsam nach oben ausgestülptes Amphitheater, das andere um einen zen- tralen Platz gruppiert. Die Frühe Neuzeit zögert nicht, diese Modelle wenigstens in Gedanken, aber zuweilen auch real auszuführen. So haben wir nicht nur die sechseckige Abbaye Thelème von François Rabelais und die streng kreisförmige Sonnenstadt von Tommaso Campanella, in der das Wissen an den Wänden der Ringstraßen abgebildet ist, mit einem Tempel in der Mitte, in dem unter der zentralen Windfahne „ein in goldenen Lettern geschriebenes Buch“ aufbewahrt wird, sondern auch die quadratische Wissensstadt Christianopolis von Johann Valentin Andreae, in der das Wissen auf Schauhäu- ser verteilt ist. In beiden regiert eine strikte Zentralsymmetrie, wie sie als Hypertrophie ordnender Gewalt immer wieder auch in späteren Stadtutopien Anwendung findet (Bauer 1965; Vercelloni 1994; Nerdinger 2006).
Wenn wir aber für die Anordnung des Wissens nicht den Maßstab einer gan- zen Stadt wählen, sondern, wie eigentlich auch Johann Valentin Andreae nur einen gut organisierten Gebäudekomplex, stoßen wir auf ein wirklich gebau- tes Beispiel, auf nichts Geringeres als die größte Wissensmaschine der Frühen
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Neuzeit. Es ist dies der Klosterpalast, den der spanischen König Philipp II. gegen Ende des 16. Jahrhunderts weit außerhalb der Hauptstadt Madrid errichten ließ: El Escorial de San Lorenzo (Kubler 1982). Fray José de Sigüenza, der Chronist der Baugeschichte des Escorial, vergleicht den riesigen, zwischen
1563 und 1584 errichteten Komplex, der den Zeitgenossen nicht ohne Grund als achtes Weltwunder galt, mit der Arche Noah und mit dem Tempel Salomons, ja er stellt ihn noch über diesen, nämlich in die Nähe des Tempels, von dem der Prophet Ezechiel im Alten Testament berichtet (Ezechiel 40,1-
43,11). Im Escorial, so Sigüenza, schießen die Arche Noah, der Tempel Salomons und der Tempel, der Moses von Gott offenbart wurde, zu einem Hort des Wissens zusammen, wie ihn das christliche Abendland noch nicht gesehen hat:
„Aquí, como en una arca de Noé, se salvan muchas almas que, huyendo del diluvio del mundo, se encierran dentro de sus marcos en una estrecha obediencia, esperando con gran firmeza no olvidará Dios a los que así se fiaron de su palabra. Aquí, como en el Tabernáculo de Moisés, se asienta el mismo Dios en la verdadera arca del testamento sobre las alas de los querubines, se aprende la ley divina, se guarda, se ejecuta, disputa, defiende, enseña. Aquí, como en otro Templo de Salomón, a quien nuestreo patrón y funda- dor Felipe II fue imitando en esta obra, suenan de día y de noche las divinas alabanzas, se hacen continuos sacrificios, humean siempre los inciensos, no se apaga el fuego ni faltan panes recientes delante de la presencia divina, y debajo de los altares reposan las cenizas y los huesos de los que fueron sacrificados por Cristo“ (Sigüenza
1963:6).
(Hier werden viele Seelen in einer Arche Noah gerettet, die sich auf der Flucht vor der Sintflut der Welt in ihren Wänden in strengem Gehorsam einschließen, im festen Glauben, daß Gott die nicht ver- gessen wird, die auf sein Wort vertrauen. Hier läßt sich Gott selbst wie im Tabernakel von Moses in der wahren Arche des Testaments auf den Flügeln der Cherubine nieder, hier lernt man das göttliche Gesetz, hier wird es behütet, befolgt, diskutiert, verteidigt, unterrich- tet. Hier erklingt wie in einem anderen Tempel Salomons, den unser Schutzherr und Gründer Philipp II. in diesem Bau nachgeahmt hat, Tag und Nacht das Lob Gottes, werden Opfer dargebracht, steigt Weihrauch auf und es fehlt angesichts der Präsenz Gottes nicht an frischem Brot, und unter den Altären ruhen die Asche und die Ge- beine derer, die um Christi willen geopfert wurden.)
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Schule, Kloster, Bibliothek, Palast, Heiligtum und Kirche bilden, so müssen wir Sigüenza verstehen, eine Arche Noah, in der alles Zuflucht findet, was zur Verteidigung und zur Mehrung des christlichen Glaubens beiträgt, nicht museal, sondern aktiv und kreativ. Was hier versammelt ist, umfaßt unter christlichem Vorzeichen alles, was Gott den Menschen als Tätigkeit auf- getragen hat. Sigüenza nimmt in seiner Beschreibung in nuce vorweg, was die Enzyklopädisten des Barock und der Aufklärung, allen voran die französische Encyclopédie, an Tätigkeiten, Objekten, Maschinen und Wissen zusammen- tragen werden, nachdem schon vorher Leibniz, der unermüdliche Experimentator auf dem Felde der totalen Welterfassung, in Fortführung von Gedankenspielen Francis Bacons 1676, also knapp hundert Jahre nach Sigüenza, ein Theater der Natur und der Kunst aufs Papier geworfen hatte, das so etwas wie ein moderner Escorial sein könnte:
„Guerre contrefaite. Exercice d‘infanterie de Martinet. Exercice de cavalerie. Bataille navale, en petit sur un canal. Concerts extraordinaires. Instruments rares de Musiqve. Trompettes parlantes. Chasse. Lustres, et pierreries contre-faites. La Representation pouroit tousjours estre meslée de qvelqve histoire ou comedie. Theatre de la nature et de l‘art. Luter. Nager. Danseur de cordes extraordinaires. Saut[s] perilleux. Faire voir, qv‘un entfant leve un grand poids avec un fil. Theatre Anatomiqve. Iardin des simples. Laboratoire, suivront. Car outre les representations publiqves, il y aura des particulieres, comme des petites machines de Nombres, et autres tableaux, medailles, biliotheqve[s]. Nouvelles experiences, d‘eau, air, vuide. “
(Täuschend echter Krieg. Exerzierübungen der Infanterie gemäß Martinet. Kavallerieübung. Seeschlacht im Kleinen auf einem Kanal. Außergewöhnliche Konzerte. Seltene Musikinstrumente. Sprechen- de Trompeten. Jagd. Lüster und imitierte Edelsteine. Die Auffüh- rung könnte zudem jederzeit mit manchen Geschichten oder Komö- dien verbunden werden. Theater der Natur und Kunst. Kampfauf- führung, Schwimmwettstreit. Außergewöhnlicher Seiltänzer. Salto mortale. Zeigen, wie ein Kind ein schweres Gewicht mit einem Faden heben kann. Anatomisches Theater. Heilkräutergarten mit angeschlossenem Labor. Denn neben den öffentlichen wird es spezifisch ausgerichtete Darbietungen geben, wie die von kleinen Rechenmaschinen, und andere, Gemälde, Medaillen, Bibliothek. Neue Experimente mit Wasser, Luft und dem Vakuum.) (Bredekamp 2003:178 und 168)
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Zweifellos ein Chaos ganz verschiedenartiger Objektkategorien, das Leibniz hier imaginiert, ein Escorial aller menschlichen Tätigkeiten. Horst Bredekamp (1993) hat die hier skizzierte Schaubühne menschlicher Tätigkeiten allerdings nicht mit dem Escorial verglichen, sondern als eine Art Centre Pompidou der Frühen Neuzeit bezeichnet, in dem das alte Konzept der Kunstkammer für das neue, mit der Natur experimentierende Denken erschlossen wird.3 Man könnte das Theater der Natur und der Kunst von Leibniz, das diesen im übri- gen über Jahrzehnte beschäftigt hat und das sicher auch mit der Gründung der Preußischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1701 in Verbindung gebracht werden kann, auch mit der modernen Universität vergleichen. Auch eine Universität speichert das Wissen nicht nur in ihren Bibliotheken, sondern wendet es auch an, diskutiert, verteidigt und unterrichtet es auch wie in den Räumen des Escorial. Thomas Jefferson, der dritte Präsident der Vereinigten Staaten, hat 1817, also mehr als zwei Jahrhunderte nach Philipp II. und 150
Jahre nach Leibniz, eine solche moderne Wissensmaschine entworfen und ebenfalls gebaut, die Universität von Charlottesville im amerikanischen Bun- desstaat Virginia (Lankheit 1965:75f.). Das „academical village“, das Jefferson sich vorstellt und das noch heute existiert, eine Lern- und Wohngemeinschaft von Studenten und Professoren, besteht aus zwei Reihen von je fünf Pavillons mit Hörsaal und Professorenwohnung, verbunden durch Loggien im Stil des Klassizismus, hinter denen die Studentenwohnungen liegen. An der Schmalseite des so gebildeten Rechtecks aber erhebt sich die dem römischen Pantheon nachgebildete Bibliothek, das geistige Zentrum der ganzen Anlage, ja wie in der Sonnenstadt von Tommaso Campanella ihr heiliger Ort. Denn wenn man die Bibliothek, diesen Tempel des Wissens, durch einen Altar er- setzt, so erhält man den Grundriss einer Kirche. Ersetzt man sie aber durch eine Bühne, so erhält man ein Theater, so wie es an den Höfen der Renaissance und des Barock üblich war: die Bibliothek als Schaubühne des Geistes, auf die alles hingeordnet ist. Einen wichtigen Unterschied gilt es gleichwohl festzu- halten: Jeffersons akademisches Dorf hat zwar exakt denselben Grundriss wie die Kirchen und die fürstlichen Palasttheater, doch die Benutzung hat sich geändert. Während im Hoftheater die Zuschauer an den Längsseiten oder im
3 Ein geistesverwandtes Unternehmen hat die Enciclopedia Italiana 2000 mit einem zweibändigen, nur aus Bildern bestehenden Nachtrag (Stabile 2000) riskiert. Vgl. auch Neumeister (1990).
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Hintergrund plaziert sind und der Fürst mit seinem Gefolge in der Haupt- achse der Perspektive, direkt gegenüber der Bühne Platz nimmt, weicht diese Anordnung in Charlottesville einer demokratischen Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden im Zeichen des Geistes: Hier breitet sich in der Mitte der Anlage grüner Rasen aus – die offene Campus-Universität kündigt sich an.
3.
Wir wollen noch einmal in die Renaissance zurückkehren, in den Escorial Philipps II. Zur Ausstattung dieses königlichen Klosters gehört selbstverständ- lich auch eine große und bis heute wichtige Bibliothek. Und in ihr findet sich unter vielen seltenen Büchern auch die kostbare, von keinem Geringeren als Tizian illustrierte Ausgabe eines Buches, das im 16. Jahrhundert Furore machte – Francisco Herrera, der Architekt des Escorial, besaß sogar zwei Exemplare davon (Keller-Dall‘Asta 2001:214): Giulio Camillos Idea del theatro (Camillo 1991). Giulio Camillo detto il Delminio (ca. 1480-1544) war ein Humanist, ein Fanatiker und ein genialer ‚Projektemacher’. Von seinen zahlreichen Werken erschien keines zu seinen Lebzeiten, er hinterließ vielmehr nur eine Menge Manuskripte zur Rhetorik, zur Poesie, zur Religion und zur Gedächtniskunst. Dennoch war es die erst 1550 gedruckte Idee eines Gedächtnistheaters, die ihn zu einem der bekanntesten Denker seiner Zeit machte. Schon um 1530 hatte Camillo dem französischen König Franz I. die handschriftliche Fassung eines Theatro della sapienza überreicht, das aus langen Listen noch weitgehend ungeordneter Begriffe bestand, und hielt sich in den folgenden Jahren mehrfach am französischen Hofe auf. Angeblich baute er dort auch für den König ein hölzernes Modell seines Gedächtnistheaters auf, ohne daß uns allerdings Reste davon erhalten geblieben sind. Immerhin haben wir das Zeugnis eines Zeitgenossen, Viglius Zuichemus, der es selbst gesehen haben will und 1530 in einem Brief an Erasmus von Rotterdam beschreibt:
„ [...] fuit et Viglius in Amphitheatro, omniaque diligenter perspexit. Opus est ligneum multis imaginibus insignitum, multisque vndique capsulis refertum: tum varii in eo ordines et gradus. Singulis autem figuris et ornamentis sua loca dedit, tantamque mihi chartatum molem ostendit vt, etsi semper audierim Ciceronem vberrimum eloquentiae fontem esse, vix tamen induci ante potuissem vt crederem vnum auctorem tam late patere, totque ex eo volumina
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consarcinari potuisse. Auctores nomen tibi scripsi, Iulius quippe Camillus vocatur. Est autem valde balbus, et latine aegre loquitur, hoc se praetextu excusans, quod styli pepetuo exercitio loquendi vsum prope amiserit. [...] Hoc autem theatrum suum auctor multis appellat nominibus, aliquando mentem et animum fabrefactum, aliquando fenestratum: fingit enim omnia quae mens humana concipit, quaeque corporeis oculis videre non possumus, posse tamen diligenti consideratione complexa signis deinde quibusdam corporeis sic exprimi, vt vnusquisque oculis statim percipiat quicquid alioqui in profundo mentis humanae demersum est. Et ab hac corporea etiam inspectione theatrum appelavit“ (Zuichemus
1941:29f.).
(Auch Viglius war im Amphitheater und hat alles sorgfältig betrach- tet. Das Werk ist aus Holz, fällt durch viele Bilder auf und ist mit vielen kleinen Kästchen bestückt; es gibt verschiedene Ordnungen und Ränge darin. Er gibt jeder einzelnen Figur und jedem Ornament seinen Platz, und er zeigte mir eine solche Menge von Papier, daß ich, obwohl ich immer geglaubt hatte, daß Cicero der reichste Quell der Eloquenz sei, vorher nicht geglaubt hätte, daß ein Autor fähig sein könnte, so viele Bände zusammenzufassen. Ich habe euch schon geschrieben, daß der Name des Autors Julius Camillus ist. Er stottert stark und spricht Latein nur mit Schwierigkeiten und entschuldigt sich damit, daß er durch ständiges Schreiben das Sprechen fast verlernt habe. [...] Er bezeichnet sein Theater mit vielen Namen, einmal als künstlich verfertigten, einmal als durchschaubaren menschlichen Geist. Er gibt nämlich vor, daß alle Dinge, die der menschliche Geist ersinnt und die wir nicht mit den Augen sehen können, durch geschicktes Nachdenken mit verschiedenen an- schaulichen Zeichen so wiedergegeben werden können, daß ein jeder sogleich all das sehen kann, was sonst in den Tiefen des menschlichen Geistes verschlossen ist. Und wegen dieser körperlichen Sichtbarkeit hat er es Theater genannt.)
Die Fama des konkret aufgebauten Theaters der Erinnerung ist es wohl, die der erst 1550 gedruckten Idea del theatro und ihrem Autor zu einem Ruhm ver- holfen hat, der weit über Italien und Frankreich hinausreichte und nicht nur Theologen und Philosophen, sondern auch Fürsten, Architekten und bildende Künstler erreichte. Der Einfluß Camillos ist nicht nur für Samuel Quicchelbergs Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi und für Vincenzo Borghinis berühmtes Stanzino im Palazzo Vecchio von Florenz in Anspruch genommen wurden (Keller-Dall‘Asta 2001:214), sondern auch für Robert Fludds Utriusque cosmi (...) metaphysica, physica atque technica historia (Puppi
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1980:213f.). Robert Fludds berühmtes Buch von 1617 zur Gedächtniskunst ist hier insofern besonders interessant, als es auch die Beschreibung einer Wissensmaschine enthält, die sozusagen eine auf den Kopf gestellte Variante des Camillo-Theaters ist, die Anordnung von den sieben Planeten zugeordneten historiae oder Theaterszenen auf sieben Ebenen in Form einer Stufenpyramide. Dadurch entstehen zwar wie bei Camillo auch 49
Abteilungen, doch diese sind im Unterschied zur Idea del theatro frei einsetzbar und beweglich – sie waren in dieser Form vielleicht sogar, von Wasserkraft betrieben, im Garten des Heidelberger Schlosses zu bewundern. Eine vage Vorstellung von der Wirkung dieser Theatermaschine, wenn auch nur auf einer Ebene, mag die sich weiterdrehende Diaschau eines Kaiserpanoramas der vorletzten Jahrhundertwende vermitteln, wie es zuweilen noch für Ausstellungen reaktiviert wird (Berliner Festspiele 1984).
Im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch etwa anderes entscheidend. Camillo respektiert zwar die klassische Form des Theaters als von kreisförmig aufsteigenden Rängen umgebene Bühne, wie sie seit der Antike feststand, doch er nutzt diese Theaterform in anderer Weise, ja er kehrt ihre Nutzung schlichtweg um. Denn in seinem Theater ist es nicht mehr das Geschehen auf der Bühne, das Zuschauer von den Rängen aus verfolgen, sondern hier steht der Zuschauer auf der Bühne und nimmt wahr, was auf den Rängen des Theaters zu sehen ist. Camillo betont dies ganz bewusst:
„Ma per dar (per così dir) ordine all‘ordine, con tal facilità che facciamo gli studiosi come spettatori, mettiamo loro davanti le dette sette misure, sostenute dalle misure de‘ sette pianeti, in spettaculo, o dir vogliamo in theatro, distinto per sette salite“ (Camillo 1991:58).
(Um aber sozusagen der Ordnung eine Ordnung zu geben, stellen wir den Forschern mit derselben Leichtigkeit, mit der wir sie als Zu- schauer behandeln, die sieben Bereiche, gestützt auf die Bereiche der sieben Planeten, als Schauspiel oder besser als Theater vor Augen, getrennt durch sieben Ausgänge.)
Mit dieser Umkehrung der Blickrichtung ändert sich das ganze Bezugssystem Theater, eine Umpolung, die besonders dann relevant wird, wenn man das Theater als Modell für die Konfiguration, Repräsentation und Kommunikation von Wissen versteht. Denn Camillo setzt, wie er weiter ausführt, in genauer Respektierung der Vorgaben des römischen Theaters, so wie es Vitruv in seinen Zehn Büchern über die Architektur (De architectura libri decem) beschrieben
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hat, die Wissensobjekte an die Plätze, die sonst die Zuschauer des Theaters einnehmen:
„E perché gli antichi theatri erano talmente ordinati che sopra i gradi allo spettaculo più vicini sedevano i più honorati, poi di mano in mano sedevano ne‘ gradi ascendenti quelli che erano di menor dignità, talmente che ne‘ supremi gradi sedevano gli artefici, in modo che i più vicini gradi a‘ più nobili erano assegnati, sì per la vicinità dello spettaculo, como e ancora perché dal fiato de gli artifici non fossero offesi, noi, seguendo l‘ordine della creation del mondo, faremo seder ne‘ primi gradi le cose più semplici, o più degne, o che possiamo imaginar esser state per la disposition divina davanti alle altre cose create. Poi collocheremo di grado in grado quelle che appresso sono seguite, talmente che nel settimo, cioè nell‘ultimo grado superiore, sederanno tutte le arti et facultà che cadono sotto precetti, non per ragion di viltà, ma per ragion di tempo, essendo quelle come ultime da gli huomini state ritrovate“ (Camillo
1991:58f.).
(Und weil die antiken Theater so angeordnet waren, daß auf den dem Schauspiel als nächsten gelegenen Rängen die höchsten Würdenträger saßen, während die weniger Angesehenen auf den höheren Rängen saßen, so, daß auf den höchsten Rängen die Handwerker saßen und die nächstliegenden Ränge den Edelsten vorbehalten waren, sowohl wegen der Nähe zum Schauspiel wie auch weil sie hier nicht vom Atem der Handwerker belästigt wurden, so wollen wir entsprechend der Ordnung der Schöpfung der Welt auf den ersten Rängen die einfachsten oder würdigsten Dinge unterbringen, oder diejenigen, von denen wir uns vorstellen, daß sie nach göttlichem Ratschluß vor allen anderen Dingen geschaffen wurden. Dann ordnen wir Stufe für Stufe diejenigen an, die danach kamen, derart, daß auf dem siebten, d.h. letzten und höchsten Rang alle Künste und Fertigkeiten untergebracht sind, die unter eine Vorschrift fallen, nicht wegen ihrer Niedrigkeit, sondern aus Zeitgründen, weil sie als letzte von den Menschen wieder- gefunden wurden.)
An die Stelle der Fixierung des Blicks auf ein vorführbares Wissen, wie es in den Naturwissenschaften der Zeit mehr und mehr Platz greift, geht es aller- dings hier um einen Arkanbereich, in dem das Wissen in Form von Zeichen versammelt ist, die nur Eingeweihten zugänglich und verständlich sind:
„Nel primo grado adunque se vedranno sette porte dissimili, percioché ciascun pianeta in figura humana sarà dipinto sopra la
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porta della a lui destinata colonna [...] sotto la porta di ciascun pianeta saranno conservate tutte le cose appartenenti così alla misura del sopraceleste suo corrispondente, come a quelle che appartengono ad esso pianeta et alle fintion de‘ poeti intorno a quello [...]“ (Camillo 1991:59f.).
(Auf dem ersten Rang sieht man also sieben ungleiche Tore, weil jeder Planet über dem Tor der für ihn bestimmten Rangfolge in menschlicher Gestalt abgebildet ist. Unter dem Tor jedes Planeten werden alle Dinge aufbewahrt, die zum überirdischen Bereich ge- hören, sowie jene, die zu diesem Planeten und den entsprechenden Erfindungen der Dichter gehören.)
Giulio Camillo nimmt in seiner Idea del theatro mehrere Traditionsstränge der Suche nach eine Universalwissenschaft und einer Methode, sie zu thesaurie- ren, auf: die ciceronianische Rhetorik, den Llullismus und den Neuplatonis- mus, aber auch Geheimwissenschaften wie die Kabbala und die Alchemie. Das Wissen ist hier nicht linear, als Ergebnis einer Argumentationsstrategie erreichbar, die deduktiv oder induktiv vorgeht, sondern nur als ständiges Hin und Her einer kombinatorischen Phantasie, die assoziativ mit der Begabung der Versabilität (versabilità) vorgeht und so ein Wissen erschließt, das, wie Barbara Keller, die beste Kennerin Giulio Camillos im deutschen Sprachraum, in ihrem Buch zur Gedächtniskunst des 16. Jahrhunderts in Italien schreibt, der „Prozessualität [...] jenseits von Abbildlichkeit, begriffslogischer Deduktion und berechenbarer generatio“ bedarf (Keller-Dall‘Asta 2001:204).
„Mit der permanenten Störung von Abbildfunktionen und einer extremen Flexibilisierung von Zuordnungen der Merksachen zu ihren Merkbildern operiert die Idea del theatro im Binnenraum einer hermetischen Ingeniumskultur, der mehr an schnellen Wahrnehmungen, Assoziationen und Versiertheit des Umgangs mit Arkanwissen denn an der Pragmatik eines Speichers gelegen ist. Speicherstolz wäre nur auf jenen topischen Gestus anzuwenden, der sich auf die Versicherung einer vollständigen Aufzeichnung des gesamten Schöpfungsplans bezieht“ (Keller-Dall‘Asta 2001:249).
Hier nun kommt die essentielle Bedeutung der Theaterform wieder ins Blick- feld. Camillo hat bei seiner Idea del theatro selbstverständlich das antike Amphitheater vor Augen, dessen Rekonstruktion durch Sebastian Serlio ihm, wie gesagt, vertraut war – Serlio hat übrigens Camillo, ein nicht zu unterschätzendes biographisches Detail, zu seinem Alleinerben gemacht (Keller-Dall‘Asta 2001:213). Rein optisch gesehen, kehrt Camillo aber, indem
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er die Aufmerksamkeit des Zuschauers von der Bühne auf die Ränge des Theaters lenkt, die perspektivische Konstruktion des Blicks, wie sie in der bildenden Kunst der Renaissance entwickelt wurde, schlichtweg um, als Blick nicht mehr auf einen fernen Perspektivpunkt, sondern gerade umgekehrt als Entfaltung der Perspektive aus diesem heraus – eine dem physischen Auge so nicht gegebene Möglichkeit, wohl aber dem Projektor, der ein Bild vergrößert an die Wand wirft. Das ist ein nicht unwichtiger Vergleich, zeigt er doch die Befreiung des Blicks aus der Gefangenschaft des perspektivischen Koordinatensystems, die noch Andrea Palladios am römischen Theater orientiertes Teatro Olimpico in Vicenza kennzeichnet. Am besten hat diese Gefangenschaft übrigens in einer Kleinen Fabel Franz Kafka beschrieben (Kafka
1961:326):
„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glück- lich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“
Doch anders als bei Franz Kafka wartet auf die Maus, wenn sie sich umdreht, nicht die Katze – „‘Du mußt nur die Laufrichtung ändern‘, sagte die Katze und fraß sie“ –, sondern mit der Änderung der Blickrichtung eine neue Frei- heit des Blicks in die Ferne, die sich eigentlich erst jenseits des Perspektiv- punktes der Renaissance entfalten kann (Perrig 1986:27). Auch der Besucher von Camillos Gedächtnistheater kann mit seinem Blick das vor ihm liegende Bild – die Theaterränge – ganz nach eigenen Gutdünken betrachten und durchstreifen. Dies kann, wie gesagt, sukzessiv erfolgen, so wie der elektro- nische Strahl das Zeilenbild auf dem Fernsehschirm aufbaut, es kann aber auch – und das gilt für Camillos Idea del theatro – selektiv geschehen, systematisch gelenkt oder beliebig schweifend.
Die Blickumkehrung im Giulio Camillos Wissenstheater lässt sich, wenn man ihre heuristische Absicht in den Blick nimmt, als ein Vorgang von großer geistesgeschichtlicher Bedeutung verstehen. Man könnte sie mit Niklas Luhmann sozialhistorisch deuten, als Befreiung des Individuums aus der sozialen Inklusion der mittelalterlichen, autoritativ organisierten Gesellschaft in Richtung auf eine Emanzipation des Individuums, das sich nicht mehr mit
einem anonymen Platz auf den Rängen der Weltgeschichte begnügt, sondern
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von seinem Perspektivpunkt aus souverän und selbst bestimmt auf die ihn umgebende Gesellschaft blickt (Luhmann 1989:159).4 Oder aber – doch hier betrete ich vollends den Boden der Spekulation – als die Emanzipation eines geisteswissenschaftlichen Blicks vom dominierenden naturwissenschaftlichen Systemdenken, im Bewußtsein der Komplexität einer Welt, die sich nicht auf die membra disiecta reduzieren läßt, die der Medizinprofessor auf dem Seziertisch des teatro anatomico hinterlässt: Homöopathie statt Chirurgie! Die spekulative Befreiung des wissenschaftlichen Blicks aus der Unterwerfung unter die Autorität des Lehrbeispiels, wie sie z.B. die akademischen Hörsäle seit der Renaissance und bis heute voraussetzen, und seine Öffnung für eine polymorphe Wirklichkeit ist jedenfalls ein Vorgang von großer Symbolkraft: An die Stelle des toten oder durch quantifizierende Forschungsmethoden stillgestellten Objekts als Bezugspunkt tritt das lebendige Individuum des Forschers, der entscheidet, in welchen Zusammenhängen er einen ganzen Problembereich sehen will. Camillo entwirft eine Methode, die sich nicht darauf reduzieren läßt, das Bild der Welt aus unzähligen Einzelanalysen zusammenzusetzen wie ein Puzzle, sondern die auf eine Art Logik vertraut, deren Erkenntnisse das Produkt assoziativer Vernetzung sind.
4.
Zugleich aber stoßen wir hier, wie schon angedeutet, auch an die Grenzen von Camillos Idea del theatro. Denn bei aller Flexibilität in der assoziativen Kombi- natorik geht der einsame Betrachter auf der Bühne von Giulio Camillo Wis- senstheaters doch davon aus, daß der Platz des Wissens auf den Rängen einer geheimen Ordnung folgt, geordnet nach einem allegorisch-mythologischen Zeichensystem, hinter dem sich die göttliche, nur Eingeweihten zugängliche Weltordnung verbirgt. Und diese Weltordnung kann nur von einer höheren Warte aus in den Blick genommen werden, nicht vom Menschen aus. Camillo stellt diese epistemologische Voraussetzung sehr schön in einem Vergleich
4 Anders präsentiert sich die Situation, wenn die Götter (bzw. bei Calderón Gott) als Zu- schauer von den Rängen des Theaters auf den Menschen als Schauspieler blicken. Die Eman- zipation bestünde hier, wie der spanische Humanist Juan Luis Vives imaginiert, in der Auf- nahme unter die Götter, ein Aufstieg allerdings, den Vives nur aus christlicher Sicht verant- worten kann (vgl. Neumeister 1992).
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dar, dem Vergleich des wißbegierigen Menschen mit einem, der den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht:
„Se noi fossiamo in un gran bosco et havessimo desiderio di ben vederlo tutto, in quello stando al desiderio nostro non potremmo sodisfare, percioché la vista intorno volgendo, da noi non se ne potrebbe veder se non una picciola parte, impedendoci le piante circonvicine il veder delle lontane; ma se vicino a quello vi fosse una erta, la qual ci conducesse sopra un alto colle, del bosco uscendo, dall‘erta cominceremmo a veder in gran parte la forma di quello; poi, sopra il colle ascesi, tutto intiero il potremmo raffigurare. Il bosco è questo nostro mondo inferiore, la erta sono i cieli, et il colle il sopraceleste mondo. Et a voler bene intender queste cose inferiori, è necessario di ascendere alle superiori, et di alto in giù guardando, di queste potremo haver più certa cognitione“ (Camillo 1991:54f.).
(Wenn wir in einem großen Wald wären und vorhätten, alles zu se- hen, so könnten wir uns unseren Wunsch in dieser Position nicht er- füllen, denn beim Blick umher könnte man nur einen kleinen Teil se- hen, da die uns umgebenden Pflanzen den Blick in die Ferne behin- dern würden. Wenn aber eine Anhöhe in der Nähe wäre, die uns auf einen Hügel führen würde, der aus dem Wald herausragt, könnten wir von der Anhöhe aus beginnen, dessen Gestalt größtenteils wahr- zunehmen. Dann, auf dem Hügel angekommen, könnten wir uns das Ganze vorstellen. Der Wald ist diese unsere niedere Welt, der Abhang sind die Himmel, und der Hügel ist die überirdische Welt. Und um die niederen Dinge richtig zu verstehen, ist es notwendig, zu den höheren aufzusteigen, und beim Blick von oben herab könn- ten wir eine bessere Erkenntnis haben.)
Es hat also keinen Zweck, sozusagen von unten her künstliche Türme zu er- richten, wie den Turmbau zu Babel oder das World Trade Center, von denen aus man die Welt überblicken kann. Das zu versuchen wäre Hybris und zum Scheitern verurteilt. Der Weg zur Erkenntnis der Weltordnung kann nur ein geistiger sein, also von oben, vom göttlichen Prinzip aus auf die Welt zu schauen.
Ein zweiter Punkt kommt hinzu: das Sprachproblem:
„Poi appartenendo le cose divine al sopraceleste mondo, et essendo quello separato da noi dalla massa di tutti i cieli, et non potendo la lingua nostra giunger alla espression di quello se non (dirò così) per cenni et per similitudini, a fine che per lo mezo delle cose visibili sagliamo alle invisibili, non ne è lecito, anchor che Dio ci desse
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qualche gratia di ascendere al terzo cielo, et di vedere i suoi secreti, quelli (dico) non ci è lecito di revelare, percioché quelli revelando, doppio error si viene a commettere, et cioè di scoprirgli a persone non degne, et di trattargli con questa nostra bassa lingua, essendo quello il soggetto delle lingue de gli angeli“ (Camillo 1991:49f.).
(Und da die göttlichen Dinge zur überirdischen Welt gehören und diese durch die Masse aller Himmel von uns getrennt ist und unsere Sprache nicht zur Bezeichnung dieser Welt vordringen kann, außer sozusagen durch Zeichen und Ähnlichkeiten, so daß wir über sicht- bare Dinge zu den unsichtbaren aufsteigen, ist es nicht erlaubt, selbst wenn Gott uns die Gnade eines Aufstiegs zum dritten Himmel und den Anblick seiner Geheimnisse gewährte. Diese aber, so sage ich, dürfen nicht enthüllt werden, denn wer sie enthüllt, begeht einen doppelten Irrtum, nämlich sie Unwürdigen zu enthüllen und sie mit unserer niederen Sprache zu behandeln, da dies doch der Ge- genstand der Sprache der Engel ist.)
Es wäre also verfehlt, Camillo zur Leitfigur einer neuen Wissenskultur zu ma- chen. Camillos Theater ist vielmehr der seine Zeit faszinierende Versuch, mit den Mitteln einer kabbalistisch-esoterischen Wissenschaft, wie sie den Philoso- phen der Renaissance durchaus noch verantwortbar erschien, diese in ihrer Struktur unsichtbare Ordnung für wenige Eingeweihte sichtbar zu machen. Ein Weltbild wie dieses kann schwerlich wiederbelebt werden, es sei denn als Warnung, die Komplexität der Welt mit jener logisch-mathematischen Exakt- heit erfassen zu wollen, von deren heuristische Notwendigkeit uns heute naturwissenschaftliche Modelle oder technische Konstruktionen und zuweilen auch geisteswissenschaftliche Interpretationsmethoden überzeugen möchten. Der Versuch aber, die Welt des Geistes in ihrer Gesamtheit in eine Theater- arena zu bannen, muß als gescheitert angesehen werden. Alberto Savinio, der Bruder von Giorgio di Chirico, dem wichtigsten Vertreter der sogenannten
„pittura metafisica“, hat in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts auch an einer Enzyklopädie gearbeitet, allerdings an einer ganz subjektiven Nuova Enciclopedia, aus Unzufriedenheit mit den Enzyklopädien des 20. Jahrhundert und angeblich nur für den eigenen Gebrauch.5 In ihr heißt es unter dem Lemma „Enciclopedia“:
5 Eine ähnliche, ‘subjektiv’ motivierte Enzyklopädie hat Andreas Urs Sommer zusammengestellt (Sommer 2002).
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„Enciclopedia significa „saper tutto“, ossia scienza ‚circolare‘, scienza ‚conchiusa‘. Enciclopedia significa scienza composta di tutte le cognizioni e di cognizioni omogenee – ‚spiritualmente‘ omogenee. È in questo senso che l‘Enciclopedia è un‘arma, un‘arma polemica. Si capisce così l‘enciclopedismo dei rinascimentisti, si capisce l‘enciclopedismo degli enciclopedisti francesi: non si capisce la ragione di una enciclopedia compilata oggi, meno che come guida de notizie pratiche, ossia che tradisce la propria natura e manca al proprio scopo. Oggi non c‘è possibilità di enciclopedia. Oggi non c‘è posssibilità di saper tutto. Oggi non c‘è possibilita di una scienza circolare, di una scienza conchiusa. Oggi non c‘è omogeneità di cognizioni. Oggi non c‘è affinità spirituale tra le cognizioni“ (Savinio
1977:132f.).
(Enzyklopädie bedeutet „Alles wissen“, also ‚Rundum‘-Wissen- schaft, ‚abgeschlossene‘ Wissenschaft. Enzyklopädie bedeutet eine aus allen Kenntnissen und aus homogenen – ‚geistig‘ homogenen – Kenntnissen zusammengesetzte Wissenschaft. Eben in diesem Sinne ist die Enzyklopädie eine Waffe, eine polemische Waffe. Man ver- steht so den Enzyklopädismus der Renaissance, den Enzyklopä- dismus der französischen Enzyklopädisten. Unverständlich ist der Sinn einer heute verfaßten Enzyklopädie, außer als Sammlung praktischer Mitteilungen, denn sie verrät ihre eigene Natur und verfehlt ihr eigenes Ziel. Heute ist eine Enzyklopädie nicht möglich. Heute ist es nicht möglich, alles zu wissen. Eine abgeschlosssene, eine umfassende Wissenschaft ist heute nicht möglich. Heute gibt es keine Homogenität der Kenntnisse, keine geistige Verwandtschaft zwischen den Kenntnissen.)6
Die extremste Form der Homogenität der Ideen hatte im 13. Jahrhundert mit der abstrakten Kombinatorik von Zahlen und Buchstabenreihen der Lullismus postuliert. Auch die Enzyklopädien der Renaissance und des Barock sind mit ihren endlosen Listen und Aufzählungen noch auf der Suche nach einem homogenen Ordnungssystem. Dann jedoch und spätestens bei Leibniz bricht dieses System der Homogenität unter dem Gewicht der Fakten und der Inkompatibilität der Ordnungskategorien zusammen: Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften gehen künftig getrennte Wege. Oder, um daßelbe noch einmal im Bild zu sagen: Die Städte des 21. Jahrhunderts sind gegen den perspektivischen Anschein nicht mehr angeordnet wie das irdische Jerusalem
6 Vgl. das der Wissensexplosion seit dem 16. Jahrhundert gewidmete Heft „Early Modern
Information Overload“ des Journal for the History of Ideas (64, 2003, Heft 1).
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oder die Sonnenstadt Campanellas. Wer sich heute aufmacht, das große Welt- theater des Lebens, El gran teatro del mundo, das Magnum theatrum vitae huma- nae, von der Höhe eines einzigen Prinzips aus zu erfassen und sich über es er- hebt, verkennt das Problem der totalen Welterfassung. Alberto Savinio hat dies schon 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg, gesehen:
„Rinunciamo dunque a un ritorno alla omogeneità delle idee, ossia a un tipo passato di civiltà, e adoperiamoci a far convivere nella maniera meno cruenta le idee più disparate, ivi comprese le idee più disperate“ (Savinio 1977:133).
(Verzichten wir also auf eine Rückkehr zur Homogenität der Ideen, das heißt, zu einem vergangenen Zivilisationstyp, bemühen wir uns, die disparatesten Ideen, einbegriffen die desparatesten, auf weniger blutige Weise miteinander leben zu lassen.)
Die einzige Form aber, den Kampf der Ideen, so wie dies Alberto Savinio hier fordert, unblutig auszutragen und doch zu sichtbaren Ergebnissen zu kom- men, ist seit Platon der Dialog. Zur Gattung Dialog als Konfrontation gegen- sätzlicher Ansichten gehört letztlich auch das Theater, das Theater als dialogi- sche Handlung. Hans Georg Gadamer, der große Anwalt des Gesprächs, hat in seinem klassischen Werk Wahrheit und Methode über das Theater und seinen Ursprung im Spiel nachgedacht. Er sieht im Übergang vom Spiel der Kinder zum Schauspiel auf der Bühne vor versammeltem Publikum eine Verwand- lung von ganz grundsätzlicher Potentialität:
„Es ist eine totale Wendung, die dem Spiel als Spiel geschieht, wenn es Schauspiel wird. Sie bringt den Zuschauer an die Stelle des Spie- lers. Er ist es – und nicht der Spieler –, für den und in dem das Spiel spielt“ (Gadamer 1960:105).
Gadamer meint hier natürlich nicht die Umsetzung des Zuschauers auf die Bühne, mit der Giulio Camillo experimentiert. Doch was er mit der mentalen Einbeziehung des Zuschauers in die Bühnenhandlung und der Identifizierung mit ihr beschreibt, hat dieselbe Struktur wie Camillos Idea del theatro. Und auch bei ihm geht es um die Suche nach Erkenntnis. Gadamer nennt diese Metamorphose der Theaterhandlung im Kopf des Zuschauers „Verwandlung ins Gebilde“:
„Die Verwandlung ist Verwandlung ins Wahre. Sie ist nicht Verzau- berung im Sinne der Verhexung, die auf das erlösende, rückverwan- delnde Wort wartet, sondern sie selbst ist die Erlösung und Rück- verwandlung ins wahre Sein. In der Darstellung des Spieles kommt
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heraus, was ist. In ihr wird hervorgeholt und ans Licht gebracht, was sich sonst ständig verhüllt und entzieht“ (Gadamer 1960:107).
Das Theater ist der Versuch, in der dramatischen Darstellung dessen, was ist, zur Wahrheit vorzudringen. Noch einmal Gadamer:
„Nachahmung und Darstellung sind nicht abbildende Wiederholung allein, sondern Erkenntnis des Wesens. Weil sie nicht bloß Wiederholung, sondern ‘Hervorholung’ sind, ist in ihnen zugleich der Zuschauer mitgemeint. Sie enthalten in sich den Wesensbezug auf jeden, für den die Darstellung ist. Ja, man kann noch mehr sagen: die Darstellung des Wesens ist so wenig bloße Nachahmung, daß sie notwendig zeigend ist. Wer nachmacht, muß weglassen und hervorheben. Weil er zeigt, muß er, ob er will oder nicht, übertreiben“ (Gadamer 1960:109).
Übertreiben hat etwas mit Didaktik zu tun, also mit Wissensvermittlung. Bei der Wissensvermittlung kommt es aber ganz entscheidend auf das richtige Verhältnis von Wissen und dessen Vermittlung an, ein Verhältnis, dessen Ausgewogenheit die moderne Didaktik immer wieder und immer zum Nach- teil des Wissens vernachlässigt. Die Theatralisierung des Wissens in den hier kommentierten Beispielen dagegen legt bei aller Inszenierung den Akzent ein- deutig auf das gespeicherte Wissen. Hier geht es also um Didaktik im Dienste der Zugänglichmachung von Wissen. Oder, so Gadamer an derselben Stelle, um ein Wiedererkennen, „das den Charakter echter Wesenserkenntnis hat“ (Gadamer 1960:110).
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